Jonas zappelte im Sessel herum und der Sessel zappelte mit ihm. Wäre er in anderer Stimmung gewesen, hätte ihn das fasziniert. Wie war dieser Sessel programmiert? Gab es einen eingebauten Chip, der ihn dazu brachte, sich zu bewegen? Doch im Augenblick war Jonas zu abgelenkt. Er saß in einem sterilen, fast leeren Raum und wartete darauf, durch die Zeit in eine unbekannte Epoche mit unbekannten Gefahren zurückzureisen. Daher konnte er nichts anderes tun, als herumzuzappeln.
Eigentlich sollte man annehmen, dass es bei Zeitreisen keine Wartezeiten gibt, dachte er verdrossen.
Neben ihm hopste seine elfjährige Schwester Kathe-rine auf ihrem Sessel herum (sodass der Sessel ebenfalls hopste) und redete auf Andrea ein, die dritte Person, die mit ihnen in die Vergangenheit reisen würde. Eigentlich war Andrea an diesem Tag sogar die wichtigste Zeitreisende. Sie war der Grund, warum sie überhaupt aufbrachen.
»Mach dirkeine Sorgen«, sagte Katherine zu ihr. »Man muss beim Reisen durch die Zeit nicht die Luft anhalten oder so etwas. Es ist ganz einfach.«
»Das beruhigt mich«, sagte Andrea leise. Sie saß völlig regungslos da und ihr Sessel hielt ebenfalls still. Sie hatte den Blick starr auf die gegenüberliegende Wand gerichtet und schien von Katherine kaum Notiz zu nehmen. Normalerweise hätte ihr Verhalten Jonas' Zustimmung gefunden; auch er versuchte seine jüngere Schwester so oft wie möglich zu ignorieren. Doch im Gegensatz zu ihm und Katherine war Andrea noch nie in die Vergangenheit gereist. Sie wusste weder, in welche Epoche sie reisen, noch was sie dort zu tun haben würde. Müsste sie da nicht Fragen stellen oder wenigstens so tun, als ob es sie interessierte?
»Was allerdings überhaupt nicht witzig ist, ist die Zeitkrankheit«, schwadronierte Katherine weiter und warf ihren blonden Pferdeschwanz über die Schulter. »Als wir mit Chip und Alex ins Jahr 1483 zurückgereist sind, war ich hundertprozentig sicher, gleich brechen zu müssen. Außerdem war mir furchtbar schwindelig und -«
»Katherine!«, fiel Jonas ihr ins Wort, weil er ihr Gebrabbel nicht länger ertragen konnte. »Andrea wird die Zeitkrankheit nicht bekommen, so wie du. Hast du vergessen, dass sie in ihr eigenes Zeitalter zurückreist? In die Zeit, in die sie gehört? Sie wird sich also gut fühlen.«
Bei diesen Worten leuchtete Andreas Gesicht auf.
He, staunte Jonas. Sie sieht ja richtig gut aus. Das war ihm bisher tatsächlich noch nicht aufgefallen. Natürlich kannte er sie kaum. Als er ihr das erste Mal begegnet war, hatten sich noch vierunddreißig andere Kinder in ihrer Nähe befunden und vier Erwachsene, die darum kämpften, was mit den Kindern geschehen sollte. Leute wurden mit Elektroschockern beschossen, gefes-selt und in die Vergangenheit zurückgeschickt... Jonas hatte also mehr als genug Gründe gehabt, sich Andrea nicht genauer anzusehen. Er wusste nur noch, dass sie bei ihrer ersten Begegnung ihr langes braunes Haar in Zöpfen getragen hatte und dass sie nicht schrie und durchdrehte wie viele andere. Außerdem war er ziemlich sicher, dass sie, genau wie er selbst und die anderen Kinder, um die die Erwachsenen gekämpft hatten, dreizehn Jahre alt war und dass sie zu den verschollenen Kindern der Geschichte gehörte, die Babyschmuggler aus ihrer angestammten Zeit geraubt hatten. Eine, die zurückkehren musste, um den Lauf der Geschichte zu retten.
Plötzlich hatte Jonas das dringende Bedürfnis, Andrea daran zu erinnern, dass er und Katherine schon einmal bewiesen hatten, dass sie in der Lage waren, sowohl die Geschichte als auch verschollene Kinder zu retten, selbst dann, wenn die Zeitexperten das für unmöglich hielten. Schließlich hatten sie Chip und Alex aus dem fünfzehnten Jahrhundert gerettet, oder etwa nicht? Jonas lächelte Andrea an und legte sich seine Worte zurecht. Bestimmt sollten sie klingen, aber ungezwungen und nicht zu überheblich. Ob sich Hab keine Angst. Ich passe auf dich auf blöd anhörte?
Katherine unterbrach ihn, bevor er überhaupt dazu kam, etwas zu sagen.
»Andrea kann sehr wohl die Zeitkrankheit bekommen«, behauptete sie. »Nicht die Art, die man bekommt, wenn man sich im falschen Zeitalter aufhält, aber die andere, vom Reisen durch die Zeit. HK hat vermutet, dass ich beide Arten hatte, weißt du noch? Deshalb habe ich mich so elend gefühlt. Und ...«
Katherine verstummte, denn in diesem Moment ging die Tür auf und HK, von dem sie gerade noch gesprochen hatte, trat ein.
HK war ein Zeitreisender aus der Zukunft und der Anführer derjenigen, die die Zeit zu retten versuchten, indem sie sämtliche geraubten Kinder an ihren Platz in der Geschichte zurückschickten. Er war groß, hatte glänzendes kastanienbraunes Haar und sah so gut aus, dass Katherine ihm den Spitznamen »süßer Hausmeisterknabe« gegeben hatte, ehe sie herausfanden, womit er wirklich sein Leben bestritt. Aus irgendeinem Grund machte HKs Erscheinen Jonas in diesem Moment regelrecht wütend. Je nachdem, wie man es betrachtete, kannte er ihn erst seit einigen Wochen oder auch seit mehr als fünfhundert Jahren. (Beziehungsweise seit mehr als tausend Jahren, wenn man berücksichtigte, dass Jonas, Katherine, Chip und Alex zwischen dem einundzwanzigsten und dem fünfzehnten Jahrhundert hin- und hergereist waren.) So oder so hatte Jonas eine Weile gebraucht, um sich darüber klar zu werden, ob er HK vertrauen konnte oder nicht. HK hatte Jonas, Kathe-rine und ihren Freunden zwar geholfen, aber ganz sicher war sich Jonas immer noch nicht: Wenn HK die Wahl hätte, lieber die Kinder oder die Geschichte zu retten, für wen oder was würde er sich wohl entscheiden?
Ich muss dafür sorgen, dass er diese Wahl niemals hat, sagte sich Jonas entschlossen. Wieder blickte er zu Andrea mit der makellosen, blassen Haut hinüber. Ihre grauen Augen sahen aus irgendeinem Grund wieder traurig aus - ja regelrecht gequält. Ich werde dich beschützen, dachte er, auch wenn es sich vermutlich lächerlich anhören würde, wenn er das jetzt ausspräche. Er stampfte mit dem Fuß auf, dass sein Sessel ebenfalls auskeilte.
»Vorsicht«, warnte HK. »Die Dinger haben eine hochsensible Kalibrierung.« Erst jetzt schien er Katherines Gehopse zu bemerken. »Sie sind eigentlich nicht für Kinder gedacht.«
Katherine unterbrach ihr Gehopse mitten im Schwung. Ihr Sessel schnellte hoch und fing sie auf.
»'tschuldigung«, sagte sie. »Können wir jetzt los? Am besten schickst du uns einfach in die Vergangenheit, dann besteht keine Gefahr, dass wir deine kostbaren Sessel ruinieren.«
Sie klang gekränkt. Jonas fragte sich, ob er HK warnen sollte, Katherine lieber nicht zu vergrätzen.
»Noch nicht«, erwiderte HK. »Wir müssen euch zuerst nochbriefen.«
Katherine beugte sich vor und ihr Sessel tat das Gleiche.
»Wirklich?«, hauchte sie und schien jegliche Kränkung vergessen zu haben. »Ihr wollt uns diesmal verraten, wohin es geht - bevor wir dort ankommen?«
HK lachte.
»Beim letzten Mal habt ihr mir kaum eine Chance gelassen«, erinnerte er sie.
»Das war nicht unsere Schuld«, brauste Jonas auf. »Wenn du Chip und Alex nicht zurückgeschickt hättest, ohne ihnen irgendwas zu erklären, und wenn du uns nicht reingelegt hättest, als ich dir den Definator überlassen habe, und wenn du -«
HK hob die Hand und schnitt Jonas das Wort ab.
»Immer mit der Ruhe«, sagte er. »Es tut mir leid, ja? Das ist aus und vorbei. Schnee von gestern. Hast du noch nie gehört, dass man die Vergangenheit ruhen lassen soll?«
Katherine und Jonas sahen ihn verdutzt an.
»Äh, ist das nicht ein Widerspruch, wenn ein Zeitreisender so etwas sagt?«, fragte Katherine.
»Klaro.« HK strahlte sie an. »Ihr habt den Witz kapiert. Das ist Zeitreisenhumor - einfach genial.«
Er wandte sich an Andrea, die immer noch still und unbeteiligt dasaß.
»Was mich angeht, sitzen wir diesmal alle im gleichen Boot«, sagte er. »Und zwar von Anfang an. Keine unnötige Geheimniskrämerei. Abgemacht?« Er streckte Andrea die Hand hin.
»Sicher«, erwiderte Andrea ruhig und schüttelte ihm die Hand, ehe er das Gleiche auch mit Jonas und Kathe-rine tat. Hätte Jonas in diesem Moment nicht so genau auf Andrea geachtet, wäre ihm vielleicht entgangen, dass diese ein klein wenig zögerte, ehe sie sprach und HKs Hand ergriff.
Sie hat doch Angst, stellte er fest. Sie braucht wirklich jemanden, der auf sie aufpasst.
»Dann willst du Andrea also sagen, wer sie in Wirklichkeit ist?«, fragte Katherine neugierig.
Und mir?, wäre es Jonas fast entschlüpft, der ganz vergaß, dass er sich im Augenblick ausschließlich für Andreas Schutz zu interessieren hatte. Jonas hatte miterlebt, wie seine Freunde Chip und Alex in der Vergangenheit erfahren hatten, wer sie wirklich waren. Und er wusste, dass am Ende auch er in sein ursprüngliches Zeitalter würde zurückkehren müssen, zumindest zeitweilig - genau wie all die anderen verschollenen Kinder der Geschichte. Doch sosehr er seine wahre Identität und sein wahres Zeitalter kennenlernen wollte . vielleicht war er doch noch nicht ganz bereit dafür?
Der Moment zu fragen war vorüber. HK antwortete Katherine.
»Ich dachte mir, dass ich es ihr am besten zeige«, sagte er.
HK betätigte einen Schalter an der Wand hinter Jonas' Sessel und schon verwandelte sich die gegenüberliegende Wand unverzüglich in etwas, das an einen Fernsehbildschirm mit sensationeller Auflösung erinnerte. Wellen schlugen an einen Sandstrand und Jonas hatte keinen Zweifel, dass er jedes einzelne Sandkorn erkennen würde, wenn er nur genau genug hinsah.
»Spring einfach zu dem Teil, der für sie interessant ist«, sagte HK.
Jonas war nicht sicher, ob HK geradewegs mit dem Bildschirm sprach (oder was immer diese futuristische Erfindung sein mochte) oder ob irgendwo jemand in einem Kontrollraum saß und ihre gesamte Unterhaltung mitverfolgte. Manchmal wollte er über dieses ganze Zeitreisen-Durcheinander lieber nicht zu viel nachdenken. Er wusste, dass HK sie bereits aus dem einundzwan-zigsten Jahrhundert geholt hatte und dass sich der Warteraum, in dem sie saßen, in einem Zeittunnel befand, einem Ort, an dem Zeit gar nicht wirklich existierte. Er wusste, dass HK ihnen wahrscheinlich gleich einige Szenen aus Andreas »wirklichem« Leben zeigen würde, ehe sie von skrupellosen Zeitreisenden entführt worden und (mit all den anderen verschollenen Kindern) am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts notgelandet war. Trotzdem hatte er ein besseres Gefühl, wenn er sich einredete, dass er lediglich einen Fernseher mit unglaublich gutem Empfang vor sich hatte.
Die Szene vor ihnen veränderte sich. Sie schienen über das Wasser auf einen sumpfigen Küstenstrich zuzufliegen und dann ein Stück landeinwärts, zu einer primitiven Ansammlung von Häusern. Einige davon waren von einem Holzzaun umgeben, der fast drei Meter hoch sein mochte. Allerdings wirkten sowohl die Häuser als auch der Zaun ein wenig baufällig und hatten an mehreren Stellen Löcher.
Wieder wechselte die Ansicht und konzentrierte sich auf eine Frau, die aus einem der besser aussehenden Häuser eilte. Sie trug, was Jonas unter altmodischen Kleidern verstand: einen langen Rock, eine langärme-lige Bluse und eine komische Haube, die ihren ganzen Kopf bedeckte. Der Rock war nicht ganz so ausladend wie jene, die er im fünfzehnten Jahrhundert gesehen hatte, trotzdem war er nicht sicher, ob er es wirklich mit einer anderen Epoche zu tun hatte oder einfach nur mit anderen Menschen. Ärmeren Menschen, nicht mit Adligen.
»Das Baby von Mistress Dare ist da!«, rief die Frau und die Freude übertünchte die Erschöpfung auf ihrem Gesicht. »Ein holdes, schönes Mägdelein!«
Aus den übrigen Häusern strömten weitere Leute. Sie jubelten und riefen: »Hussa, hussa!« Doch Jonas blieb keine Zeit, sie zu betrachten, ehe die Kamera - oder was immer es sein mochte - näher heranzoomte. Durch die Tür, über einen Lehmfußboden, hin zu einem Bett... wo eine Frau einen winzigen Säugling an die Brust drückte.
»Mein liebes Kind«, flüsterte die Frau, deren Gesicht selbst im trüben Kerzenlicht vor Liebe glühte. »Meine kleine Virginia!«
»NEIN!«, schrie jemand.
Es dauerte einen Moment, ehe Jonas begriff, dass der Schrei nicht zu der Szene gehörte. Verärgert, von Kathe-rine derart unterbrochen zu werden, sah er um sich. Doch Katherine neben ihm blickte genauso verwirrt um sich.
Es war Andrea, die stille, gelassene Andrea, die nun mit offenem Mund und zornfunkelnden Augen aufsprang.
»NEIN!«, schrie sie wieder. »Das bin ich nicht! Das ist nicht meine Mutter!«