Einundvierzig

Zwei drückte mit dem Daumen auf das Ding in seiner Hand. Vielleicht war es eine Stoppuhr?

»Wow«, sagte er. »Sechsunddreißig Sekunden daneben. Ich lasse wirklich nach. Oder ihr beide.«

»Dann stimmt es also?«, fragte Katherine. »Sie arbeiten für HK?«

»HK unterschreibt meine Gehaltsschecks«, sagte Zwei, dessen arrogantes Grinsen wieder da war.

»Dann . wusste er die ganze Zeit über, was mit uns geschieht?«, fragte Jonas. Es fiel ihm schwer, das zu glauben. »Er wusste von Anfang an, dass Andrea den Definator verstellen würde, dass wir den Kontakt verlieren, John White retten und . auf das hier zusteuern würden?« Ohne aufzusehen, deutete er auf die anderen und auf Andreas Großvater, die immer noch unten beim Kanu waren.

»Sagen wir einfach, HK lässt einem als Chef ziemlich freie Hand«, sagte Zwei. »Ihm geht es nur ums große Ganze und weniger um die winzigen Details auf dem Weg dahin. Er sieht den Wald, aber nicht die einzelnen Bäume. Die überlässt er mir.«

Jonas hatte nicht den blassesten Schimmer, was all das zu bedeuten hatte. Er musste ununterbrochen daran denken, wie sicher er sich in jener Hütte auf Roa-noke gewesen war, dass HK keine Ahnung hatte, wo sie waren. Hatte er ihnen nicht versichert, dass sie diesmal alle auf der gleichen Seite stünden, als er ihnen ganz am Anfang die Hand geschüttelt hatte? Dass es bei dieser Reise keine Geheimniskrämerei geben würde?

Nein, begriff Jonas da. Das hat HK nicht gesagt. Er hat gesagt, dass es keine »unnötige« Geheimniskrämerei geben wird.

Jonas fühlte sich betrogen. Wie Andreas Großvater mitten in einem seiner Albträume wollte er losschreien: »Schwindel! Verrat! Betrug!«

»Aber . aber . beim großen Ganzen geht es doch darum, dass Andrea die Geschichte verändert hat«, wandte Katherine ein. »HK will die Geschichte aber nicht verändern. Er will die Kinder dahin zurückbringen, wo sie hingehören, damit die Geschichte ihren vorgesehenen Verlauf nehmen kann.«

»Glaubt ihr wirklich, HK wäre immer noch der strenge Zeitapostel, der er war, als ihr ihn kennengelernt habt?«, fragte Zwei. »Glaubt ihr, wenn er das geblieben wäre, hätte er zugelassen, dass ihr Chip und Alex aus dem fünfzehnten Jahrhundert rettet?« Zwei grinste höhnisch. »Wisst ihr denn nicht, dass Leuten bei Waisenkindern und Hunden das Herz dahinschmilzt wie Butter in der Sonne?«

Er zeigte auf Andrea und Dare, aber Jonas ließ ihn nicht aus den Augen.

»HK hätte nie zugelassen, dass Sie Andrea Essen mit Anabolika geben«, sagte er.

»In ihrem Pellet war kein Anabolikum. Es war einfach nur etwas zu essen«, sagte Zwei.

»Aber die Art, wie sie gepaddelt hat«, wandte Jonas ein, »als sie das Markerkanu einholen wollte .«

»Sie war einfach nur entschlossen. Sehr, sehr dickköpfig und wild entschlossen«, sagte Zwei. »Genau wie du, als die Pellets aufgetaucht sind. Du warst so entschlossen, mir eins auszuwischen, indem du sie nicht isst, dass du sogar deinen Hunger vergessen hast. Und das hat dir über die Runden geholfen, bis es den Fisch gab.«

Jonas zuckte zusammen. Zwei hatte völlig recht. Genauso hatte er sich gefühlt.

»Ich muss zugeben, dass ich das Pellet, das Andrea, wie ich wusste, mit Sicherheit John White geben würde, ein wenig präpariert habe«, gestand Zwei. »Es enthielt ein Betäubungsmittel, um sicherzustellen, dass er nicht zu früh aufwacht. Und obwohl ihm die Arznei aus dem Pellet geholfen hat, hat sie es erst einmal so aussehen lassen, als ob es ihm schlechter ginge.«

Jonas blieb der Mund offen stehen.

»Warum haben Sie das getan? Andrea war so in Sorge um ihren Großvater!«, protestierte er.

»Und so überzeugt davon, dass er unbedingt mit seinem Marker zusammenbleiben muss«, fügte Zwei hinzu und grinste wieder. »Letztendlich war es zu ihrem eigenen Besten.«

Jonas sah ihn wütend an.

»Und was ist mit den Farbtöpfen, die Sie in der Hütte zurückgelassen haben?«, fragte Katherine. »Was sollte das?«

»Nun ja . John White kann die Farben gebrauchen, weil ein paar seiner eigenen durch das Salzwasser Schaden genommen haben«, erklärte Zwei. »Aber vor allen Dingen hat ihr Auftauchen Jonas so wütend gemacht, dass er Roanoke um jeden Preis verlassen wollte, selbst wenn er dafür einen Baum hätte aushöhlen müssen.« Zwei kicherte nicht eben freundlich. »Männliche Teenager sind wirklich leicht zu manipulieren.«

Das machte Jonas noch wütender. Wenn die Farbtöpfe nicht gewesen wären, hätte er sich mehr Gedanken darüber gemacht, ob es wirklich so wichtig war, John White mit seinem Marker zusammenzulassen. Dann hätte er selbst mehr über das große Ganze nachgedacht.

Wahrscheinlich hat Zwei vorhergesagt, dass ich jetzt wütend bin, schäumte er innerlich. Er zwang sich, den Anschein von Gelassenheit zu erwecken.

»Irgendwas ist an der Sache immer noch seltsam«, murmelte Katherine.

»Stimmt . Was war los, als Antonio in die Zeit zurückgekehrt ist?«, fragte Jonas. »Als er . auf mich drauffiel. Ich wette, davon hat HK nichts gewusst und er hat es weder gewollt noch erlaubt. Das war verkehrt, hab ich recht?«

»Verkehrt würde ich nicht sagen«, meinte Zwei. Zum ersten Mal wirkte sein Blick unstet und er vermied es, Jonas in die Augen zu sehen. »Es war ein wenig unkonventionell . ein klitzekleines Risiko . Na schön, diese

Art von Wiedereintritt ist noch nie ausprobiert worden. Man nennt es einen Zeitschlag. Es war die einzige Möglichkeit, die Zeit gerade so weit auszudehnen, dass es zu einer Verschiebung kommt und die Verbindung zwischen Brendan und Antonio und ihren Markern gelockert wird ...«

Ich traue ihren Markern nicht, hatte Katherine erst am Abend zuvor gesagt. Sie hatte recht gehabt. Sie waren nicht vertrauenswürdig. Aber das war wirklich nicht ihre Schuld.

»Also habe ich mit der Zeitverschiebung einen kleinen Zeitschlag ausgelöst. Was gibt euch das Recht, mich dafür an den Pranger zu stellen?«, fragte Zwei. »Es ist doch alles wunderbar! John White trifft endlich seine Enkeltochter! Und alles findet ein glückliches Ende!«

»Ist das ein Ende - oder erst der Anfang?«, wollte Katherine wissen.

»Oh, sehr gut!« Wieder strahlte Zwei. »Du hast ja so recht. Selbst durch diese eine winzige Veränderung ergeben sich so viele Möglichkeiten . Jetzt, wo seine Enkelin bei ihm ist, hat John White einen Grund, weiterzuleben. Gesund zu werden. Und er wird weiterzeichnen. Schon in sieben Jahren wird es einen neuen englischen Siedlungsversuch in Jamestown geben. Was ist, wenn John Whites neue Zeichnungen nach Jamestown gelangen und von dort nach England? Wenn sie dazu beitragen, die Sicht der Engländer auf Amerika zu verändern? Wenn John White und Virginia Dare in Jamestown mithelfen die Kluft zwischen Engländern und Ureinwohnern besser zu überbrücken als eine Horde schießwüti-ger, hungriger Soldaten? Wenn es auf beiden Seiten endlich so etwas wie Respekt gäbe?«

Jonas sah wieder zu Andrea und den anderen hinüber. Ihm stockte der Atem.

»Und was ist, wenn Ihre wunderbare Zeitverschiebung alles ruiniert?«, fragte er.

Er streckte den Arm aus.

Andrea war noch immer über ihren Großvater gebeugt und berührte zärtlich sein Gesicht. Brendan und Antonio standen in nächster Nähe und sahen mit ernsten Gesichtern auf das wiedervereinte Paar. Das war nicht allzu seltsam. Vielleicht waren die vier von diesem Augenblick so erschüttert, dass sie einfach innehalten und sich für längere Zeit nicht bewegen wollten. Doch es waren nicht nur sie, die regungslos verharrten. Dares Leib hing gekrümmt und im Sprung erstarrt über dem Kanu. Ein über sie hinwegfliegender Vogel verharrte mit ausgebreiteten Flügeln, aber völlig bewegungslos in der Luft. Selbst die Wellen hinter dem Kanu schwappten nicht länger auf den Sand, ihre Kämme und Täler waren erstarrt und regungslos. Es war völlig unmöglich und dennoch wahr: Abgesehen von der kleinen Gruppe aus Jonas, Katherine und Zwei war die ganze Welt stehen geblieben.

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