Siebzehn

»Warum hast du das gemacht?«, wollte Andrea wissen.

Es war nur ein Impuls gewesen, eine unwillkürliche Angst. Der Mann und sein Marker bewegten immer noch die Lippen, doch jetzt, wo sie getrennt waren, war kein Laut mehr zu hören. Jonas erriet, was sie sagten, allerdings nur, weil sie sich ständig wiederholten: Alle außer mir sind dahin, alle außer mir sind dahin, alle außer mir...

Jonas schauderte.

»Was ist?«, fragte Andrea herausfordernd. »Kannst du es nicht ertragen, noch eine traurige Geschichte zu hören?«

Jonas rieb sich das Gesicht.

»Nein, ich wollte nur . was ist, wenn es den Mann zu sehr verwirrt, mit seinem Marker vereint zu sein und mit seinem Verstand zu denken?«, fragte er und suchte nach einer vernünftig klingenden Erklärung. »Der Marker weiß, dass er von zwei Jungen gerettet wurde, die wie Indianer aussahen, und nicht von drei Kindern in T-Shirts, Jeans und Shorts. Und wenn er uns sieht statt der Markerjungen - weil Menschen in ihrer angestammten Zeit ja keine Marker sehen können -, dann bringt ihn das erst recht durcheinander.«

»Aber der Mann hat überhaupt nicht mitbekommen, dass wir ihn gerettet haben«, wandte Katherine ein. »Er wird einfach glauben, die Markerjungen hätten ihn gerettet und wären fortgegangen. Und dann sind wir gekommen. Wir haben im fünfzehnten Jahrhundert auch Leute gesehen, die in ihren Marker geschlüpft sind, nachdem sie andere Dinge gesehen hatten. Ich glaube nicht, dass das irgendwelche negativen Auswirkungen hatte.«

Jonas ging noch etwas anderes durch den Kopf.

»Du glaubst, wenn der Mann aufwacht, ist es für ihn kein Problem, uns in Klamotten aus dem einundzwanzigsten Jahrhundert zu sehen?«, hakte er nach. »Hier und jetzt, wo wir absolut nicht hingehören? Wo alles nur das abgekartete Spiel eines geheimnisvollen Zeitreisenden ist, der Andrea belogen hat?«

»Nein«, gab Katherine zu und erschrak. Vermutlich dachte sie daran, wie sie den Mann am Strand geschüttelt hatte, um ihn aufzuwecken: Sir? Sir? Das war ein Fehler gewesen. Sie konnten von Glück sagen, dass der Mann nicht aufgewacht war.

Behutsam nahm Katherine die Hand von seiner Schulter.

»Moment. Heißt das, du willst dich einfach . davonschleichen?«, fragte Andrea ungläubig. »Ihn hier allein zurücklassen, obwohl er verletzt ist?«

Der Mann stieß immer noch seine lautlosen Klagen aus: Alle außer mir sind dahin, alle außer mir sind dahin, alle außer mir sind dahin .

Mit der gleichen Behutsamkeit wie Katherine nahm Andrea die Hand des Mannes und hielt sie fest.

»Sch, sch, es ist vorbei«, flüsterte sie ihm zu. »Sie sind in Sicherheit.« Dann sah sie wieder zu Jonas und Ka-therine. »Habt ihr nicht gehört, was er gesagt hat? Er ist der einzige Überlebende eines schrecklichen Schiffsunglücks. Also wird niemand nach ihm suchen. Er ist genauso gestrandet wie wir. Wir können ihn nicht im Stich lassen.«

Jonas schüttelte den Kopf.

»Niemand hat gesagt, dass wir ihn im Stich lassen wollen«, sagte er. »Wir versuchen nur herauszufinden, wie wir uns um ihn kümmern können, ohne die Zeit zu ruinieren.«

Aber war das überhaupt möglich? Oder war es wieder eine Falle, in der sie wohl oder übel gezwungen sein würden, die Zeit zu gefährden?

»Hätten wir doch nur den Definator noch, um uns unsichtbar zu machen«, sagte Katherine.

Andrea seufzte.

»Tut mir wirklich leid«, sagte sie. Sie starrte sekundenlang ins Feuer, ihr Gesicht fast ebenso unergründlich wie das der Markerjungen. »Nein, wisst ihr was? Es tut mir nicht leid. Wenn ich den Code nicht verändert hätte, wäre dieser Mann jetzt tot.« Sie drückte seine Hand. »Könnt ihr euch vorstellen, wie oft ich mir im letzten Jahr gewünscht habe zurückgehen und jemanden vor dem Tod bewahren zu können?«

»Andrea«, sagte Katherine. »Das hier ändert nichts an der Sache mit deinen Eltern. Du kannst sie nicht retten.«

»Ich weiß, ich weiß, aber . es ist trotzdem ein kleiner

Sieg über den Tod«, erwiderte Andrea erregt. »Eine Möglichkeit, ihm ein Schnippchen zu schlagen und zu sagen: >Ha, hier ist jemand, den du noch nicht haben kannst! Du magst am Ende gewinnen, aber jetzt noch nicht. Nicht dieses Mal.<«

Der Mann kann immer noch sterben, dachte Jonas. Ist es wirklich ein Sieg über den Tod, wenn er auch im ursprünglichen Verlauf der Geschichte gerettet werden sollte? Oder ist es nicht eher ein Sieg über ... die Zeit?

Andrea war ein wenig rot geworden, als hätte sie mehr von sich preisgegeben als beabsichtigt. Jonas musste den Blick abwenden, weil er einfach nicht klar denken konnte, wenn er sie ansah.

»Sollen wir uns vor ihm verstecken, wenn wir uns nicht gerade um ihn kümmern müssen?«, fragte Kathe-rine. »Oder sollen wir ihn wieder mit seinem Marker zusammenschieben und ihn so belassen, weil wir damit die Zeit wieder in ihren vorgesehenen Verlauf bringen? Oder ist es besser, ihn von seinem Marker fernzuhalten, bis wir die echten Gegenstücke der Markerjungen gefunden haben? Aber wie sollen wir sie und Andreas Marker finden und was sonst noch notwendig ist, um die Zeit zu reparieren und von hier zu verschwinden?«

Sie klang völlig durcheinander.

Genau das muss Andreas Unbekannter beabsichtigt haben, als er sie dazu gebracht hat, den Definatorcode zu ändern, überlegte Jonas und starrte ins Feuer. Er wollte uns verwirren. Um uns dazu zu bringen, dass wir . was tun?

Jonas' Gedanken wirbelten durcheinander wie der

Rauch, der durch das schornsteinartige Loch in der Decke aufstieg. Vor seinen Augen verband sich der Rauch mit dem Markerrauch, bis beides nicht mehr auseinanderzuhalten war. Außerdem fiel ihm auf, dass die echten Flammen nun im gleichen Rhythmus züngelten wie das Markerfeuer.

Das ist wissenschaftlich unmöglich, dachte Jonas. Zwei Feuer, die zu unterschiedlichen Zeiten von verschiedenen Leuten angezündet wurden, können nicht identisch sein.

Aber genau das geschah, wenn die Zeit versuchte sich selbst zu heilen. Die Marker gewannen die Oberhand, wann immer sich die Chance dazu bot.

Es sei denn, ein Zeitreisender mischte sich ein.

»Der Mann, der Andrea angelogen hat«, sagte Jonas langsam. »Er steht zwar nicht hier und sagt uns, was wir zu tun haben. Aber er hat uns allen möglichen Situationen ausgesetzt, in denen wir eine Entscheidung treffen mussten. Und ich glaube, er manipuliert die Dinge so, dass wir immer die Entscheidungen treffen, die er im Sinn hat.«

»So wie er mich als Erstes dazu gebracht hat, den Definator zu verstellen«, sagte Andrea grollend.

»Genau«, sagte Jonas. »Deshalb glaube ich, dass wir aufhören müssen, das zu tun, was der Mann erwartet. Das, was wir normalerweise tun würden. Wir müssen genau das Gegenteil davon tun.«

Katherine warf ihm einen kurzen Blick zu.

»Du willst den Schiffbrüchigen also doch -«, hob sie an.

»Nein, nein«, fiel ihr Jonas hastig ins Wort, ehe Andrea wieder aus der Haut fahren konnte.

»Nichts, was so extrem ist. Ich finde wirklich nicht, dass der Mann uns sehen sollte. Aber er ist bewusstlos und hier drinnen ist es sowieso ziemlich duster, deshalb will ich mir darüber heute Abend keine Gedanken machen.«

»Dir geht es darum, ob wir den Mann wieder mit seinem Marker zusammenbringen sollen oder nicht«, sagte Katherine, die schnell geschaltet hatte.

»Genau«, sagte Jonas. »Ich hatte vorhin Gewissensbisse, als wir ihn weggezogen und auf die Art in die Zeit eingegriffen haben.«

»Und ich wollte vorschlagen, dass wir, wenn wir ihn wieder mit seinem Marker vereinen, vielleicht mehr erfahren«, sagte Andrea. »Jedenfalls über ihn. Auch wenn uns das bei meinem Zeitproblem nicht weiterhilft.«

»Das ist auch meine Meinung«, sagte Katherine. »Also würden wir normalerweise beschließen, den Mann wieder mit seinem Marker zusammenzuschieben.«

»Dann werden wir genau das nicht tun. Wir lassen sie getrennt«, entschied Jonas. Er zog den Mann noch ein Stück zur Seite und sah dann durch das Loch in der Decke in den dunklen Himmel hinauf. »Wie gefällt dir das, Mr Definatorcodefälscher? Wir locken dich aus der Deckung!«

»Aber was ist, wenn wir dadurch wirklich die Zeit ruinieren?«, fragte Andrea.

»Das werden wir nicht«, sagte Jonas und gab sich Mühe, zuversichtlich zu klingen. »Das versucht nämlich schon dein mysteriöser Unbekannter. Wir werden ihm klarmachen, dass er uns mit seinen Tricks nicht dazu bringen kann, mitzuspielen. Es ist wie beim Schachoder Strategospielen. Manchmal muss man mit umgekehrter Psychologie arbeiten.«

»Aber Jonas, du bist ein lausiger Schach- und Strate-gospieler!«, wandte Katherine ein.

»Nein, das bin ich nicht«, erwiderte Jonas. »Nicht mehr. Weißt du noch, dass ich vor ein paar Jahren ständig zu Billy Rivoli gegangen bin, um mit ihm Brettspiele zu spielen? Ich habe viel dazugelernt.«

Katherine runzelte die Stirn und zuckte dann die Achseln.

»Nicht dass ich eine bessere Idee hätte«, gab sie zu.

Auf der anderen Seite des Feuers legten sich die Markerjungen hin, um zu schlafen. Dare rollte sich zu Andreas Füßen zusammen, die herzergreifend gähnte.

»Einen Versuch wäre es wahrscheinlich wert«, meinte sie.

Überrascht, dass Katherine und Andrea keine weiteren Einwände machten, legte sich auch Jonas hin.

Wir können vor Müdigkeit nicht mehr klar denken, ging es ihm durch den Kopf. Aber es wird funktionieren. Hoffe ich jedenfalls.

In Wirklichkeit konnte er Stratego oder ähnlich geartete Spiele nicht leiden. Für seinen Geschmack erforderten sie viel zu viel Taktik und Planung und man musste die Absichten des Gegners zehn Züge im Voraus erahnen.

Wie hieß das superkomplizierte Spiel noch mal, zu dem Billy mich immer überreden wollte?, grübelte er. Das, bei dem man nicht nur einen Gegner hat, sondern bis zu fünf oder sechs, die alle gewinnen wollen?

Er war gerade im Begriff einzuschlafen, als ihm der Name des Spiels wieder einfiel: Risiko.

Stunden später wurde er in der Dunkelheit von Schreien geweckt.

»Haltet ein! Haltet ein mit dem Kampf!«

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