Vierunddreißig

Am nächsten Morgen wurde Jonas vom Duft brutzelnder Fische geweckt. Er stöhnte und wälzte sich zur Seite.

Andrea saß direkt neben ihm im Sand und blätterte durch eines von John Whites Skizzenbüchern. Sie schien darauf gewartet zu haben, dass er aufwachte, denn sie hob sofort den Kopf.

»Ich war gestern gemein zu dir«, sagte sie. »Das tut mir leid.«

»Schon in Ordnung«, sagte Jonas.

»Nein.« Andrea schüttelte den Kopf, dass ihre Haare flogen. »Ist es nicht. Ich ... hattest du schon mal das Gefühl, dass du dich mit aller Kraft für etwas, oder für jemanden, einsetzen musst, weil du ansonsten genauso gut tot sein könntest?« Sie ließ Jonas keine rechte Chance zu antworten. Und das war gut so, denn er wusste nicht, was er sagen sollte.

Den Blick auf das Skizzenbuch geheftet, redete Andrea weiter.

»Seit meine Eltern gestorben sind, verrenne ich mich immer wieder in Dinge und vergesse dabei, dass auch andere Leute Gefühle haben.«

Gab es irgendeine Möglichkeit für Jonas, ihr zu sagen:

O ja, ich habe auch Gefühle. Ich empfinde nämlich ziemlich viel für dich, ohne dass es hoffnungslos kitschig klang?

Es war unmöglich, beschloss er.

»Schon in Ordnung«, sagte er noch einmal. »Es ist nur . warum liegt dir so viel an deinem Großvater? Du kennst ihn doch nicht einmal!«

»Aber es fühlt sich so an, als ob«, erwiderte Andrea leise. »Was ich über ihn gelesen habe und was er über die Versuche geschrieben hat, zu seiner Familie zurückzukehren, so ähnlich geht es mir mit .du weißt schon.« Sie musste meinen Eltern nicht erst aussprechen. »Und wenn ich die Bilder anschaue, die er gezeichnet hat. Sie sehen so echt aus.«

Sie drehte das Skizzenbuch in Jonas' Richtung. Er setzte sich auf, damit er besser sehen konnte, welches Bild sie gerade betrachtete. Es zeigte ein weiteres Indianerdorf, aber aus einer anderen Perspektive als die vorherige Zeichnung, die Jonas gesehen hatte. Es war, als hätte John White mitten auf dem Dorfplatz gestanden und sich ringsherum alles angesehen: Hunde, die in der Sonne dösten; kleine Jungen, die die Maisfelderbewachten; Frauen, die ihren Töchtern das Haar flochten.

»Er war ein echt guter Maler«, sagte Jonas, obwohl er von Kunst eigentlich nichts verstand. »Das Bild gibt einem das Gefühl, als wäre man wirklich dort und die Leute alle noch am Leben.«

Dann wurde ihm klar, dass das durchaus möglich war.

»Ich versuche mir einzureden, dass es auf Croatoan so sein wird«, sagte Andrea. »Nur dass es dort noch eine weitere Gruppe von Leuten gibt, die aus England hierhergekommen ist...«, sie zeigte auf den leeren Teil an der Seite des Blattes, ». und sich wunderbar einfügt. Und ein Großvater, Gouverneur und Künstler, der hellwach und bereit ist, sie alle zu malen.«

»Andrea«, sagte Jonas.

»Lass mir einfach ein bisschen Hoffnung, ja?«, bat sie ihn.

Nachdem sie ihr Vollfischfrühstück weggeräumt hatten, machten sie sich auf den Weg. Es stellte sich heraus, dass Katherine und Andrea einen Rhythmus entwickelt hatten, wie sie den ganzen Tag im Kanu verbringen konnten. Was auch geschah, niemand durfte Brendan und Antonio in die Quere kommen, die beim Paddeln mit ihren Markern zusammenbleiben mussten, damit sich das echte Kanu und das Markerkanu exakt überlappten - und John White nicht von seinem Marker getrennt wurde. Hin und wieder legten Brendan und Antonio eine Paddelpause ein. Dann lösten sich die beiden Jungen so weit von ihren Markern, dass sie sich unterhalten konnten.

Jonas befand, es sei ein guter Zeitpunkt, um das Gedächtnis der beiden auf die Probe zu stellen oder zumindest ein wenig mehr herauszufinden. Er hatte viel verpasst, während er geschlafen hatte.

»Also«, sagte er, als die beiden Jungen ihre erste Pause einlegten und das Kanu in der leichten Strömung da-hintrieb. »Ich weiß, ihr habt gesagt, eure Marker verraten euch nichts über Croatoan .«

»Sie denken einfach nicht daran«, verbesserte ihn Brendan träge und streckte sich hinten im Kanu aus. »Das ist alles.«

»Ach ja, richtig«, sagte Jonas. »Aber wissen sie irgendwas darüber, was aus der Kolonie von Roanoke geworden ist? Ich meine, sie waren doch schließlich dort!«

»Antonio und ich haben in unserem Stamm ein Gerücht gehört«, sagte Brendan. »Es soll einen Jungen mit gelben Haaren geben, der zwei Stämme entfernt lebt. Er soll einer der Leute-die-wie-Geister-aussehen sein, die vor vielen Monden über das Wasser nach Roanoke gekommen sind.«

»Vor vielen Monden?«, schnaubte Antonio wütend. »Sprich nicht so vor ihnen. Sie werden uns nur auslachen.«

»Nein, das werden wir nicht«, sagte Andrea sanft.

Antonio machte ein finsteres Gesicht, sagte aber nichts weiter.

»Das heißt, ihr wart also nicht nur auf Roanoke, weil ihr darauf gewartet habt, dass Andreas Großvater auftaucht«, sagte Jonas enttäuscht.

»Nein, aber ...«, Brendan warf einen Blick auf Antonio, der sich vorn im Kanu langmachte, ». wir haben dort auf weiße Männer gewartet.«

»Wie bitte?«, sagte Jonas. Vor Überraschung stieß er gegen John Whites Bein. Der alte Mann stöhnte im Schlaf. Dare, der neben ihm lag, öffnete ein Auge, schien zu der Überzeugung zu kommen, dass Jonas keine Gefahr darstellte, und begann wieder zu schnarchen.

»Weiße Männer kamen viele Jahre lang immer in den letzten Monden des Sommers nach Roanoke - also im August, denke ich«, sagte Brendan. »Viele Male haben sie Indianer getötet und ihre Dörfer niedergebrannt. Und selbst wenn sie den hiesigen Stämmen nur einen Besuch abstatteten und taten, als kämen sie in friedlicher Absicht, hinterließen sie, äh -«

»Sag bloß nicht unsichtbare böse Geister!«, befahl ihm Antonio. »Oder unsichtbare Kugeln! Das trifft die Sache nicht!«

»Egal, wir lachen euch nicht aus. Wirklich nicht«, beteuerte Katherine.

Antonio achtete nicht auf sie.

»Wir waren als Späher auf Roanoke, kapiert?«, sprach Antonio für Brendan zu Ende. »Unser Stamm schickt jeden August welche aus. Wir haben aufgepasst, damit wir unsere Leute warnen können, wenn jemand auftaucht. Sie haben sich auf uns verlassen!«

»Aber ihr habt ihm das Leben gerettet«, sagte Jonas und berührte John White am Bein. »Warum habt ihr das gemacht, wenn ihr der Ansicht wart, dass seine Leute gefährlich sind?«

»So will es der Kodex unseres Stammes«, sagte Bren-dan. »Er war allein und in Schwierigkeiten, also haben wir ihn gerettet. So wie der Stamm uns gerettet hat.«

»Brendan war ein Sklave, als er aufgenommen wurde«, sagte Katherine mit gedämpfter Stimme.

»Dann hattest du also recht, als du vermutet hast, dass er weggelaufen ist«, sagte Jonas.

»O nein«, widersprach Brendan und zum ersten Mal klang er noch bitterer und zorniger als Antonio. »Ich war bloß ein Baby auf einem Schiff, das Sklaven transportiert hat. Sir Francis Drake - erinnert ihr euch noch an ihn aus dem Gemeinschaftskundeunterricht? Er hat auf Roanoke vorbeigeschaut, als hier lediglich ein paar englische Soldaten stationiert waren. Bevor sie die Kolonisten geschickt haben. Die Soldaten waren am Verhungern -«

»Und die Indianer hatten es langsam satt, dass sie ständig ihr Essen stahlen«, warf Antonio ein.

»Also wurde Sir Francis Drake der große Held«, sagte Brendan voller Spott. »Er warf ein paar Hundert Sklaven vom Schiff, um Platz zu schaffen und die Soldaten nach England mitzunehmen.«

Jonas sah Katherine an.

»Ist mir das in der Schule auch durch die Lappen gegangen?«, fragte er.

»War nie Thema«, sagte sie kurz angebunden.

»Aber es stimmt!«, beteuerte Brendan. »Hunderte von Sklaven, geraubt aus einer spanischen Kolonie, alle daran gewöhnt, Sklaven zu sein, aber auch daran, ernährt zu werden. Und mit einem Mal setzt man sie auf einer kahlen Insel aus, auf der es nichts zu essen gibt, und ohne Boote, mit denen sie zum Festland gelangen können . Wenn unser Stamm sie nicht aufgenommen hätte, wären alle umgekommen.«

»Dein Stamm hat Hunderte Menschen aufgenommen?«, hakte Jonas nach. Er fragte sich, warum sie nicht wenigstens das in der Schule durchgenommen hatten. Diese Menschen mussten Heilige gewesen sein.

»Nein. Viele Sklaven sind gestorben, bevor sie gefun-den wurden«, sagte Brendan. »Meine Eltern gehörten auch dazu.«

Inzwischen blickte er ebenso finster drein wie Antonio. Hört mal, ich bin mit Sir Francis Drake nicht verwandt! Ich hatte damit nichts zu tun, hätte Jonas am liebsten gesagt.

Nur dass das vielleicht doch der Fall war. Schließlich wusste er nicht, mit wem er verwandt war oder in welchem Zeitalter er ursprünglich gelebt hatte.

»Für Francis Drake waren die Sklaven gar keine Menschen«, sagte Brendan verbittert.

»Und nicht nur Sklaven wurden so behandelt«, sagte Antonio. »Haben Katherine oder Andrea dir meine Geschichte erzählt?«, fragte er Jonas.

Der schüttelte den Kopf.

»Ich war Kabinenjunge auf einem spanischen Schiff«, berichtete Antonio. »Kein schlechtes Leben für einen Waisenjungen. Es gibt schlimmere Orte, solange man den Fäusten auszuweichen weiß. Vor zwei Jahren be-schloss der Kapitän, dass er vielleicht mehr verdienen könnte, wenn er mit den Stämmen, die ein ganzes Stück oberhalb von Saint Augustine leben, Handel treiben würde. Das Problem war nur, dass dort niemand Spanisch sprach. Und niemand auf dem Schiff verstand die Sprachen der Indianer. Also lässt man einfach ein kleines Kind zurück, kommt ein oder zwei Jahre später wieder und schon hat der Kapitän einen Übersetzer.« Es schien Antonio immer schwerer zu fallen, einen unbekümmerten Tonfall beizubehalten. »Falls das Kind noch am Leben ist.«

»Du meinst, sie haben dich dort mutterseelenallein zurückgelassen?«, fragte Jonas. »An einem Ort, wo du niemanden kanntest, du nicht einmal die Sprache verstanden hast und du . wie alt warst?« Er musterte Antonio mit zusammengekniffenen Augen. Der Junge und sein Marker waren fast exakt gleich groß, also musste auch der Marker ungefähr dreizehn sein. Außerdem hatte Antonio schon gesagt, dass er vor drei Jahren nach Amerika gekommen war. Das hieß, er war ... »Gerade mal zehn?«, fragte Jonas.

»Genau. Aber he, ich hab es überlebt«, sagte Antonio, in dessen Stimme nun Stolz mitschwang. »Im nächsten Jahr kam das Schiff zurück und ich habe zugesehen, dass sie mich nicht finden. Ich weiß, wann ich es gut habe. Und hier hat man mich behandelt wie ein menschliches Wesen.«

Er griff wieder nach dem Paddel.

»Zurück an die Arbeit«, sagte er, auch wenn es keineswegs bedauernd klang. Er lehnte den Kopf zurück und verschmolz mit seinem Marker. Dann erstarrte er.

»O nein«, stöhnte er.

Hinten im Kanu stieß Brendan einen Schreckenslaut aus.

»Was ist?«, fragte Jonas.

»Also deshalb wollten unsere Marker nicht an Croatoan denken«, murmelte Antonio.

»Ihr wisst es jetzt?«, fragte Katherine begeistert.

Antonio sah alles andere als begeistert aus. Er - und sein Marker - saßen wie vom Blitz getroffen da und starrten in die Ferne.

»Die bösen Geister«, wisperte er. »Die unsichtbaren Kugeln.« »Bazillen«, stellte Brendan richtig. »Redet ihr von . Bakterien? Irgendeinem Virus?«, hakte Jonas nach und sah von einem Jungen zum anderen. Er verstand nicht, warum sie so entsetzt aussahen. »So schlimm hört sich das doch gar nicht an.« Dann streckte Antonio den Arm aus. Und Jonas sah die Totenschädel.

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