Zwei

Der »Fernsehbildschirm« wurde wieder zur blanken Wand.

»Andrea«, sagte HK beruhigend. »Ich weiß, es ist schwer zu begreifen, aber du bist wirklich Virginia Dare. Das erste englische Kind, das in der sogenannten Neuen Welt geboren wurde. Willst du den DNA-Beweis sehen?«

»Fantastisch«, redete Katherine dazwischen. »Ich wäre wahnsinnig gern Virginia Dare. Du bist so was wie das berühmteste Rätsel der amerikanischen Geschichte.« Sie sah zu HK auf. »Also, was ist aus Virginia Dare geworden? Ich meine - was soll mit ihr geschehen?«

Jonas hätte seiner Schwester am liebsten einen Tritt verpasst. Vielleicht konnte er seinen Sessel dazu bringen, das zu tun, wenn er es richtig anstellte. Sah Kathe-rine denn nicht, dass die Neuigkeit, wer sie wirklich war, Andrea regelrecht traumatisierte? Begriff sie nicht, wie hart es für Andrea sein musste, zu wissen, dass sie gar nicht die war, für die sie sich immer gehalten hatte?

Natürlich nicht. Katherine war kein verschollenes Kind der Geschichte. Sie war nicht adoptiert worden wie Andrea und Jonas. Sie hatte immer gewusst, dass Mom und Dad ihre richtigen Eltern waren, in jeder Hinsicht.

Sie hatte ihre eigene Identität nie in Zweifel ziehen müssen.

HK ignorierte Katherines Frage.

»Andrea?«, sagte er wieder.

Jonas, der sie nicht aus den Augen ließ, sah, wie sich eine Art Maske über ihr Gesicht legte. In einem Moment sah sie fuchsteufelswild aus, als könnte sie gleich wieder losschreien, vielleicht sogar jemanden angreifen. Und im nächsten Augenblick war ihr Gesicht glatt und leer, ohne jeden Ausdruck.

»Tut mir leid«, sagte sie sanft und lehnte sich in ihren Sessel zurück. »Ich war nur - tut mir leid. Sie können weitermachen.«

»Warte«, sagte HK. »Ich weiß, was wir dir zeigen sollten. Vielleicht die direkte Gegenüberstellung?«

Das mussten Anweisungen für den Fernsehbildschirm gewesen sein. Wieder erschien ein Bild auf der gegenüberliegenden Wand. Dieses Mal war die neugeborene Virginia Dare, ein rotgesichtiger Säugling, noch deutlicher zu sehen. Es dauerte einen Moment, ehe Jonas begriff, dass das Baby in einer seltsamen Zeitraffertechnik vor seinen Augen aufwuchs. Nach etwa einer Minute verdunkelte sich der Bildschirm. Die nächste Aufnahme zeigte offensichtlich das gleiche Baby, das diesmal jedoch ein Mickymaus-T-Shirt trug.

Das Baby wuchs weiter und wurde zu einem Kleinkind mit Elmo-Sweatshirt, zu einem Kindergartenkind, das ein Märchenbuch durch die Gegend schleppte, zu einer Sechs- oder Siebenjährigen mit einem Fußball in der Hand. Die Aufnahmen folgten so schnell aufeinan-der, dass sie miteinander verschmolzen. Jonas hätte nicht sagen können, ab wann das Kind eindeutig als Andrea zu erkennen war - mit acht vielleicht? Neun? Sie wuchs weiter, veränderte sich, reifte heran. Auf den letzten vorbeihuschenden Aufnahmen veränderte sich Andreas Aussehen erneut, diesmal noch drastischer als beim Sprung vom Säugling im altmodischen Nachtkleid zum Baby im Mickymaus-T-Shirt. Andrea wirkte auf sämtlichen Bildern nur noch traurig und verschlossen.

Die letzte Aufnahme hätte ohne Weiteres von einem Spiegel stammen können, hätte Andrea, so wie sie im Augenblick war, in einen hineingesehen: bekleidet mit einem unscheinbaren grauen Sweatshirt über einem T-Shirt und Shorts (was Jonas ein wenig merkwürdig fand, da es zu Hause November gewesen war). Auf dem Bild wie in der Wirklichkeit fielen ihr die Haare lang und glatt über die Schultern. Sie hatte die Lippen vorgeschoben, die Zähne zusammengebissen und die Augen zu Schlitzen verengt.

»Stark!«, entfuhr es Katherine, die alles vergaß und wieder auf ihrem Sessel herumhopste. »Echt cool! Könnt ihr das auch für mich machen? Zeigen, wie ich mich seit meiner Geburt verändert habe, meine ich?«

»Im Augenblick nicht, Katherine«, sagte HK. Er beobachtete Andrea. Er berührte ein Bedienelement an der Wand und die letzte Aufnahme von Andrea als Virginia Dare erschien wieder: ein Baby mit Häubchen und spitzenverziertem Nachthemd. Daneben platzierte er das Bild von der kleinen Andrea im Mickymaus-T-Shirt. Dann vergrößerte er den Ausschnitt und zeigte die auf

Andreas Babybildern abgebildete Umgebung. Auf beiden Aufnahmen wurde sie von einer Frau im Arm gehalten: links von Mistress Dare, jetzt mit schmalem, verhärmtem Gesicht, die ihre Tochter aber dennoch liebevoll anblickte; rechts von einer kleinen, muskulösen Frau mit Locken, die lächelnd auf das Baby in ihren Armen herabblickte.

Auf beiden Bildern wirkte die kleine Andrea so glücklich, dass Jonas sie praktisch glucksen hören konnte.

»Das könnten Sie auch mit Trickaufnahmen gemacht haben«, sagte Andrea angespannt. »Vielleicht haben Sie ja mit Photoshop gearbeitet.«

»Du weißt, dass wir das nicht getan haben«, entgegnete HK.

Eine einzelne Träne rollte Andrea über die Wange. Jonas' Erfahrung mit weinenden Mädchen beschränkte sich mehr oder weniger auf Katherine, die zu dramatischen Ausbrüchen neigte: »Oh-das-ist-ja-so-unfair!« In der fünften Klasse hatte sie Probleme mit einigen Freundinnen gehabt, die gemein zu ihr gewesen waren, und ihm war es vorgekommen, als hätte sie wochenlang Abend für Abend das Haus mit ihrem Geschluchze erfüllt: »Wie konnte sie das nur zu mir sagen! Warum-sagt-jemand-nur-so-etwas?«

Jonas hatte ein ziemliches Talent dafür entwickelt, diese Dinge auszublenden. Aber Andreas Träne machte ihm zu schaffen. Sie wirkte so viel trauriger und weckte in ihm den Wunsch zu helfen.

Schon wischte sie die Träne ungeduldig fort, als wollte sie nicht eingestehen, dass sie überhaupt da war.

»Ersparen Sie mir das«, sagte sie. »Schicken Sie uns einfach zurück. Jetzt gleich.«

Ihre Stimme klang hart. Sie hätte eine Königin sein können, die eine Hinrichtung anordnete oder Soldaten befahl in den Krieg zu ziehen.

»Äh, Andrea, das halte ich für keine gute Idee«, wandte Katherine ein. »Jonas und ich werden zwar da sein, um dir zu helfen, aber wenn wir uns in einem anderen Jahrhundert aufhalten wollen, ist es wahrscheinlich gut, so viel wie möglich im Voraus zu erfahren.«

Daran erkannte Jonas, dass sogar Katherine Angst hatte. Vielleicht hoffte auch sie, dass es noch eine Möglichkeit gab, nicht in die Vergangenheit zurückkehren zu müssen.

»HK kann uns doch sagen, was wir wissen müssen, sobald wir dort ankommen, oder nicht?«, schlug Andrea vor, immer noch mit ausdrucksloser Miene.

»Das könnte ich machen«, sagte HK. »Ich werde ständig über den Definator mit euch in Verbindung bleiben.«

Jonas schnitt eine kleine Grimasse, als er daran dachte, wie viel Ärger er, Katherine und ihre beiden Freunde im fünfzehnten Jahrhundert mit einem Definator gehabt hatten. Die Tatsache, dass er immer noch nicht genau wusste, wie das Gerät funktionierte, war Teil dieses Problems. Es war ein Zeitreiseinstrument aus der Zukunft, das wesentlich mehr zu leisten imstande war als alles, was Jonas je gesehen hatte. Dabei nahm es jeweils die Gestalt ganz normaler Gegenstände der Epoche an, in der es sich gerade befand. Im einundzwan-zigsten Jahrhundert hatte es meist wie ein iPhone ausgesehen.

Im fünfzehnten Jahrhundert hatte es einem Stein geglichen. Dennoch war es in der Lage gewesen, Mittelenglisch zu übersetzen, mit HK zu kommunizieren, Jonas, Katherine und ihre Freunde unsichtbar zu machen und - ach ja - seinen Freund Chip derart auf die Palme zu bringen, dass er das Gerät quer durchs Zimmer geschleudert hatte.

Jonas überlegte, wie er die Probleme mit dem Defina-tor ansprechen sollte, ohne in Andreas Augen wie ein Feigling dazustehen oder ihr Angst einzujagen. Doch sie griff HKs Bemerkung bereits auf.

»Na schön«, sagte sie. »Dann geben Sie uns den Definator und wir machen uns auf den Weg.« Sie setzte sich gerade hin und ihr Sessel richtete sich ebenfalls auf, dass Jonas an eine Vogelmutter denken musste, die ihre Jungen aus dem Nest schubst.

»Ich halte das nicht für die beste -«, setzte HK an. Dann verstummte er und sein Gesicht nahm einen verblüfften Ausdruck an. Nicht länger an Andrea gewandt, drehte er sich leicht zur Seite. »Wirklich? Bist du sicher?«

Er ging ein paar Schritte zur Seite, wie jemand, der plötzlich von einem Anruf auf dem Headset unterbrochen wird. Natürlich konnte Jonas rings um HKs Ohren nicht die Spur eines Headsets erkennen. Doch in seinem Zeitalter wären sie wahrscheinlich mikroskopisch klein, nahm er an.

»Ja? Ja? Und die Berechnung hast du durchgeführt?

Gerade eben?« HK schwieg einen Moment. »Schon gut, Sam, ich weiß, dass es deine Aufgabe ist, an alles zu denken, aber trotzdem ... das ging schnell.« Wieder eine Pause. »Ach so, als Katherine gefragt hat, nicht Andrea. Das erklärt es schon eher.« Er wartete und lachte dann gequält. »Nein, natürlich denke ich an den Hund.«

HK wandte sich wieder an das Trio.

»Ich wurde korrigiert«, erklärte er. »Mein Top-Analyst sagt, es wäre tatsächlich am besten, wenn wir euch sofort losschicken und ins Bild setzen würden, sobald ihr da seid. Das erscheint mir zwar nicht eingängig, aber das ist bei Berechnungen nichts Ungewöhnliches.«

»Berechnungen?«, fragte Andrea nervös.

»Vorausberechnungen«, erklärte HK. »Vorhersagen. Unsere Zeitanalysten überprüfen vor jeder Reise sämtliche Variablen, die ihnen einfallen, und ebenso viele Kombinationen von Variablen, um festzustellen, was zum besten Ergebnis führen könnte.«

»Aber«, wandte Jonas ein, »du hast doch gesagt, dass die Berechnungen nicht immer .« Er klappte den Mund zu, bevor das letzte Wort herausrutschen konnte. Es lautete »stimmen«, dass die Berechnungen nicht immer stimmen, hatte HK zu ihnen gesagt. Doch er wollte Andrea keine Angst einjagen. Also beendete er den Satz lahm mit: ». dass Vorausberechnungen nicht immer ... viel Sinn ergeben.«

»Genau«, sagte HK. »Nur deshalb schicken wir Andrea mit zwei nicht ausgebildeten Kindern zurück. Ich hätte nie gedacht, dass ich so etwas noch einmal tun muss. Dieses Mal braucht ihr keine besondere Klei-dung, aber dafür .« Er machte die Tür auf, wie er es schon einmal getan hatte, und pfiff in den Gang hinaus. »Komm her, mein Junge!«, rief er. »Hierher, Dare!«

Ein zottiger Bobtail trottete in den Raum.

»Oh!«, sagte Andrea, offensichtlich überrascht.

»Hat HK dir das nicht gesagt?«, fragte Katherine. »Eine Vorausberechnung der Experten hat ergeben, dass es die einzige Kombination ist, mit der wir Erfolg haben können: Wenn du, ich und Jonas zusammen mit dem Hund in die Vergangenheit reisen.«

»Äh, na gut«, sagte Andrea.

HK verdrehte die Augen.

»Ich habe noch nie ein Haustier auf Zeitreise geschickt, das könnt ihr mir glauben«, sagte er. »Mal ehrlich: drei Kinder und ein Hund? Jeden anderen, der mir das empfiehlt, hätte ich für verrückt erklärt. Aber Sam ist der genialste Zeitanalyst, mit dem ich je zusammengearbeitet habe, also ... darf ich vorstellen? Das ist Dare. Euer vierter Reisegefährte.«

Der Hund trottete geradewegs zu Andrea hinüber und legte ihr den schweren Kopf in den Schoß. Mitleidig sah er zu ihr auf, als wüsste er, dass sie eben noch geweint hatte, als verstünde er alles und würde bereitwillig sein Leben für sie geben, wenn es ihr dadurch besser ging.

Wie machen Hunde das bloß?, fragte sich Jonas. Er fürchtete, dass die Hundeaugen Andrea wieder zum Weinen bringen könnten, doch sie vergrub einfach ihr Gesicht im Fell und umarmte das Tier.

»Schön, dich kennenzulernen, Dare«, murmelte sie und Jonas fiel auf, dass sie dabei fröhlicher klang als bei ihrem Wiedersehen mit ihm und Katherine. Dann hob sie den Kopf und sah wieder zu HK auf.

»Und der Definator?«, fragte sie.

HK zog etwas aus seiner Gesäßtasche; anscheinend imitierte der Definator derzeit das Aussehen eines extrem kleinen Handys. HK drückte ein paar Knöpfe auf dem »Telefon« und schob es in ein Täschchen an Dares Halsband.

»Alles klar«, sagte er. »Wir sprechen uns, wenn ihr dort seid. Ihr müsst nichts weiter tun, als euch unterzuhaken und an Dares Halsband festzuhalten.«

Er wartete, bis sich die drei aufgestellt hatten. Jonas hoffte ein klein wenig, den Platz neben Andrea zu ergattern, doch am Ende stand Katherine in der Mitte. HK streckte die Hand nach unten und berührte etwas auf dem Definator. »Drei, zwei, eins ... bon voyage!«

Der Raum verschwand.

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