Vier

Jonas konnte immer noch nicht besonders gut sehen, trotzdem bemerkte er, dass Katherine mit einem Schlag alle Farbe aus dem Gesicht gewichen war.

»Er liegt. bestimmt. auf dem Boden neben.«, stotterte sie.

»Nein, er ist weg! Vollkommen weg!«, tobte Andrea. »Jonas hat ihn mir aus der Hand geschlagen, als wir durch die Zeit geflogen sind!«

»Das hab ich nicht«, wollte Jonas protestieren, doch seine Lippen und die Zunge waren noch nicht wieder in Betrieb, deshalb hörte er sich eher an wie: »Ah haiii .« Er schluckte, um es noch einmal zu probieren, während ihm hektische Bilder durch den Kopf schossen: wie er Andrea am Arm zog; wie er mit ihr zusammenprallte.

Vielleicht hatte sie seinetwegen wirklich den Definator verloren.

»Ist schon in Ordnung. HK weiß, wo wir sind«, sagte er und diesmal kamen die Worte klar und verständlich heraus. Er redete weiter. »Vergiss nicht, dass wir im fünfzehnten Jahrhundert auch eine Zeit lang ohne De-finator unterwegs waren, und es ist alles gut gegangen.«

»Weil wir wussten, was wir zu tun hatten«, sagte Katherine.

»Und was ist, wenn wir nicht mal in der richtigen Zeit und am richtigen Ort gelandet sind?«, fragte Andrea. Sie fuchtelte mit den Händen wie jemand, der kurz vor einem hysterischen Anfall steht. »Wir könnten sonst wo sein!«

»Das ist alles in der Programmierung des Definators festgelegt«, sagte Jonas und bemühte sich zuversichtlicher zu klingen, als er sich tatsächlich fühlte. Dann fiel ihm etwas ein, was ihm Gewissheit verlieh. »Katherine, erinnerst du dich noch, dass HK Alex vor uns ins fünfzehnte Jahrhundert geschickt hat? Alex hatte keinen Definator dabei. Trotzdem ist er genau an dem Ort gelandet, den HK für ihn einprogrammiert hatte. So wird es bei uns auch funktioniert haben.«

»Wirklich?«, fragte Andrea. »Bist du sicher?«

Jonas musterte sie. Der Eindruck, dass sie kurz vor einem hysterischen Anfall stand, musste ihn getäuscht haben. Sie wirkte jetzt ruhig und gelassen. Vollkommen erleichtert. Ja sogar . glücklich.

Anscheinend war mit seinen Augen und Ohren immer noch nicht alles in Ordnung. Sie konnte doch unmöglich glücklich sein.

»Ganz sicher«, sagte Jonas fest, auch um sich selbst zu überzeugen. Dann ging er auf einen anderen Punkt ein. »Außerdem wissen wir, wie HK vorgeht: Wenn er Kinder zurückschickt, versucht er sie so dicht wie möglich an den Moment heranzubringen, in dem sie ursprünglich verschwunden sind. Also ist das hier der Augenblick, in dem Virginia Dare ... äh, du, Andrea ... entführt wurdest.«

»Hmm«, sagte Andrea und sah sich um. »Das könnte stimmen. Wenigstens annähernd.« Sie klang zerstreut, als interessiere sie sich nicht länger für das, was Jonas zu sagen hatte. Oder als habe sie etwas ganz anderes im Kopf als Virginia Dare.

Jonas folgte ihrem Blick. Alles, was er sah, waren Kiefern und Fichten, die über ihnen aufragten und deren Äste sich so stark überlappten, dass sie fast die Sicht auf den Himmel versperrten. Es fiel ihm schwer, so weit in die Ferne zu schauen, deshalb konzentrierte er sich lieber wieder auf ihre kleine Schar. Er und Katherine lagen immer noch mehr oder weniger ausgestreckt auf dem Boden, fast genau dort, wo sie aufgekommen waren. Der Hund war nur ein kleines Stück zur Seite gerutscht, um sich vor Andreas Füße zu legen. Diese hingegen saß aufrecht und putzmunter da. Sie hatte sogar die Kraft gehabt, ihr Sweatshirt auszuziehen und es sich um die Hüften zu binden, sodass ihr dunkelgrünes T-Shirt mit der Aufschrift Camp Spruce Lake zu sehen war.

Jonas dagegen war immer noch in einem Zustand, in dem er froh war, überhaupt zu merken, dass es ziemlich heiß war. In irgendeiner Form darauf zu reagieren lag weit jenseits seiner Möglichkeiten.

»Merkst du, wie es sich anfühlt, Andrea?«, fragte er. »Es geht dir viel besser als Katherine und mir. Also muss das hier das Zeitalter sein, in das du gehörst. Es ist alles in Ordnung.«

»Aber wo ist dann Andreas Marker?«, fragte Kathe-rine. Auch sie war inzwischen dabei, sich mühsam aufzusetzen. Kiefernnadeln rieselten ihr aus den Haaren und sie fingerte an einer Spinnwebe herum, die ihr ins Gesicht hing. »Wenn wir am richtigen Ort und in der richtigen Zeit sind, warum können wir dann ihren Marker nicht sehen?«

Marker waren geisterhafte Erscheinungen, die zeigten, was Leute ohne die Einmischung von Zeitreisenden getan hätten. Jonas und Katherine hatten sich vor Angst fast in die Hose gemacht, als sie auf ihrer letzten Reise durch die Zeit zum ersten Mal Marker gesehen hatten. Ebenso unheimlich war es gewesen, mit anzusehen, wie ihre Freunde Chip und Alex sich mit ihren Markern vereinigten und so vollständig verschmolzen, dass sie deren Gedanken lesen konnten.

Es hatte den Anschein gehabt, als würden der echte Chip und der echte Alex - die Jungen aus dem einundzwanzigsten Jahrhundert - regelrecht verschwinden.

Bei Andrea würde es zweifellos genauso sein.

»Wir finden deinen Marker schon«, meinte Jonas, obwohl er eigentlich dachte: Müssen wir das wirklich? Virginia Dare hatte zweifellos irgendeine lebensbedrohliche Gefahr bevorgestanden, vor der Jonas und Kathe-rine Andrea würden retten müssen. Wenn sie erst einmal mit ihrem Marker vereint war, würde es sehr schwer werden, sie vor dieser Gefahr zu bewahren. Und woher sollten sie wissen, nach welcher Gefahr sie Ausschau halten sollten, jetzt, wo sie keinen Definator mehr hatten?

Jonas unterdrückte seine Angst und wandte sich an Andrea.

»Hat dir irgendjemand erklärt, was Marker sind, Andrea?«, fragte er sie.

»Oh, äh .« Es schien ihr schwerzufallen, sich von den Bäumen abzuwenden und Jonas anzusehen. »Sicher. HK hat mir alles erzählt.« Sie sprang auf. »Also, worauf warten wir noch? Suchen wir meinen . äh . Marker.«

Sie marschierte los und hielt auf ein Waldstück zu, das weniger dicht bewachsen war. Der Hund rappelte sich mühsam auf und trottete ihr hinterher.

»Warte auf uns«, sagte Jonas lahm und kämpfte sich hoch. Er war tattrig wie ein alter Mann. Katherine wurde schon vom Aufsetzen schwummrig. Andrea sprang davon und passierte den ersten Baum.

»Dann beeilt euch!«, rief sie und sah über die Schulter.

Kicherte sie etwa?

»Nein! Hör zu!«, zischte Jonas. »Du musst aufpassen! Niemand darf dich sehen oder hören! Niemand darf wissen, dass wir hier sind!«

Er erwog ihr zu erzählen, dass sie sich mithilfe des Definators unsichtbar hätten machen können, wenn sie ihn noch gehabt hätten. Sie wären unsichtbar gewesen und damit geschützt. Das war zweifellos HKs Absicht gewesen, der Grund, warum er sie nicht gezwungen hatte, altmodische Kleider zu tragen. Aber falls sie den Definator wirklich durch seine, Jonas' Schuld verloren hatten, würde er das sicher nicht anschneiden.

Andrea schaute hinter dem Baum hervor.

»Wir sind in einem Wald, in dem es nicht mal einen Pfad gibt«, sagte sie und kicherte wieder. »Wovor habt ihr Angst?«

Jonas versuchte sich an alles zu erinnern, was er über die Geschichte von Virginia Dare noch wusste. Sie war das erste englische Kind gewesen, das in Nordamerika zur Welt kam, in der. Kolonie von Roanoke. (Wow! Seine Gemeinschaftskundelehrerin wäre sicher stolz darauf, dass er das noch wusste!) Und war die gesamte Kolonie dann nicht mit Mann und Maus verschwunden? Aus welchem Grund?

Wilde Tiere?, überlegte Jonas. Kriegerische Indianerstämme? Irgendein Feind, mit dem die Engländer damals im Streit lagen - die Spanier vielleicht? Die Franzosen? Oder ein anderes Land, das mir nicht mehr einfällt?

Damit erschöpfte sich sein Wissen über Virginia Dare. Und nicht zu wissen, wovor man sich fürchten sollte, machte die ganze Sache noch schlimmer.

»Warte, Andrea!«, rief er wieder. »Los, komm, Kathe-rine!«

Seine Schwester stöhnte. Sie tat ihm so leid, dass er die Hand ausstreckte, um ihr aufzuhelfen. Allerdings war er selbst noch nicht ganz sicher auf den Beinen, sodass sekundenlang völlig offen war, ob er sie hoch- oder ihr totes Gewicht ihn nach unten ziehen würde. Dann griff Katherine hinter sich und stieß sich mit der freien Hand an einem Baumstamm ab. Der Baum schwankte so sehr, dass ein Kiefernzapfen herabfiel und Jonas auf den Kopf plumpste.

»Ich wette, der Zapfen hätte eigentlich auf der anderen Seite runterfallen sollen«, stöhnte Katherine. »Wahrscheinlich haben wir gerade den Lauf der Geschichte verändert.«

»Sie wird sich sogar noch mehr verändern, wenn Andrea von einem Bären gefressen oder von einem Indianer skalpiert wird«, knurrte Jonas mit zusammengebissenen Zähnen.

Die beiden stolperten hinter Andrea her. Sie schwankten fürchterlich, liefen gegen Äste und stießen aneinander. Jonas blieb stehen, um sein Sweatshirt auszuziehen, weil er hoffte, dass es besser klappen würde, wenn ihm weniger heiß war.

Es blieb trotzdem heiß. Die Luft um sie herum war so dick und schwer, dass Jonas fast meinte schwimmen zu müssen. Schon bald war auch sein T-Shirt klitschnass.

Nichts davon schien Andrea etwas auszumachen.

»Findest du es nicht irgendwie . merkwürdig, dass . Andrea gar keine Angst mehr hat?«, raunte er seiner Schwester zu. Es war schwierig, gleichzeitig zu gehen, zu reden und Andrea im Auge zu behalten, die inzwischen mehr oder weniger rannte.

Katherine nickte und stolperte dabei. Sie blieb kurz stehen, um reden zu können, ohne hinzufallen.

»Findest du es nicht komisch, dass ... na ja, HK weiß doch, wo wir gerade sind, oder?«, murmelte sie zurück. »Warum hat er dann noch keinen Ersatzdefinator fallen lassen?« Sie sah zu Jonas hinüber. Ihr Gesicht war angstverzerrt. »Oder glaubst du, dass wir durch den Verlust des Definators die Zeit beschädigt haben?«

»Sag so etwas nicht«, fauchte Jonas. »Denk nicht einmal daran.«

Doch der Gedanke hatte sich schon in seinem Kopf festgesetzt. Zeitreisende konnten in Beschädigte Zeit weder hinein- noch aus ihr herausgelangen. Ganz egal, wie gut sie Andrea auch helfen mochten, wenn sie Virginia Dares Zeitalter tatsächlich beschädigt hatten, bestand die Gefahr, dass sie hier tagelang festsaßen.

Oder Wochen.

Monate.

Jahre.

Für immer, dachte Jonas. Möglicherweise für den Rest unseres Lebens.

Er zwang sich, an nichts anderes zu denken, als mit Andrea Schritt zu halten.

Immer wieder verlor er sie aus den Augen und musste verzweifelt vorwärtsstürmen, um für einen kurzen Moment ihre Haare oder ihr Hemd zu entdecken, ehe sie wieder aus seinem Blickfeld verschwand. Schließlich kam er zu dem Schluss, dass es hoffnungslos war. Er und Katherine hatte keine Chance, mit ihr Schritt zu halten.

In diesem Augenblick blieb Andrea ganz unvermittelt stehen.

»Warum kann sie sich nicht wenigstens hinter einem Baum verstecken, bis sie weiß, was vor ihr liegt?«, murmelte Katherine.

Jonas sah, dass Andrea am Rand einer Lichtung stehen geblieben war. Er erwog sie anzurufen und ihr zu befehlen, sich zu verstecken, doch es schien ihm das

Risiko nicht wert zu sein. Es wäre, als riefe man einer Statue etwas zu, so erstarrt stand sie da.

Jonas schlich weiter, Katherine neben sich. Sie erreichten einen riesigen Baum, der direkt hinter Andrea stand, und in stillem Einverständnis schaute jeder von ihnen auf einer Seite hervor.

Was hat sie denn? Da draußen ist doch nichts!

Das war Jonas' erster Gedanke. Doch weil Andrea immer noch stocksteif und mit maskenhaft starrem Gesicht dastand, sah er noch einmal hin.

Auf der Lichtung befanden sich ... Ruinen.

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