Jonas ließ eine Handvoll Sand fallen, sodass eine dicke Staubwolke aufstieg.
»Spinnst du?«, fragte er. »Hast du dir heute Nachmittag einen Sonnenstich geholt? Was meinst du damit, dass du den Markern nicht traust? Das sind Marker! Sie sind gar nicht richtig da! Und sie wissen nicht, dass wir hier sind! Ihnen ist es egal, ob wir nach einem Gummiband suchen oder nicht. Für sie existieren wir gar nicht!«
Der Staub stieg ihm in Mund und Nase und brachte ihn zum Husten. Dabei fiel ihm ein neues Argument ein.
»So wie ich das sehe, sind die Marker vielleicht die Einzigen, denen wir überhaupt trauen können!«, sagte er. »Wir wissen, dass sie nur das tun, was sie tun sollen, weil sie, na ja, weil sie eben Marker sind! Sie müssen sich korrekt verhalten! Ich mag Andrea .«
»Du magst sie zu sehr«, fiel ihm Katherine ins Wort.
Jonas ging darüber hinweg.
»... aber ihr ist egal, was mit der Zeit passiert«, fuhr er fort. »Brendan scheint in Ordnung zu sein, aber wie können wir sicher sein, dass er und Antonio nicht für Zwei arbeiten?«
»Du hast sie am Anfang nicht gesehen«, sagte Kathe-rine. »Sie hatten nicht den blassesten Schimmer und waren total verängstigt. Sie wussten überhaupt nicht, was los war.«
»Stimmt, aber sobald sie mit ihren Markern zusammenkamen, hätten sie .« Was Jonas hatte sagen wollen, war: alles wissen müssen. Doch er sprach nicht weiter. Er dachte an Brendan, der gesagt hatte, er wisse nicht, ob sein Marker etwas Großartiges vollbracht hatte und was er über die Insel Croatoan dachte. Brendan wusste nicht einmal, in welchem Jahr sie sich befanden. Und Antonio - vielleicht war es doch nicht nur Pampigkeit gewesen, als er sich mit der Begründung »Daran denken unsere Marker im Augenblick nicht!« geweigert hatte, ihnen zu sagen, wie weit es noch bis nach Croatoan war.
»Du glaubst...«, begann er und musste noch einmal ansetzen, um es auszusprechen. »Du glaubst, die Marker haben Geheimnisse?«
Mit großen furchtsamen Augen nickte Katherine. Jetzt, wo sie nicht mehr mit den anderen zusammen waren, erkannte Jonas, wie verängstigt sie wirklich war -und wie aufgesetzt ihre tapfere Miene und ihr fröhliches Geplapper zuvor gewesen waren.
»Chip und Alex haben im fünfzehnten Jahrhundert alles gewusst, was ihre Marker auch wussten, nicht?«, überlegte er. »Von dem Moment an, als sie sich mit ihren Markern zusammentaten, wussten sie doch alles?«
»Das nehme ich an«, sagte Katherine. »Jedenfalls hat es immer so ausgesehen. Egal was wir sie gefragt haben, sie wussten auf alles die Antwort. Außer es war etwas, was ihre Marker auch nicht wussten.«
»Vielleicht haben wir sie immer nur zu Dingen befragt, über die sie selbst auch nachgedacht hatten?«, gab Jonas zu bedenken.
»Kann sein«, stimmte Katherine ihm zu. »Wir haben sie nie etwas gefragt wie: >Welche Farbe hatte das Hemd, das dein Marker am Montag vor einer Woche anhat-te?<«
»Das könnte ich auch nicht beantworten«, sagte Jonas. »Ob mit oder ohne Marker.«
»Wohl wahr«, sagte Katherine, verkniff sich aber einen spöttischen Kommentar darüber, dass er eben nur ein blöder Junge war, während sie sich an jedes einzelne Outfit erinnern konnte, das sie seit Beginn der sechsten Klasse getragen hatte.
»Glaubst du, dass die Marker für Zwei arbeiten?«, fragte Jonas.
Katherine runzelte die Stirn und überlegte.
»Ich glaube nicht, dass sie das können«, sagte sie. »Es ist, wie du sagst: Sie sind Marker. Sie können sich nicht verändern.« Katherine zögerte. »Vielleicht hätte ich nicht sagen sollen, dass ich ihnen nicht traue. Vielleicht ist das nicht der richtige Ausdruck. Wie sollen sie für all das hier verantwortlich sein? Sie sind einfach nur das, was wir sehen, und das eigentliche Problem liegt viel tiefer. Die ganze Sache ist total verfahren.«
»Das liegt an Zwei«, knurrte Jonas. »Er steckt dahinter.«
Katherine nickte.
»Er muss irgendwie dafür gesorgt haben, dass Bren-dan und Antonio nicht richtig mit ihren Markern verschmelzen können«, mutmaßte Katherine.
Jonas gab sich alle Mühe, seinen lädierten Kopf dazu zu bringen, diesen Gedanken weiterzuverfolgen. Es schien genauso unmöglich, wie ein an einem riesigen Sandstrand vergrabenes Haarband wiederzufinden. Brendan hat erzählt, Zwei hätte ihn direkt aus seinem Zimmer zu Hause aus der Zeit geholt. Er hat ihn nicht zuerst in einen Zeittunnel oder in ein Zeitloch gebracht, erinnerte sich Jonas. Konnte das das Problem sein? Er hatte keine Ahnung, warum das eine Rolle spielen sollte. Die Zeittunnel waren ihm nie als etwas Wesentliches erschienen, sondern eher als eine Annehmlichkeit. Warum sollten Brendan und Antonio nicht direkt vom einundzwanzigsten Jahrhundert ins .
Jonas pochte der Schädel und plötzlich wusste er, was er übersehen hatte.
»Ich wette, das Problem lag darin, wie Brendan und Antonio zurückgekommen sind«, sagte er gedehnt. »Dass Antonio direkt... auf mir gelandet ist.«
Es fiel ihm immer noch schwer, darüber zu reden. Es war wie der Moment, als Jonas zu Hause zum ersten Mal mit angesehen hatte, wie sich ein Zeitreisender in Luft auflöste und in eine andere Dimension überwechselte. Jonas' Verstand hatte mit aller Kraft versucht diese Erinnerung zu revidieren, sie in etwas anderes zu verwandeln, in etwas, das glaubwürdig war.
Und nun war es so, als versuche sein Verstand ihn mit aller Kraft alles vergessen zu machen. Schon jetzt erschien ihm die Erinnerung vage und verschwommen, wie etwas aus einem Traum.
O nein, dachte Jonas. Du entwischst mir nicht.
»Du weißt ja, dass Antonios Ankunft . sich irgendwie falsch angefühlt hat«, sagte er. »Ich wette, das hat Zwei mit Absicht gemacht.«
Katherine nickte, immer noch todernst.
»Du hast direkt vor mir gesessen«, sagte sie. »Einen Moment lang hat es so ausgesehen, als wären da drei Leute an derselben Stelle: du, Antonio und der Marker.«
Wieder wurde Jonas von Schauern überlaufen.
»So hat es sich für mich auch angefühlt«, sagte er. Er konnte sich diesem Gedanken nur auf Umwegen nähern, als müsste er sich an die Erinnerung heranschleichen, um sie einzufangen.
Katherine hatte in dieser Hinsicht offensichtlich weniger Probleme.
»Und danach seid ihr beide, du und der Marker, für eine Millisekunde verschwunden«, sagte sie in leisem, besorgtem Ton. »Vielleicht habe ich geblinzelt. Vielleicht habe ich auch nur nicht mitbekommen, wie du aus dem Kanu gefallen bist. Aber wohin ist der Marker verschwunden? Vorher war es so, dass wir jedes Mal wenn wir jemanden mit Marker gesehen haben - wie Chip und Alex im fünfzehnten Jahrhundert -, vor allem den Marker sehen konnten, und zwar deutlicher als Chip oder Alex. Aber bei Antonio und seinem Marker war es umgekehrt, so als würde der Marker mit Antonio verschmelzen und nicht andersherum. Ich konnte Antonios T-Shirt besser erkennen als den nackten Rücken seines Markers.«
Kopfschüttelnd versuchte Jonas Katherines Worte zu begreifen.
»Aber das ist nicht so geblieben«, sagte er. »Jetzt sehen die Marker normal aus.« Er sah über die Schulter zu den anderen hinüber, die sich ums Feuer geschart hatten. Antonio und Brendan, immer noch mit ihren Markern verschmolzen, trugen eindeutig nicht mehr als einen Lendenschurz. »Jedenfalls normal für amerikanische Ureinwohner in den 1590ern.« Er räusperte sich. »Seit wann sehen Antonio und sein Marker wieder normal aus? Und glaubst du, dass mit Brendan und seinem Marker am Anfang auch etwas nicht gestimmt hat?«
»Ich weiß es nicht«, sagte Katherine. »Ich habe nach dir gesucht, und als ich mich wieder zu Antonio und seinem Marker umgedreht habe, war es so ...« Sie deutete auf die beiden Jungen, die sich völlig synchron mit ihren Markern bewegten.
»Dann haben Antonio und sein Marker sämtliche Regeln des Markertums befolgt, so wie wir sie kennen, meinst du«, versuchte Jonas es mit einem kleinen Scherz, weil er es einfach nicht aushielt, die ganze Zeit über todernst zu sein. »Nur dass Antonio - und Brendan -nicht alles wissen, was ihre Marker wissen, aber das unterscheidet sich vielleicht nicht allzu sehr vom letzten Mal. Möglicherweise ist es uns nur nicht aufgefallen. Danach hat keiner mehr irgendwelche Markergesetze gebrochen, oder?«
Katherine biss sich auf die Unterlippe.
»Ich weiß, dass du den ganzen Nachmittag geschlafen hast. aber hast du seitdem nicht aufgepasst?«, fragte sie. »Ist dir noch nicht aufgefallen, wie leicht es Antonio und Brendan fällt, mit ihren Markern zusammenzugehen und sich wieder zu trennen?«
Sprachlos sah Jonas seine Schwester an, während sein Verstand endlich in Fahrt kam.
»Deshalb hast du dauernd den Kopf geschüttelt!«, sagte er. »Du wolltest nicht, dass ich sehe .«
»Nein, ich wollte nicht, dass du vor den anderen etwas sagst«, erwiderte sie. »Andrea ist krank vor Sorge um ihren Großvater und Brendan und Antonio haben auch so schon genug Angst.«
»Sie willst du also schützen, aber mich zu beunruhigen findest du in Ordnung?«, frotzelte Jonas.
»Ja. Weil...«, Katherine holte tief Luft und einen Moment lang fürchtete Jonas, sie würde etwas Schmalziges sagen wie: Weil du mein großer Bruder bist oder Weil wir zwei in einem Boot sitzen. Oder sogar: Weil ich dir am meisten vertraue. Jonas war sich nicht sicher, ob er das ertragen würde. Stattdessen runzelte sie die Stirn und sagte: »Du weißt, wie sich Leute ihren Markern gegenüber verhalten. Du hast es schon mal gesehen. Und du weißt auch, dass mit John White und seinem Marker etwas nicht stimmt, obwohl das vielleicht nur an seiner Kopfverletzung liegt.«
»Antonio und Brendan haben aber keine Kopfverletzung«, stellte Jonas fest.
»Richtig«, sagte Katherine. »Ist es dann nicht komisch, dass sie versuchen müssen, mit ihren Markern zusammenzubleiben? Bei Chip und Alex haben wir fast rohe Gewalt anwenden müssen, um sie von ihnen fernzuhalten.«
»Stimmt«, pflichtete Jonas ihr bei. Fast hätte er hinzugefügt: Oder wahre Liebe. Doch das war nicht der richtige Augenblick, Katherine damit aufzuziehen.
Katherine schlug mit der Handfläche auf den Sand. Sie hatten beide aufgegeben, so zu tun, als suchten sie nach einem Haarband.
»Ich hasse das«, sagte sie. »Wir wissen, dass Zwei schon wieder etwas verkehrt gemacht hat und dass alles komplett verfahren ist, aber irgendwie sitzen wir fest. Wir wissen nicht, was wir dagegen tun sollen.«
Wieder eine Falle, dachte Jonas. Oder ist es nur ein neuer Trick?
Er sah zu den anderen hinüber. Andrea rührte sich nicht von ihrem Großvater fort, Brendan schürte das Feuer und Antonio . nun, es hatte den Anschein, als würde Antonio posieren und Andrea seinen Waschbrettbauch vorführen. Er sprach auch mit ihr, wahrscheinlich sagte er gerade: Schau her, bin ich nicht ein scharfer Typ? Jonas ballte die Hände.
»Bist du sicher, dass es nichts bringt, ihm eine zu verpassen?«, fragte er.
»Hör auf damit, ja?«, sagte Katherine. Sie schubste seine Fäuste fort, die nutzlos in den Sand schlugen. »Nichts davon ist Antonios Schuld. Merkst du denn nicht, dass er wahnsinnige Angst hat?«
»Ja, klar, als er die Wölfe gehört hat«, kicherte Jonas.
»Hast du gesehen, wie er die Beine in die Hand genommen hat?«
»Nicht nur dann«, sagte Katherine. »Er hat seit seiner Ankunft entsetzliche Angst, sobald er nicht mit dem Verstand seines Markers denkt. Die Hälfte von dem, was Andrea und ich ihm im Kanu erzählt haben, hat er wahrscheinlich gar nicht mitbekommen. Deshalb sagt er ständig so gemeine Sachen und gibt sich alle Mühe, vor uns zu vertuschen, wie verängstigt er ist.«
»Ach, komm, Katherine«, spottete Jonas. »Hast du dir in der Schule zu viele Streitschlichtungsvorträge angehört? Das ist genau das, was ein Vertrauenslehrer sagen würde!«
»Das heißt noch lange nicht, dass ich damit falschliege«, erwiderte Katherine herausfordernd.
Jonas war im Begriff, einen zackigen Konter zu setzen oder ihr - zu seinem eigenen Erstaunen - grummelnd zuzustimmen, als er Andreas Schrei über den Strand gellen hörte.
»Wirklich? Bist du sicher?«, schrie sie aus Leibeskräften.
Jonas war schon auf dem Weg zu ihr, als ihm etwas klar wurde: Sie mochte zwar laut schreien, aber es hörte sich nicht entsetzt an.
Sie klang begeistert.