Achtzehn

Jonas sprang mit pochendem Herzen auf. Panisch sah er sich nach allen Seiten um. Das Feuer hatte kaum noch Glut, doch die Marker warfen einen schwachen Lichtschein in die Dunkelheit und auf die schiefen Wände der Hütte.

Hütte . wir sind immer noch in der Hütte . Ich sehe nirgendwo einen Kampf.

Der Mann, den sie vor dem Ertrinken gerettet hatten, wälzte sich auf dem Boden. Eine nicht enden wollende Qual schien ihn gepackt zu haben.

»Das sind die falschen Wilden!«, schrie er. »Sie haben George Howe nicht getötet! Es sind Manteos Leute! Oh, Herr, vergib uns, vergib uns das Blut an unseren Händen!«

Dare winselte bei dem lauten Geschrei. Jonas sah, dass Andrea und Katherine ebenfalls aufgewacht waren.

Andrea setzte sich auf und strich dem Mann über die Schulter.

»Sch«, sprach sie beruhigend auf ihn ein. »Alles in Ordnung. Es ist nur ein Traum.«

»Hör auf mit ihm zu reden, Andrea«, zischte Jonas, der im Schatten und außer Sicht zu bleiben versuchte. »Er wird dich sehen!«

»Keine Sorge, er redet nur wieder im Schlaf«, erwiderte Andrea flüsternd. »Er hat nicht mal die Augen offen.«

Jonas überlegte, ob er trotzdem vorkommen und sie fortziehen sollte. Für alle Fälle. Doch das schien ihm noch auffälliger zu sein.

In diesem Moment begann der Mann zu schluchzen.

»Oh, Eleanor, ein Unstern stand von Beginn an über uns«, klagte er. »Was Fernandez getan hat . und die Feindseligkeit, die Lane verursacht hat . ein ganzes Dorf wegen eines silbernen Abendmahlbechers zu zerstören . Wie soll ich dich jetzt verlassen? Mit dem winzigen Kinde .in dieser Wildnis ... ständig bedroht von meinen Feinden .«

Selbst im Dämmerlicht sah Jonas, wie Andrea erstarrte. Einen Moment lang saß sie regungslos da, nur eine dunkle Silhouette. Dann streckte sie die Hand aus, legte die Finger um die Hand des Mannes und hielt sie ganz fest.

»O Vater«, flüsterte sie und ihre Stimme brach. Jonas sah, wie sie den Kopf senkte und schwer schlucken musste, um die Fassung wiederzuerlangen. Kurz darauf hob sie den Kopf und sprach weiter. »Du bist der Einzige, der gehen kann. Du musst mit Sir Raleigh reden. Er wird dich anhören. Nur du kannst uns retten.«

Sir Raleigh?, wunderte sich Jonas. Wovon redet sie da?

Der Mann schien es zu wissen.

»Und wenn Sir Raleigh der Ansicht ist, ich hätte mei-ne Pflicht versäumt?«, stöhnte der Mann. »Ach, 's ist ein schwerer Entschluss. Gehen oder bleiben . was ich auch tue, scheint mir Unglück heraufzubeschwören. Wenn dir ein Leid geschieht -«

»Ist es nicht deine Schuld«, sagte Andrea bestimmt.

»Aber ich war es, der dich hierhergebracht hat! Mein eigenes Kind! Und ich werde nicht hier sein, um dich zu beschützen!«

Der Mann schien mehr und mehr außer sich zu geraten. Auf der anderen Seite der Hütte regten sich nun die Markerjungen. Einer der beiden stützte sich auf den Ellenbogen und sah zu dem Mann hinüber. Dann sprach er ihn an.

Natürlich konnte Jonas nichts verstehen, doch er hatte das Gefühl, an der Miene des Jungen, der abgehackten Art, wie er den Mund auf- und zumachte, erkennen zu können, um was es ging. Er musste etwas Ähnliches gesagt haben wie Ihr da. Schlaft jetzt. Kein Geschrei mehr.

»O nein«, stöhnte Katherine.

»Was ist?«, murmelte Jonas.

»Der Markerjunge redet mit unserem Mann. Das bedeutet .«

»Dass der Mann wieder mit seinem Marker verschmolzen ist«, beendete Andrea den Satz ziemlich gelassen.

Jonas sah abermals zu den Markern hinüber. Es war noch nie seine Stärke gewesen, gleich nach dem Aufwachen klar zu denken. Er kniff die Augen zusammen und zählte die Marker immer wieder. Eins. Zwei. Kein Zweifel. Doch es hätten drei Marker in der Hütte sein müssen - auch ohne irgendwelche zufälligen Markerinsekten oder andere kleine Markerüberbleibsel mitzuzählen. Vielleicht hatte er sich verzählt. Eins. Zwei. Zwei Markerjungen.

Kein Markermann.

»Vielleicht hat sich unser Mann im Schlaf umgedreht und, bums, schon war er wieder mit seinem Marker zusammen«, spekulierte Katherine.

Wie der Rauch und die Flammen, dachte Jonas. Ich wusste, dass Marker so funktionieren.

»Wir müssen sie wieder trennen«, sagte er seufzend. »Und dann muss einer von uns zwischen den beiden schlafen.«

Erschöpft rutschte Jonas näher an den Mann heran und wollte nach seinem Arm greifen. Doch Andrea versperrte ihm den Weg.

»Lass ihn in Ruhe!«, befahl sie.

Noch verwirrter als zuvor blinzelte Jonas. Gerade war es ihm schon schwergefallen, bis zwei zu zählen - und nun sollte er auch noch Andrea verstehen?

»Denk an unser Experiment, Andrea«, sagte Kathe-rine leise. »An Jonas' Plan.«

Selbst Jonas fiel es schwer, sich daran zu erinnern.

Ach ja, wir wollen uns nicht mehr ausnutzen lassen. Nicht mehr auf Tricks und Kniffe hereinfallen. Den Mann nicht mehr mit seinem Marker zusammenbringen ... das Gegenteil von dem tun, was andere erwarten.

Andrea lachte ein wenig aufgebracht.

»Ist das nicht komisch?«, fragte sie. »Ihr wollt euch nicht manipulieren lassen, also manipuliert ihr diesen

Mann? Benutzt ihn als Schachfigur, um selber keine Schachfiguren zu sein?«

Die Bitterkeit in ihren Worten ließ Jonas zusammenzucken.

»So habe ich das nicht gemeint«, murmelte er. Vermutlich wäre es besser, ihr alles noch einmal zu erklären, aber er war so müde. Es war mitten in der Nacht. Jonas wollte einfach nur den Mann von seinem Marker fortziehen und weiterschlafen.

Er griff noch einmal nach dem Mann, doch dieses Mal schubste Andrea ihn fort.

»Das lass ich nicht zu«, sagte sie. »Ich halte dich davon ab, ganz egal, wie.«

»Das ist kein Spiel, Andrea«, sagte Jonas perplex.

»Du hast recht«, unterbrach sie ihn. »Das ist kein Spiel. Aber du tust, als ob es das wäre. Schach! Strate-go!« Wieder schraubte sich ihre Stimme in die Höhe. »Hier geht es um sein Leben. Seinen kostbarsten Traum, das, worauf er jahrelang hingearbeitet hat.«

»Wovon redest du?«, fragte Katherine.

»Wir müssen den Mann mit seinem Marker zusammenlassen«, sagte Andrea. »Er muss mich sehen. Ich muss mit ihm reden.«

»Was?«, entfuhr es Jonas. »Aber das könnte die Zeit komplett ruinieren!«

»Ach, die Zeit«, sagte Andrea verächtlich. »Was hat sie je für mich getan? Außer mir meine Eltern wegzunehmen.«

»Andrea«, sagte Katherine. »Du kannst doch die Verantwortung nicht -« »Doch, das kann ich«, sagte Andrea. »Und das tue ich. Und es ist mir egal.« Sie beugte sich über den bewusstlosen Mann, als wollte sie ihn wachrütteln.

Jetzt war die Reihe an Jonas, sie zurückzuhalten.

»Ist dein mysteriöser Unbekannter zurückgekommen und hat dir neue Lügen erzählt?«, fragte er. »Führst du dich deshalb so auf?«

»Nein!«, sagte Andrea und setzte sich gegen ihn zur Wehr.

»Was hat sich dann verändert?«, wollte Jonas wissen, ohne sie loszulassen. »Vorhin warst du mit Katherine und mir einer Meinung. Warum ist es dir so wichtig, dass dieser Mann mit seinem Marker zusammenbleibt?«

Andrea hob den Kopf und reckte das Kinn. Obwohl es fast stockdunkel war, konnte Jonas erkennen, wie wild entschlossen sie war. Ihre Augen funkelten.

»Weil«, flüsterte sie, »ich jetzt weiß, wer er ist.«

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