Acht

Katherine reagierte als Erste.

»Was redest du da?«, fragte sie und sah verwundert von Andrea zu Jonas.

»>Wegen Jonas habe ich den Definator verloren<«, äffte Jonas mit gezierter, weinerlicher Stimme nach und klang dabei kein bisschen wie Andrea. »>Es ist alles seine Schuld.<« Gut, ganz so hatte sie es nicht gesagt, aber Jonas war sauer. »Sie hat gelogen!«

»Jonas, du hast sie angerempelt«, sagte Katherine. »Es war ein Versehen. Du wolltest doch nur helfen. Niemand glaubt, dass du es mit Absicht getan hast.«

Es war seltsam zu erleben, wie Katherine den Friedensengel spielte, die Ruhige und Vernünftige. Irgendwie brachte es Jonas noch mehr in Rage.

»Aber ich habe nichts falsch gemacht, auch nicht aus Versehen. Es ist alles ihre Schuld«, sagte er und zeigte anklagend auf Andrea. »Sie hat den Definator herausgenommen und weggeworfen. Mit Absicht!«

Andrea wurde kreidebleich und schüttelte wild den Kopf.

»Nein«, heulte sie auf. »Das hab ich nicht!«

»Für wen arbeitest du?«, fragte Jonas. »Gary? Hodge?«

Das waren HKs Feinde, die Andrea, Jonas und all die anderen verschollenen Kinder aus der Geschichte entführt hatten. Diejenigen, die versucht hatten, Profit versprechende berühmte Kinder an Adoptiveltern in der Zukunft zu verschachern. Mit Jonas' Hilfe hatte HK die beiden Entführer ins Zeitgefängnis gebracht. War das Zeitgefängnis ein Ort, von dem man entkommen konnte?

»Ich arbeite für niemanden!«, rief Andrea. »Ich habe nur ...« Ihre restlichen Worte konnte Jonas nicht mehr verstehen, weil sie in Schluchzen untergingen.

»Jonas!«, schimpfte Katherine und boxte ihm gegen die Schulter. »Ich hoffe, du hast einen guten Grund dafür, sie derart zu beschuldigen und zum Weinen zu bringen!«

Einen Moment lang klang Katherine wie ihre Mutter und Jonas wurde ein bisschen weh ums Herz. Es war absolut möglich, dass er und Katherine ihre Eltern niemals wiedersehen würden - wegen Andrea. Gleichzeitig beschämte ihn der mütterliche Ton seiner Schwester. Er war normalerweise niemand, der andere zum Weinen brachte. Und er hatte Andrea, die so zerbrechlich und traurig ausgesehen hatte, so gerne helfen wollen - wofür er sich jetzt, da er wusste, dass sie von ihr hereingelegt worden waren, noch dümmer vorkam.

Wie konnte er so viele verschiedene Dinge gleichzeitig empfinden?

Er stieß einen tiefen Seufzer aus.

»Sieh mal«, sagte er zu Katherine und deutete auf die kleine Tasche an Dares Halsband. »Sie sitzt hundertpro-zentig fest. Es gab überhaupt keinen Grund für Andrea, den Definator herauszuholen. Sie muss von Anfang an geplant haben ihn loszuwerden. Deshalb hat sie sich so komisch benommen, seit wir hier angekommen sind.« Er dachte an ihr lautloses Weinen, daran, wie sie gezögert hatte HK die Hand zu schütteln, und an ihr Beharren, sich in die Vergangenheit zurückschicken zu lassen, ohne zuerst in Kenntnis gesetzt zu werden. »Besser gesagt, seit wir ihr wiederbegegnet sind.«

Katherine bückte sich, um die Tasche mit eigenen Augen zu betrachten. Sie zog in alle Richtungen und zerrte ebenso fest daran wie Jonas. Dare winselte leise -vermutlich war das Gezerre für ihn nicht sehr angenehm - und Katherine ließ los.

»Also, Andrea?«, sagte sie misstrauisch.

Diese tat einen tiefen Atemzug, der drohte, sich wieder in ein Schluchzen zu verwandeln. Doch dann verzog sie das Gesicht und bemühte sich offensichtlich die Tränen zurückzuhalten.

»Ich wollte den Definator nicht verlieren«, sagte sie mit leiser Stimme. »Ehrlich. Das war ein Fehler. Aber .«

»Aber was?«, fragte Jonas. Er gab sich Mühe, kalt, hart und selbstgerecht zu klingen, wie die Staatsanwälte im Fernsehen. Stattdessen waren ihm auch seine anderen, eher verwirrten Empfindungen anzuhören.

Er klang vor allem mitfühlend.

Andrea schniefte. Sie lehnte sich an den umgefallenen Zaun, zog die Beine an die Brust und schlang die Arme darum.

»Der Mann ist gestern Abend zu mir nach Hause gekommen«, berichtete sie. »Also am Abend bevor wir aufgebrochen sind. Ich weiß nicht, wie er heißt oder für wen er arbeitet. Vermutlich hätte er mir auch nicht die Wahrheit gesagt, wenn ich ihn danach gefragt hätte. Ich wusste, dass er aus der Zukunft kommt. Es sah aus, als würde er einfach aus der Wand heraustreten. Und er wusste ... zuviel. Über mich.«

»Ja und? Hat er dich erpresst?«, fragte Katherine. »Was hast du angestellt? Jemanden umgebracht?«

Jonas war klar, dass Katherine nur einen Witz hatte machen wollen, um die Stimmung aufzuhellen. Doch wie es schien, hatte sie genau das Falsche gesagt. Kummer verdüsterte Andreas Gesicht und Jonas fürchtete schon, sie würde wieder die Fassung verlieren. Dann legte sich, wie zuvor, eine Art Maske über ihr Gesicht, die alle Gefühle verbarg. Nur dass es diesmal nicht ganz so plötzlich geschah oder nicht ganz so vollständig. Jonas hatte das Gefühl, immer noch Risse sehen zu können, kaputte Stellen, die sich nicht schließen wollten.

»Niemand hat mich erpresst«, sagte Andrea. »Zumindest war es keine Erpressung wie im Fernsehen, wo es immer nur um Geld geht. Er hat nicht einmal eine Gegenleistung verlangt.«

»Eine Gegenleistung für was?«, fragte Jonas. »Wovon redest du?« Er spürte, wie die Furcht von ihm Besitz ergriff. Seine Nackenhaare sträubten sich und er bekam eine Gänsehaut. Was immer Andrea ihnen gleich erzählen mochte, es würde schrecklich sein.

Sie ließ seine Frage unbeantwortet.

»Mir ist klar, dass es wahrscheinlich ziemlich dumm war, okay?«, sagte sie. »Und ich weiß auch, dass ich dem Mann nicht hätte vertrauen dürfen. Aber wenn es eine Chance gab, musste ich es doch versuchen! Versteht ihr das nicht?«

»Was versuchen?«, fragten Jonas und Katherine wie aus einem Mund.

Andrea sah zu ihnen auf und kämpfte gegen die Tränen.

»Ich musste doch versuchen meine Eltern zu retten.«

Jetzt war Jonas noch verwirrter als zuvor.

»Du meinst, Mistress Dare und - wie heißt das noch mal? - Master Dare?«, fragte er.

»Nein, meine echten Eltern. Die, die ich kannte.« Es schien Andrea wütend zu machen, dass Jonas sie nicht verstand. »In unserer Zeit. Dem einundzwanzigsten Jahrhundert.«

Jonas begriff, was das Problem war: Andrea verstand das Konzept der Zeitreisen nicht.

»Du musst dir um deine Eltern keine Gedanken machen, Andrea«, sagte er und hätte fast geschmunzelt, hielt sich aber zurück. Er wollte sie nicht dafür in Verlegenheit bringen, dass sie etwas nicht verstand. »Es geht ihnen gut. Sie warten auf uns, zu Hause im einundzwanzigsten Jahrhundert. Wir müssen nur die Geschichte verlassen - aber diesmal auf die richtige Art -, dann kannst du nach Hause zurück und sie wiedersehen. Ehrlich.«

Jonas sprach mit dem gleichen beruhigenden Tonfall, den er als Hilfsmentor bei heimwehkranken Wölflingen im Pfadfinderlager angewandt hatte. Also wirklich! Wenn Andrea die ganze Zeit über so durcheinander gewesen war, warum hatte sie dann nicht einfach nachgefragt?

Andrea schüttelte den Kopf.

»Nein, Jonas«, stellte sie klar. »Meine Eltern warten im einundzwanzigsten Jahrhundert nicht auf mich.«

»Natürlich tun sie das«, widersprach Jonas. »Und das Tolle ist, dass du nur einen Sekundenbruchteil nachdem du aufgebrochen bist, wieder zurückkommst, daher werden sie gar nicht wissen, dass du fort warst.«

»Kapierst du denn nicht?«, sagte Andrea. Sie klang jetzt nicht mehr wütend. Der Kummer in ihrer Stimme verdrängte alles andere. »Meine Eltern im einundzwanzigsten Jahrhundert sind tot.«

Загрузка...