Sieben

Zu dritt spähten sie über die Holzpfähle. Selbst Dare hörte auf zu bellen und sah einfach nur schweigend zu. Jetzt, wo Jonas wusste, dass er einen Marker beobachtete, war ihm klar, warum sich die Gestalt bewegte, ohne dass Äste raschelten oder kleine Zweige knackten.

»Sie sind zu zweit!«, flüsterte Katherine.

Jonas rutschte zu ihr hinüber, um sich die Sache aus ihrem Blickwinkel anzusehen. Sie hatte recht: Es waren zwei Gestalten, die lautlos zwischen den Bäumen hindurchglitten.

»Vergewissern wir uns lieber, dass sie keine richtigen Menschen bei sich haben«, flüsterte Jonas düster zurück.

Die Gestalten kamen näher und es wurde klar, dass niemand sonst in der Nähe war. Als die Marker auf die Lichtung traten und sich im hellen Tageslicht ein wenig schärfer abzeichneten, begann Katherine zu kichern.

»Äh, Jonas, ich glaube nicht, dass einer von denen Andreas Marker ist«, flüsterte sie.

»Warum nicht?«, fragte er zurück. »Ach so.«

Die Marker waren Jungen. Ziemlich spärlich beklei-dete Jungen. Im ersten Moment hätte Jonas sie fast für nackt gehalten, doch dann erkannte er, dass ihnen quadratische Lappen aus Stoff oder Tierhaut von der Taille herabhingen.

Katherine hörte gar nicht mehr auf zu kichern.

»Lass es gut sein«, murmelte Jonas. »Du hast auch schon Jungs in Badehosen gesehen. Und diese >Kluft< verdeckt genauso viel Haut. Das sind Indianer. Äh, amerikanische Ureinwohner.«

Aus irgendeiner längst vergangenen Unterrichtsstunde erinnerte sich Jonas an den Namen des Kleidungsstücks, das die beiden Jungen trugen: Lendenschurz. Hätten sie sich nicht was weniger Peinliches einfallen lassen können?, dachte er.

»Das sind keine Indianer«, flüsterte Andrea, die zum ersten Mal den Mund aufmachte, seit sie über dem Croatoan-Pfahl zusammengebrochen war. »Seht euch nur ihre Haare an. Da stimmt etwas nicht.«

Jonas kniff die Augen zusammen. Es war nicht einfach, die Beschaffenheit der Haare zweier Jungen zu überprüfen, die mehr oder weniger durchsichtig waren, selbst wenn sie ein kleines bisschen leuchteten. Trotzdem konnte er halbwegs nachvollziehen, was Andrea meinte. Keiner der beiden Marker trug lange geflochtene Zöpfe oder hatte glattes Haar, das über den Rücken herabfiel, einen Irokesenschnitt oder einen anderweitig geschorenen Skalp. Jedenfalls keinen der Haarschnitte, mit denen Jonas bei amerikanischen Ureinwohnern aus grauer Vorzeit gerechnet hätte. Einer der Markerjungen hatte längeres Haar, doch es war eindeutig gelockt. Die

Haare des anderen waren extrem kurz geschoren und drahtig.

»Vielleicht gehören sie zu einem Stamm, der es nie in unser Geschichtsbuch geschafft hat«, meinte Jonas achselzuckend.

»Der Knabe stammt aus Afrika«, sagte Andrea und zeigte auf den Marker mit den kurz geschorenen Haaren. »Oder jedenfalls seine Vorfahren.«

Es klang, als fände sie das spannend.

»Warum sollte ein afrikanischer Junge sich für einen Indianer ausgeben?«, fragte Jonas.

»Hallo?«, erwiderte Katherine. »Vielleicht weil er kein Sklave mehr sein will?«

Jonas wurde rot, weil er das fast vergessen hatte. Er hasste es, wenn in der Schule über Sklaverei gesprochen wurde. Seine Lehrer nahmen dann jedes Mal diesen ganz besonderen Tonfall an, als versuchten sie angestrengt niemanden zu verletzen. Und viele der schwarzen Kinder in seiner Klasse starrten einfach nur auf ihre Tische, als wünschten sie sich weit, weit weg.

»Nein«, sagte Andrea, deren Stimme erregt anschwoll. »Ich wette, das sind Schauspieler, auch wenn sie nicht sehr realistisch sind. Das hier ist bloß ein Filmset und wir sind immer noch im einundzwanzigsten Jahrhundert und überhaupt nicht weit in die Vergangenheit gereist und .«

Sie verstummte, weil die beiden Marker plötzlich ihre Bogen hoben und Pfeile aus den Köchern zogen, die sie auf dem Rücken trugen, wie Jonas erst jetzt bemerkte.

Markerbogen und -pfeile?, überlegte er. Na klar, auf der letzten Zeitreise habe ich ja auch eine Markerstreitaxt gesehen.

Es war keine schöne Erinnerung. Jonas wollte lieber nicht darüber nachdenken, auf was diese beiden Markerjungen schossen. Trotzdem konnte er nicht anders, als die Pfeile zu verfolgen, die im hohen Bogen durch die Luft sausten.

Zuerst schien es, als seien sie nutzlos zu Boden gefallen. Zwischen den Bäumen raschelte etwas, doch es war nur ein Reh, das ziellos davontrottete. Dann sah Jonas, was es hinter sich zurückgelassen hatte: eine Markerversion seiner selbst, durchbohrt von den Pfeilen der Markerjungen. Das Leuchten des Markerrehs verblasste, es wurde schwächer und schwächer.

O nein, dachte Jonas entsetzt. HK hat uns erzählt, dass die Marker von Lebewesen aufhören zu leuchten, wenn sie sterben.

Die beiden Markerindianer - oder Marker-Möchtegernindianer - teilten Jonas' Entsetzen nicht. Sie hüpften herum und jubelten (auch wenn Jonas nicht das Geringste hören konnte). Dann rannten sie zu dem Markerreh und ... fielen darüber her. Anders konnte man es nicht nennen. Jonas war mehr als froh, dass er nur die geisterhafte Markerversion davon sah, sonst hätte er sich übergeben müssen.

»Das ist kein Filmset«, flüsterte Katherine. »In Filmen kommt immer der Hinweis >Bei diesen Aufnahmen kamen keine Tiere zu Schaden<.«

»Die Kerle haben echt Hunger«, sagte Jonas und wandte sich ab, weil er nicht länger hinsehen konnte.

Die Markerjungen schienen einen Teil des Fleischs gleich roh zu verschlingen und hatten blutverschmierte Gesichter. »Bärenhunger. Das kann niemand schauspielern.«

»Aber dann ...«, sagte Andrea und verzog gequält das Gesicht. Wieder sah sie zu den beiden Markern hinüber, die jetzt mit geisterhaften Messern auf das tote Markerreh einstachen. »Ich hätte wissen müssen, dass er lügt, dass es nicht möglich ist, auch nicht mit Zeitreisen.«

»Wer hat gelogen?«, fragte Katherine. »Meinst du HK? Wovon redest du?«

Andrea gab keine Antwort. Sie sackte wieder auf den Boden und ihre Schultern bebten vor lautlosem Schluchzen. Ein Wimmern entschlüpfte ihr, das sie schnell unterdrückte, doch es schien sie unglaubliche Anstrengung zu kosten. Obwohl sie keinen Laut von sich gab, war es das schmerzlichste Weinen, das Jonas je gesehen hatte, Millionen Mal schlimmer als jedes Theater von Kathe-rine. Und genau wie die Szene mit den Markerjungen und dem Markerreh war ihm auch diese hier viel zu realistisch. Er konnte den Anblick einfach nicht ertragen.

Da er auch nicht mit ansehen wollte, wie die Markerjungen mit dem Markerreh zugange waren, wusste er kaum noch, wo er die Augen hinwenden sollte. Sein Blick fiel auf Dare. Der Hund sah zwischen Andrea und den Markern hin und her.

Jonas streckte die Hand aus und packte Dare am Halsband, um ihn an seinem Platz zu halten. Er hatte nicht die geringste Ahnung, wie er Andrea helfen sollte, aber vielleicht war es ihr ein Trost, den Hund in der Nähe zu haben.

»Was ist denn, Andrea?«, wollte Katherine wissen, die genauso verwirrt klang, wie Jonas sich fühlte. »Bist du eine militante Tierschützerin? Ich kann dir versichern, dass in der Vergangenheit nicht nur Rehe -«

»Ich weine nicht wegen einem Reh«, fauchte Andrea sie an.

»Weshalb dann?«

Jonas wusste, dass er den beiden sagen sollte, nicht so laut zu sein. Es war gefährlich. Doch die Zeitkrankheit, der Schock über den Verlust des Definators, sein Entsetzen über die Schlachtung des Rehs und Andreas qualvolles Weinen - all das schien gleichzeitig auf ihn einzustürmen. Er konnte nichts tun, als Dares Halsband zu umklammern, das sich sicher und robust anfühlte. Seine Finger strichen über die kleine Tasche, in die HK vor Ewigkeiten, damals in der Zukunft, den Definator geschoben hatte. Auch sie war äußerst solide gefertigt und befestigt und saß fest am Halsband .

Augenblick, dachte er.

Er zerrte an dem Täschchen und gab sich alle Mühe, es abzureißen, doch es musste mit einem superstarken futuristischen Kleber befestigt worden sein. Selbst unter Aufbietung aller Kräfte vermochte Jonas nichts auszurichten.

Vor seinem inneren Auge wiederholte sich eine Szene.

Warte, ich habe Angst, dass der Definator rausfällt, hatte Andrea beim Sturz durch die Zeit gesagt, damals, als sie den Definator noch gehabt hatten. Sie hatte hinü-bergelangt und an der Tasche herumgefingert. Im Dunkeln, als Jonas und Katherine sie kaum sehen konnten. Der Riemen ist locker, hatte sie gesagt. Am besten halte ich den Definator selbst fest.

Aber da war gar kein Riemen. Es gab überhaupt keinen Grund, warum Andrea den Definator aus dem Täschchen hatte ziehen müssen.

Es sei denn, sie wollte ihn absichtlich verlieren.

Jonas setzte sich auf und ließ Dares Halsband los. Mit zusammengekniffenen Augen funkelte er Andrea an.

»Du hast gelogen«, sagte er.

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