Drei

Ob man sich an Reisen durch die Zeit jemals richtig gewöhnen kann?, fragte sich Jonas.

Da er es schon einmal erlebt hatte, wusste er, dass es nur so schien, als stürze man endlos durch die Leere und ins Nichts. Er wusste, dass irgendwann Licht auf ihn zukommen und er das Gefühl haben würde, sein ganzer Körper werde auseinandergerissen, bis in die kleinsten Atome. Dann würde er landen und sich wieder einigermaßen wie er selbst fühlen. Nach einer Weile.

All das wusste er und trotzdem war es entsetzlich, immer weiter und weiter zu fallen.

Für Andrea musste es noch schlimmer sein.

»Geht es dir gut?«, schrie er zu ihr hinüber, wobei ihm der vorbeirauschende Wind die Worte von den Lippen riss.

Sie nickte. Ein Ausdruck von Resignation lag auf ihrem Gesicht, als sei sie auf alles gefasst.

Oder als fände sie es gar nicht so schlimm, weil sie etwas erlebt hatte, das noch viel schlimmer war?

Jonas streckte seine freie Hand nach ihr aus. Wenn er sich mit dem linken Arm bei ihr einhakte, so wie er es mit dem rechten bei Katherine gemacht hatte, konnten sie im Kreis durch die Zeit fliegen, mit dem Hund in der Mitte. Als er mit Katherine und Chip ins Jahr 1483 zurückgereist war, hatten sie ebenfalls einen Kreis gebildet und es war tröstend gewesen, eine Möglichkeit, wenigstens einen kleinen Teil der Leere um sie herum auszuschließen.

Andrea jedoch zuckte bei Jonas' Berührung zurück und schwang sich von ihm fort.

»Warte, ich habe Angst, dass der Definator herausrutscht«, rief sie.

Das Täschchen am Halsband des Hundes hatte auf Jonas einen recht stabilen Eindruck gemacht, doch jetzt, in der dunklen Leere, konnte er es kaum erkennen. Er musste förmlich erahnen, wie sich Andrea über das Halsband beugte.

»Der Riemen ist locker«, erklärte sie. »Ich halte den Definator am besten selbst fest.«

Aber deine Hände könnten taub werden, wollte Jonas ihr sagen. Es kann sein, dass du bei der Landung gar nicht sicher weißt, ob du den Definator noch festhältst oder nicht. Das war ihm im fünfzehnten Jahrhundert passiert.

Doch in diesem Augenblick wurde Andrea von einem Luftstrom gepackt und trieb von Jonas fort. Mit dem linken Arm war sie nach wie vor bei Katherine untergehakt und mit der linken Hand umklammerte sie das Hundehalsband. Ihr restlicher Körper hingegen schwebte fast gänzlich hinter Katherines Rücken.

»Pass auf!«, schrie Katherine im gleichen Moment, als Jonas rief: »Halt dich fest, Andrea!«

Er wollte seine freie Hand auf die Hand legen, mit der sie sich am Hundehalsband festhielt, um ihr sicheren Halt zu verschaffen. Es schien durchaus möglich, dass sie fortgerissen wurde. Und was würde dann aus ihr werden?

Er drehte den Kopf nach rechts, um hinter Katherines Rücken zu sehen. Es war, als würden sie Twister spielen: Seine linke Hand durfte Andreas Hand nicht loslassen, mit dem rechten Arm musste er weiter bei Katherine untergehakt bleiben, sodass ihm kaum Platz blieb, den Kopf zu drehen und nachzuschauen, wo Andrea jetzt war. Er konnte nur einen kurzen Blick auf sie werfen, ehe sein Kopf wieder nach vorn gezwungen wurde und Katherine ihm mit der Schulter die Sicht versperrte. Seltsamerweise trieb Andrea gar nicht herum und versuchte, wieder in die richtige Richtung zu driften. Stattdessen hatte sie sich zu einer Kugel zusammengerollt und über den Definator gebeugt. Ihr Anblick erinnerte Jonas an Kinder, die in der Schule über ihren Handys kauerten, wenn sie verhindern wollten, dass andere eine SMS mitlasen, die sie gerade erhalten hatten.

»Andrea!«, schrie er. »Versuch mit Schwimmbewegungen zurückzutreiben. Hier! Ich helfe dir!«

Mit der Linken hielt er ihre Hand fest umschlossen und gemeinsam klammerten sie sich an das Hundehalsband. Dann ließ er mit der Rechten sekundenlang das Halsband los, gerade lange genug, um Andrea am Arm ein wenig heranzuziehen. So funktionierte das doch in der Physik, oder nicht? Wenn sie durch ein Vakuum flogen, müsste Andrea durch den Zug wieder an ihren Platz und zu ihm zurücktreiben.

Ups. Jetzt trieb er selbst zu weit nach links und prallte gegen die zurückdriftende Andrea.

Der Hund fing an zu bellen. Katherine schrie: »Festhalten! Haltet euch fest!« Das konnte Jonas klar und deutlich hören, weil er inzwischen zurückgeschwungen war, und zwar so weit, dass sich sein Ohr direkt vor Katherines Mund befand. Er warf einen kurzen Blick über die Schulter: Andrea schien auch etwas zu schreien, aber er konnte nicht hören, was es war.

Und dann hörte er nicht einmal mehr Katherine oder den Hund, weil nun der Teil der Reise begann, bei dem die Lichter auf sie zurasten und Jonas das Gefühl hatte, sein ganzer Körper werde von der Schwerkraft und der Zeit in Stücke gerissen. Sein Pulsschlag dröhnte ihm in den Ohren, schneller und schneller und schneller. Das alles hatte er schon einmal erlebt, aber was war, wenn sein Herz dieses Mal tatsächlich explodierte?

Sie landeten. Jonas war zu geblendet, zu betäubt und zu benommen, um feststellen zu können, wo sie sich befanden. Sie mochten an einem weichen Sandstrand in der Sonne brutzeln oder mitten in einem Schneesturm von Eiskristallen gepeitscht werden. Für Jonas wäre es gleich gewesen. Mit wildem Blinzeln versuchte er sich klare Sicht zu verschaffen. Er wollte sich an den Kopf fassen, doch es gelang ihm nur auf der linken Seite. Was war das? Hatte er Kiefernnadeln im Ohr?

Er bemühte sich nach Kräften sein linkes Ohr freizuwischen, und das half. Jetzt konnte er jemanden schreien hören, auch wenn die Stimme von weit her zu kommen schien.

»... verloren ...«

»... verloren ...«

». wegen dir . verloren .«

»Wegen wem hast du was verloren?« Das war kein Geschrei. Es war Katherine, die schwach, aber ziemlich ruhig klang.

»Jonas . Es war Jonas .«

Mit einer schier übermenschlichen Anstrengung gelang es Jonas, sich ein wenig aufzurichten und so lange zu blinzeln, bis er wieder einigermaßen sehen konnte. War das ein Hundefell? Ach so. Der Hund war, alle viere von sich gestreckt, auf seiner rechten Seite gelandet. Kein Wunder, dass Jonas nur den linken Arm hatte bewegen können. Doch jetzt rappelte Dare sich auf und kläffte beleidigt. Sobald sich der Hund bewegte, konnte Jonas viel besser hören und sehen.

»Was hast du wegen Jonas verloren?«, fragte Kathe-rine, die ihm immer wieder vor den Augen verschwamm.

Andrea hatte das Gesicht in den Händen vergraben. Ihre Stimme wurde zu einem Wehklagen.

»Wegen ihm habe ich den Definator verloren!«

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