Dreizehn

Jonas blieb kaum Zeit zum Nachdenken, ehe sich Andrea ins Wasser stürzte.

»Nein!«, schrie er ihr nach. »Das ist zu gefährlich!«

Er wusste, dass es andere Einwände gab, die er ihr hinterherrufen sollte - etwa dass sie die Zeit nicht verändern durften oder dass es womöglich eine Falle oder ein Trick des mysteriösen Unbekannten war. Doch die Wellen schleuderten sie so heftig herum, dass er vor Angst keine zwei Worte herausbrachte. Schon war sie unter Wasser, dann wieder an der Oberfläche, unter Wasser und wieder oben .

Neben ihm bellte Dare nun ungestüm Andrea hinterher. Der Hund steckte eine Pfote ins Wasser, wurde von einer riesigen Welle erwischt und wich winselnd zurück.

»Du bist mir eine schöne Hilfe«, murmelte Jonas. Er ließ das Sweatshirt fallen, das er in der Hand hielt, formte die Hände vor dem Mund zu einem Trichter und schrie: »Andrea! Komm zurück!«

Diese wandte sich kurz um - vielleicht, um etwas zurückzurufen -, ehe sie von einer Welle seitlich umgeworfen wurde und mit einem Überschlag unterging.

Sie tauchte nicht wieder auf.

»Andrea!«, schrie Jonas.

Er warf sich in die Fluten und hielt verzweifelt auf die Stelle zu, an der Andrea verschwunden war. Seine Schuhe und Kleider sogen sich in Sekundenschnelle voll Wasser und zogen ihn hinab. Aber ihm blieb keine Zeit, nicht einmal, um sich die Turnschuhe von den Füßen zu reißen. Beharrlich drängte er vorwärts, auch wenn auf dem Wasser vor ihm nun alles gleich aussah. Er wusste nicht mehr, wo Andrea verschwunden war. Er fasste hinab und seine Finger streiften etwas Weiches -Seetang? Oder Andreas Haar?

Jonas trat kräftig mit den Beinen, reckte den Kopf, so weit es ging, aus dem Wasser und versuchte tief Luft zu holen, ehe er hinabtauchte, um nach Andrea zu suchen.

Der Wind schien seinen Namen zu rufen.

»Jonas! Jonas!«

Er sah nach rechts. Es war Andrea.

»Schwimm ... parallel... Ufer!«, rief sie.

Ach ja. Das kannte Jonas. So sollte man sich verhalten, wenn man in eine Unterströmung geriet.

Er war sich nicht sicher, ob das, was an ihm zerrte, wirklich eine Unterströmung war oder einfach nur das Gewicht seiner schweren, vollgesogenen Kleidung. Trotzdem schwamm er in einer Art gemäßigtem Hunde-paddelstil auf Andrea zu.

»Es kommt näher!«, rief sie.

Jonas brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass sie das Boot meinte. Es kam nicht einfach nur näher, es ragte turmhoch über ihnen auf. Je nachdem, wie die

Welle brach, konnte es jeden Augenblick auf sie niederstürzen.

»Pass auf!«, schrie Jonas im gleichen Augenblick, als Andrea »Der Mann!« rief.

Jonas drehte sich kurz zum Boot um und gewahrte für einen flüchtigen Moment die Hand eines Mannes, die sich an eine der zersplitterten Planken klammerte.

»Hier lang«, rief Jonas und bekam eine Ladung Salzwasser ins Gesicht. Er hatte das Gefühl, als wäre ihm ein ganzer Eimer voll in den offenen Mund gelaufen. Er spuckte und hustete, schaffte es aber dennoch, Andrea am Arm zu packen und sie in Richtung Ufer zu schubsen. Dabei wurde er selbst zurückgeworfen und war kaum in der Lage, den Kopf über Wasser zu halten.

Die Wellen türmten sich immer höher und schließlich schleuderten sie das Boot herab.

Es landete nicht auf Jonas, sondern auf einer Felsformation, von der er nicht einmal etwas geahnt hatte. Das Boot zerschellte auf der Stelle und barst in einem Schauer aus zerbrochenen Holzplanken. Jetzt musste sich Jonas nicht mehr nur vor einem einzelnen Boot in Acht nehmen, sondern vor Dutzenden scharfkantiger Trümmerteile, die die Wellen um ihn herum pausenlos hin- und herwarfen.

Und Andrea schwamm geradewegs in die Trümmer hinein.

»Nein! Nicht!«, brüllte Jonas.

»Aber er ist hier!«, schrie Andrea zurück.

Sie hatte den Mann erreicht, der mitten in den Trümmern trieb. Es sah aus, als versuchte er zu schwimmen, doch dann erkannte Jonas, dass der Schein trog. Seine Arme und Beine bewegten sich einfach nur in der Strömung.

»Hilf... umdrehen!«, rief Andrea.

Mit leichter Verspätung fiel Jonas ein, dass er eigentlich wissen sollte, was in einer solchen Situation zu tun war. Er hatte im letzten Sommer im Schwimmbad einen Kurs für angehende Rettungsschwimmer besucht. Allerdings war es im Schwimmbecken immer ruhig und sicher gewesen. Sie waren einfach nur nacheinander ins friedliche blaue Wasser gesprungen, um einen vermeintlich in Gefahr schwebenden Übungsleiter zu »retten«, der wild mit den Armen schlug. Von gefährlichen Trümmerteilen, wogenden Wellen und einem echten bewusstlosen Opfer war keine Rede gewesen.

Jonas schüttelte den Kopf und versuchte sich zu konzentrieren.

»Hmpf... Achsel!«, schrie er Andrea zu. »Pack ihn unter der Achsel!«

Entweder konnte Andrea ihn nicht hören oder sie verstand ihn nicht. Jonas griff selbst nach dem Mann, zog ihn am Arm zu sich heran und drehte ihn mühsam um. Schließlich schob er ihm den Arm über die Brust und sie schaukelten gemeinsam in den Wellen. Seine Übungsleiter hätten vermutlich allesamt die Stirn gerunzelt und Jonas aufgezählt, was er alles falsch machte. Er wusste, dass er sich nicht an den Ertrinkenden klammern sollte, als wollte er sich den Auftrieb des Opfers zunutze machen, um sich selbst über Wasser zu halten. Außerdem gab es da etwas in Zusammenhang mit dem

Säubern blockierter Luftwege und dem Vergewissern, ob Mund-zu-Mund-Beatmung oder Wiederbelebungsversuche notwendig waren, an das er sich eigentlich erinnern müsste. Doch im Moment hatte er mehr als genug damit zu tun, selbst zu atmen beziehungsweise Luft einzuatmen und kein Salzwasser. Er konnte beides schon kaum noch auseinanderhalten.

»Vielleicht-können-wir-da-an-Land«, spotzte Andrea zwischen Wellen und Atemzügen.

Jonas blickte auf den Mann hinab, den er in den Armen hielt. Seine Brust hob und senkte sich, aber es war nicht zu erkennen, ob er selbstständig atmete oder ob sich sein Körper lediglich mit der Brandung bewegte, genau wie er selbst. Schleppgriff, ermahnte sich Jonas. Schwimm einfach wie vorgeschrieben in Seitenlage und denk an nichts anderes.

Er schaffte nur drei Armzüge, als ihm etwas auf den Kopf schlug, etwas, das aus der Luft kam, nicht aus dem Wasser.

Das geht wirklich zu weit, wollte Jonas schimpfen. Es kann doch nicht alles gefährlich sein!

Er wandte den Kopf und stellte fest, dass ein riesiger Ast ins Wasser gefallen war.

»Halt dich fest und klettere daran heraus«, schrie Katherine. »Nicht schwimmen! Klettern!«

Ach so .

Katherine hatte das andere Ende des Asts gepackt. Sie musste ihn ins Wasser geworfen haben.

Hatte sie etwa versucht ihn zu schlagen?

Nein, begriff Jonas dann. Sie wollte ihm helfen. Der

Ast bot einen wunderbaren Halt, während das Wasser sich alle Mühe zu geben schien, ihn und den bewusstlosen Mann gegen die Felsen zu schleudern. Wenn er sich am Ast festhielt, schaffte er es vielleicht, sich aufzurichten. Er klemmte einen Fuß zwischen zwei Steine und rief Andrea zu: »Hilf mir, den Mann an Land zu ziehen!«

Auch sie packte den Ast. Zu zweit schafften sie es, den Mann ans Ufer zu zerren. Als sie schließlich trockenen Boden erreichten, ließ Katherine den Ast los und half den beiden den Mann aus dem Wasser zu bugsieren. Völlig erschöpft ließ sich Jonas ins raue Gras fallen. Andrea dagegen beugte sich über den Bewusstlosen, legte ihm das Ohr auf die Brust und hielt ihm eine Hand unter die Nase.

»Erlebt!«, rief sie. »Er atmet!«

Jonas rührte sich nicht. Unter ihm schien sich alles zu drehen. Und über ihm jagten die Wolken mit erstaunlicher Geschwindigkeit über den Himmel. Die kontrastierenden Bewegungen - der sich drehende Boden und die jagenden Wolken - verursachten ihm Übelkeit, also machte er die Augen zu. Aber das fühlte sich an, als wäre er wieder im Wasser und werde von den Wellen hin- und hergeschleudert.

»Ihr habt ihm das Leben gerettet!«, sagte Katherine bewundernd aus der gleichen Richtung, aus der auch Andreas Stimme kam. »Du und Jonas. Ohne euch wäre der Mann ertrunken.«

... wäre der Mann ertrunken ...

... wäre der Mann ertrunken ...

Jonas zuckte zusammen, als er daran dachte, dass er noch kurz zuvor am Ufer gestanden und sich gefragt hatte, ob das gekenterte Boot vielleicht eine Falle oder ein Trick des Mannes war, der Andrea überredet hatte, ihre eigene Zeitreise zu sabotieren. Er hatte Angst gehabt, Andrea könnte ertrinken. Aber das hier war etwas anderes. Er und Andrea hatten soeben vorsätzlich den Lauf der Zeit verändert. Katherine hatte ein schlechtes Gewissen gehabt, weil ihretwegen ein herabfallender Kiefernzapfen an der falschen Stelle gelandet war. Und jetzt hatten sie einem Mann das Leben gerettet. Was war, wenn dieser Mann anfangen würde, die Geschichte noch weiter zu verändern? Vielleicht bekam er Kinder, die er nie hatte bekommen sollen, oder er machte sich auf und tötete jemanden, der eigentlich nicht sterben sollte; er könnte alles Mögliche tun.

Jonas war übel, aber er konnte nicht sagen, was ihm mehr zusetzte: der Gedanke, dazustehen und den Mann ertrinken zu lassen, oder der Gedanke, dass er vielleicht genau das hätte tun sollen?

Das Ganze war eine Falle, dachte er. Ein abgekartetes Spiel.

Als er im Jahr 1483 gewesen war, hatte Jonas HK vorgeworfen, Chips und Alex' Leben mehrfach aufs Spiel gesetzt zu haben. Aber selbst HK hätte Jonas und Katherine nicht in eine solche Zwickmühle gebracht.

»Unfair«, murmelte Jonas. »Das ist einfach unfair.«

Er hatte keine Ahnung, wie es vonstattengegangen war. Trotzdem war er überzeugt, dass der mysteriöse Unbekannte fest damit gerechnet hatte, dass er und An-drea sich genau in dem Moment am Strand befinden würden, als das Boot kenterte. Er hatte damit gerechnet, dass sie eine Entscheidung würden treffen müssen.

Wusste er, wofür wir uns entscheiden würden?, fragte sich Jonas. Weiß er, welche Folgen es haben wird, dass der Mann nicht ertrunken ist? Arbeitet er auch mit Zukunftsberechnungen, so wie HK?

»Ist alles in Ordnung, Jonas?«, fragte Katherine.

Jonas merkte, dass er immer noch die Augen zusammenkniff. Außerdem bewegte er vermutlich die Lippen, wie ein Kind, das gerade lernt, lautlos zu lesen.

»Ja . ja .« Er wollte mit den anderen nicht über Tricks, Fallen und Zwickmühlen reden. Noch nicht. Er wollte auch nicht darüber reden, dass sie, indem sie dem Mann das Leben retteten, vielleicht die Zeit ruiniert hatten. Weil es nichts daran ändern würde, was sie von nun an taten. Sie würden den Mann sicher nicht ins Wasser zurückstoßen. Jonas schlug die Augen auf, räusperte sich und versuchte sich daran zu erinnern, wie man sich normal verhielt.

»Mir geht's gut«, sagte er zu Katherine. »Danke, dass du den Ast ins Wasser geworfen hast.«

»Stimmt«, pflichtete Andrea ihm bei. Sie wischte den Sand von einem riesigen Kratzer an ihrem Bein. »Das war wirklich clever. Wie bist du darauf gekommen?«

»Ach, ihr kennt mich doch. Ich bin nun mal genial«, erwiderte Katherine mit einem Grinsen. Sie hatte ihre Kraft nicht im Kampf gegen die Wellen aufgebraucht, daher blieb ihr genügend Reserve, um Scherze zu machen. Sie streckte einen Arm aus, legte sich die andere

Hand auf den Bauch und machte eine komische Verbeugung. »Danke. Vielen Dank.« Dann zuckte sie die Achseln. »Aber in Wirklichkeit bin ich nur darauf gekommen, weil ich gesehen habe, wie sie es gemacht haben.«

»Wer sie?«, fragte Jonas verblüfft.

Katherine zeigte bereits auf eine Stelle direkt hinter ihm.

»Na, die da«, sagte sie.

Jonas drehte sich um. Im Gras saßen die beiden Markerjungen, denen sie kurz zuvor begegnet waren.

Und zwischen ihnen lag die Markerversion des Mannes, den Jonas und Andrea gerade vor dem Ertrinken gerettet hatten.

Загрузка...