Einundzwanzig

Andrea reagierte nicht richtig.

In Jonas' wildesten Träumen hätte sie vielleicht die Arme um ihn geschlungen, ihm einen leidenschaftlichen Kuss gegeben und gerufen: »O danke! Vielen Dank! Du hast mich davor bewahrt, mein Leben zu ruinieren. Und das meines Großvaters!«

Doch im Grunde seines Herzens rechntete er nicht wirklich damit.

Allerdings hoffte er schon auf ein »Ja, du hast recht. Daran hätte ich denken müssen!«. Oder wenigstens auf ein »Danke, du hast mich gerade noch rechtzeitig aufgehalten!«.

Andrea lag einfach auf der Erde und murmelte: »Und wennschon.« Jonas lehnte sich zurück.

»Du hast doch noch nichts zu ihm gesagt, oder?«, fragte er leise. Andrea zuckte die Achseln. »Spielt keine Rolle.«

»Spielt keine Rolle?«, wiederholte Jonas ungläubig. »Natürlich spielt es .« Er verstummte, weil in diesem Moment Katherine he-rankam und ihm einen Stoß versetzte, der ihn wieder umwarf.

»Jonas, du Vollidiot! Wenn John White dich jetzt gesehen hätte?«

Jonas sah sich um und ging im Kopf noch einmal alles durch. Er war aus der Hütte gerannt... und John White hatte direkt auf der anderen Seite der Lichtung gesessen, zwischen den beiden Markerjungen.

Jonas duckte sich.

»Er sieht genau zu uns rüber!«, zischte er Katherine zu. »Was sollen wir tun?«

Er hatte sich solche Sorgen gemacht, dass Andrea die Zeit ruinieren könnte, indem sie mit John White sprach. Und nun - was hatte er selbst getan?

Plötzlich kam ihm eine Idee.

Er sprang auf und winkte zu John White hinüber.

»He, Kamerad«, rief er und versuchte dabei wie ein Matrose von anno Tobak zu klingen. Der Einzige, der ihm dabei einfiel, war Johnny Depp in Fluch der Karibik. »Wer sich lang auf den Meeren tummelt, geht manchmal dazu über, sich närrisch zu kleiden. Und närrisch zu gebärden. Aber für uns wird es Zeit, die Segel zu setzen. Darum sei versichert, dass du uns nie wiedersehen wirst.«

Er huschte in den Wald und winkte Andrea und Katherine zu, ihm zu folgen.

Katherine lachte schallend los.

»Wenigstens ist er ab und zu ein witziger Idiot«, sagte sie zu Andrea.

Diese lächelte halbherzig.

»Psst!«, zischte Jonas. »Vorsicht!« Er signalisierte ih-nen weiter, zu ihm in den Wald zu kommen, wo sie der Mann nicht sehen konnte. »Er kann euch sehen!«

»Er kann uns nicht sehen«, sagte Andrea. »Und auch nicht hören.«

»Natürlich kann er das! Er hat die Augen offen!«, flüsterte Jonas. »Er ist wach.«

»Komm her und sieh selbst!«, forderte Katherine ihn auf.

Jonas zögerte, dann schob er sich langsam auf die Lichtung zurück.

Es war offensichtlich, dass John White wieder mit seinem Marker vereint war, denn die beiden Markerjungen, zwischen denen er saß, schoben ihm abwechselnd Essen in den Mund. Sie behandelten ihn wie einen Invaliden und zerlegten das Essen in so winzige Häppchen, dass er nicht einmal kauen musste.

Und genau wie Jonas gesagt hatte, hatte John White die Augen weit offen.

Äh, nein, hat er nicht, verbesserte sich Jonas.

Oder doch?

Sein Verstand schien mit sich selbst zu ringen, bei dem Versuch zu entschlüsseln, was er sah. Es war fast wie damals, als er zum ersten Mal mit angesehen hatte, wie sein Freund Chip mit seinem Marker verschmolz und es den Anschein hatte, als würde Chip verschwinden, obwohl es in Wirklichkeit nicht stimmte.

Ach so, dachte Jonas.

John White hatte die Augen geschlossen.

Aber sein Marker hatte sie geöffnet.

Jonas drehte sich zu Katherine um.

»Wie ist das möglich?«, fragte er. »Ist er mit seinem Marker zusammen oder nicht?«

»Sag du's mir«, erwiderte Katherine. Sie schluckte schwer. Das Lachen war aus ihrer Stimme verschwunden.

»Da stimmt etwas nicht«, sagte Jonas. »So funktionieren Marker nicht.«

Es war verstörend, den alten Mann gleichzeitig vor sich hin schauen und friedlich schlummern zu sehen. Als sähe man doppelt oder ein mehrfach belichtetes Foto.

Oder einen riesigen Zeitfehler.

»Es war unheimlich genug, mit anzusehen, wie sich Chip und Alex mit ihren Markern verbunden haben, obwohl wir weiter ihre Klamotten und ihre Haare erkennen konnten«, sagte Katherine. »Und dass sie manchmal ein anderes Alter hatten als ihre Marker. Aber das hier ist derselbe Mann, in denselben Klamotten, am selben Ort. Warum kann er nicht komplett mit seinem Marker verschmelzen?«

»Es muss damit zu tun haben, dass der echte Mann sich am Kopf verletzt hat«, meinte Andrea bedrückt.

»Oder . es schützt ihn davor, sich fragen zu müssen, warum er die Marker nicht sehen kann«, mutmaßte Jonas.

»Im fünfzehnten Jahrhundert haben sich echte Menschen auch in der Nähe von Markern aufgehalten und keiner von ihnen war halb wach und halb weggetreten«, wandte Katherine ein.

John White sagte etwas zu einem der Markerjungen, doch obwohl er die Lippen bewegte, gab er keinen Laut von sich.

»Wir können ihn auch nicht hören?«, fragte Jonas. »Aber ich dachte -«

»Manchmal können wir es«, sagte Andrea. »Katherine und ich glauben, dass es nur passiert, wenn er etwas ausspricht, was beide denken, wenn er mit seinem Markergehirn und seinem echten gleichzeitig denkt. Vor einer Minute hat er noch davon gesprochen, wie heiß es ist.«

Jonas schüttelte den Kopf. John Whites seltsamer Blick machte ihm mehr zu schaffen, als er zugeben wollte.

»Andrea, als der mysteriöse Unbekannte im einundzwanzigsten Jahrhundert in dein Zimmer kam und dich überredet hat den Definatorcode zu ändern, hat er da wirklich nicht erwähnt, dass die Marker sich dann vielleicht seltsam benehmen?«, fragte Jonas.

»Er hat mir nur erzählt, wie ich meine Eltern retten kann«, sagte Andrea eisig. »Das habe ich dir doch gesagt.«

Jonas grübelte verzweifelt nach einer anderen Lösung.

»Na ja . vielleicht ist es trotz allem normal und wir haben einfach nicht genug Erfahrung mit Markern, um das zu wissen«, sagte er und dachte angestrengt nach. »Erinnerst du dich noch, wie die Attentäter 1483 Chip und Alex geschnappt haben? Alex hat sich gewehrt und wild um sich getreten, aber sein Marker hat geschlafen. Das ist mehr oder weniger das Gleiche. Nur dass es sich mit Schlafen und Wachsein umgekehrt verhalten hat.«

»Aber das war nur für ein paar Sekunden«, wandte Katherine ein. »John White und sein Marker sind schon den ganzen Morgen in diesem Zustand. Seit Andrea und die Markerjungen ihn nach draußen gezogen haben. Es fühlt sich an wie . ein Dauerzustand. Als ob er feststeckt.«

Hatte der mysteriöse Unbekannte das vielleicht geplant?, fragte sich Jonas. Seine Absicht vom Vorabend, den mysteriösen Unbekannten auszutricksen, kam ihm jetzt ziemlich naiv vor. Jonas verstand die Strategie ihres Gegners nicht im Mindesten.

Sein Magen knurrte und erinnerte ihn daran, dass sie seit, nun ja, Jahrhunderten nichts mehr gegessen hatten.

»Vielleicht können wir besser nachdenken und der Sache auf den Grund gehen, wenn wir uns ein bisschen was von ihrem Essen einverleiben«, schlug er vor.

»Tolle Idee«, sagte Katherine. »Nur glaube ich, dass es das Reh ist, das sie gestern erschossen haben. Für uns ist es immer noch am Leben und läuft durch den Wald. Willst du vielleicht mit Pfeil und Bogen auf die Jagd gehen?«

»Wir haben weder Pfeil noch Bogen«, stellte Andrea klar. »Nur die Marker.« Völlig entmutigt warf sie sich neben John White auf die Erde. »Wir haben gar nichts.«

»Moment, da war eine Melone in der Hütte, in der ich das andere Reh entdeckt habe«, erinnerte sich Jonas, um überhaupt etwas anzubieten. Die Melone hatte am Vortag schleimig und wenig einladend ausgesehen, doch sie war das einzig Essbare, das ihm in den Sinn kam.

Jonas stand auf und ging in die Hütte, in der er das Reh aufgeschreckt hatte. Melonenranken schlängelten sich über den Boden, die Blätter waren blass und welk von der Düsternis. Das einzige Licht fiel durch schadhafte Stellen im Dach. Jonas bückte sich, um unter den

Blättern nachzusehen. Jedes Mal, wenn er ein Blatt anhob und dann wieder fallen ließ, verband es sich in Windeseile wieder mit seinem Marker. Wenigstens gehorchen die Blätter den Gesetzmäßigkeiten der Marker, dachte Jonas. Er entdeckte die Überreste der Melone, von der das Reh gefressen hatte, doch sie waren so weich, dass sie ihm wie Schleim an der Hand kleben blieben, als er sie unabsichtlich berührte.

»Irgendwas gefunden?«, fragte Katherine hinter ihm.

Jonas wischte die Hand an einem Blatt ab und entdeckte darunter eine harte grüne Melone von der Größe eines Baseballs.

»Nur die hier«, sagte er und hielt sie hoch.

»Besser als nichts, nehme ich an«, sagte Katherine. »Wir können sie an einem Stein aufschlagen und in drei Teile teilen.«

»In vier«, korrigierte sie Andrea von draußen. »Mein Großvater braucht auch etwas Richtiges zu essen.«

Jonas war sich nicht sicher, wie die Ernährungsvorschriften von jemandem aussahen, der teilweise mit seinem Marker verbunden war und teilweise nicht. Er betrachtete die Melone in seiner Hand. Unabhängig davon, ob jeder von ihnen ein Drittel oder ein Viertel bekam, sie würde nicht reichen.

»Bist du sicher, dass es nicht mehr davon gibt?«, fragte Katherine.

Jonas fuhr durch die blassen, anämisch wirkenden Blätter und es entstand ein wogender Teppich aus noch blasseren Markerblättern.

»Siehst du irgendwas, was ich übersehen habe?«, frag-te er spitz. »Himmel, nicht mal eine komplette Markermelone ist noch übr-« Er brach ab und durchsuchte die Blätter noch einmal. Er hob das schleimige Blatt an, unter dem er die Melone gefunden hatte.

Das Blatt selbst entwickelte auf der Stelle einen Marker, doch darunter befand sich keine Markermelone.

Jonas schob die umliegenden Blätter beiseite. Er entdeckte die Überreste der verfaulten Melone, von der das Reh gefressen hatte. Ein schmaler Leuchtstreifen aus Markerlicht überzog die Oberseite, von der Jonas beim Berühren etwas abgestreift hatte. Doch von der kleinen grünen Melone, die er in der Hand hielt, gab es keinen Marker.

»Sie dürfte gar nicht hier sein«, sagte er mehr zu sich selbst als zu Katherine. »Vielleicht stammt sie nicht mal aus dieser Zeit. Ich habe sie von der Stelle bewegt und sie hat keinen Marker hinterlassen.«

Er drehte die Melone um und um. Ihre Oberfläche war rau und gerippt bis auf eine Stelle, an der sich die Netzstruktur anfühlte, als habe man sie förmlich in die Schale geritzt.

Nein, dachte Jonas. Das sind keine Furchen. Das sind Buchstaben. Worte.

Er drehte die Melone um, sodass die Buchstaben richtig herum standen. Jetzt konnte er die grobe Schrift entziffern:

ESST. GEHIESST. IHR MACHT DAS TOLL. KANN NICHT MEHR SAGEN.

ZWEI

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