Elf

Die zweite Ansammlung von Ruinen entdeckten sie in einem wahren Feuerwerk aus Markerlichtern.

»Oh, hier waren aber viele Marker«, murmelte Kathe-rine, die ganz zu vergessen schien, dass sie auf Jonas wütend war und nicht mehr mit ihm redete. Sie deutete auf Markerranken, die von einer Lichtung gezerrt worden waren, auf Markerfeuerholz, das sauber aufgeschichtet neben einer halb eingestürzten Hütte lag, auf aufrecht stehende Markerbäume, die in der ursprünglichen Zeit wohl gefällt worden waren.

»Oder die beiden Markerjungen sind einfach häufiger hier gewesen«, sagte Jonas, der im Kopf inzwischen eine Art Markerformel ausgetüftelt hatte. Die Unterlassung einer Handlung - wenn beispielsweise ein Junge eine Stechmücke nicht erschlug - konnte zu Hunderten oder gar Tausenden neuer Marker führen. Stechmücken pflanzten sich ungeheuer schnell fort. Daher mussten die vielen Markerlichter, die Jonas gesehen hatte, nicht zwangsläufig bedeuten, dass die Zeit komplett aus dem Ruder gelaufen war oder dass sie sehr weit von dem Zeitabschnitt entfernt waren, in dem sie sich eigentlich befinden sollten.

Oder doch?

Zu Jonas' Überraschung maulte Katherine nicht: Warum musst du immer alles besser wissen? Sie nickte nur und sagte: »Du hast recht. Daran habe ich nicht gedacht.«

Mehr als das würde er als Entschuldigung für die fiesen Kommentare über Jungs in der Pubertät wohl nicht zu hören bekommen, vermutete er.

»Glaubt ihr, das hier ist ein Indianerdorf?«, fragte Andrea und ging auf die Lichtung hinaus.

»Ich glaube, es war mal eines«, sagte Katherine und trat neben sie.

Jonas spielte mit dem Gedanken, sie zu ermahnen vorsichtig zu sein und sich zu vergewissern, dass keine echten Menschen in der Nähe lauerten, ehe sie weitergingen. Doch was sollte das bringen? Ob mit oder ohne Markerleuchten, dieses Dorf war offensichtlich schon vor langer Zeit verlassen worden. Auch wenn man zugeben musste, dass es in wesentlich besserem Zustand war als das Dorf der Kolonisten. Etwa ein Dutzend Hütten aus gebogenen Ästen und Zweigen standen hier im Kreis um einen offenen Platz - möglicherweise eine Art Dorfplatz. Doch viele der Äste waren nach unten durchgebogen und einige Hütten lagen mehr, als dass sie standen.

»Glaubt ihr, es ist von Zeitreisenden zerstört worden?«, fragte Andrea.

»Nein, dann würden wir eine Markerversion des Dorfes in gutem Zustand sehen«, sagte Jonas. »Und jede Menge glückliche Dorfbewohner.«

Katherine drückte mit dem Finger gegen eine der Hütten und das ganze Gebilde begann gefährlich zu schwanken. Eine regungslose Markerversion der Hütte leuchtete auf und verschwand wieder, als die echte Hütte zur Ruhe kam und mit ihr verschmolz. Katherine trat einen Schritt zurück.

»Was ist dann passiert?«, fragte sie. »Wo sind sie alle hin?«

»Keine Ahnung«, sagte Jonas, der bemüht war, sich von der Leere und Trostlosigkeit nicht allzu sehr einschüchtern zu lassen. Vielleicht gab es eine ganz einfache, ja sogar schöne Erklärung dafür. Vielleicht hatten die Menschen das Dorf nur verlassen, um anderswo ein neueres, schöneres aufzubauen. Was hatte Mrs Rorshas ihnen im fünften Schuljahr in Gemeinschaftskunde erzählt? War es für Indianer nicht normal gewesen, umherzuziehen und je nach Jahreszeit oder dem Aufenthaltsort der Tiere die Dörfer zu wechseln?

Jonas war sich nicht sicher genug, um es den Mädchen gegenüber zu erwähnen. Mrs Rorshas hatte nicht viel über die Indianer erzählt. Bei ihr war es vor allem um die Entdecker gegangen, um Jamestown, die Landung der Pilgerväter in Plymouth und die Amerikanische Revolution ... alles musste bis Halloween durchgehechelt und abgehakt sein.

Jonas konnte sich nicht erinnern, dass es in dieser Geschichte an irgendeiner Stelle auch darum gegangen wäre, dass Indianer schöne, neue Dörfer bekamen. Oder ein besseres Leben.

»Seht mal«, sagte Andrea leise. »Man sieht noch, dass sie da drüben ein Maisfeld hatten.« Sie deutete auf ein freigelegtes rechteckiges Stück Land gleich hinter der letzten verfallenen Hütte. »Wir werden etwas zu essen brauchen.«

Sie fügte nicht hinzu: Wenn wir hier länger festsitzen. Aber Jonas konnte den beiden ansehen, dass sie alle das Gleiche dachten.

Er ging hin und trat gegen einen umgefallenen, vertrockneten Stängel. Dare schnüffelte neben ihm herum und schob einige leere Hüllblätter zur Seite. Das hier wirkte eher wie der Geist eines Maisfeldes. Jonas vermochte sich nicht vorzustellen, wann es das letzte Mal bestellt worden sein musste. Vor Jahren? Jahrzehnten? Was immer hier an Essbarem gewachsen war, hatten Vögel, Mäuse oder auch Menschen vor langer, langer Zeit davongetragen.

Jonas' Magen rumorte, doch das lag weniger am Hunger als an seiner Furcht und Besorgnis. Im Moment jedenfalls.

»Vielleicht haben die Markerjungen etwas dabei, das wir essen können, wenn wir sie einholen«, sagte er zuversichtlicher, als er sich fühlte. Es war nicht sehr wahrscheinlich, dass die Marker etwas anderes als Markeressen bei sich haben würden.

Für alle Fälle sah er in einigen der besser erhaltenen Hütten nach. In ihrem Innern war es so duster, dass die Markerjungen sich deutlich abzeichnen würden, falls sie dort waren.

Doch die geschlossenen Räume machten Jonas ner-vös. Es gefiel ihm nicht, inmitten dieser Trostlosigkeit ins Dunkel zu spähen.

Die erste Hütte war leer. Die zweite ebenso. Und auch die dritte.

In der vierten Hütte stürzte etwas auf ihn zu.

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