Sechsunddreißig


Jonas wirbelte herum und rannte zu den anderen zurück.

»He, Leute!«, sagte er. »Das müsst ihr euch ansehen!«

Er beschloss ihnen nicht zu sagen, was er herausgefunden hatte; er würde warten, welche Schlüsse sie zogen, sobald sie es gesehen hatten.

»Psst«, zischte Katherine. »Antonio und Brendan, also ihre Marker, sind am Überlegen, wie wir von der Insel kommen, ohne dass John White die Tierknochen sieht.«

»Wir sollten verhüten, dass er um das Böse weiß, das hier geherrscht hat«, sagte Antonio so, wie sein Marker es tun würde. »Es ist nicht so schlimm, wie wir erwartet haben, und er glaubt immer noch daran, dass er seine Familie wiederfindet, und er ist solch ein alter Mann .«

»Aber er ist ein Geistermann«, erwiderte Brendan mit seiner Markerstimme. »Geistermänner wissen nicht, dass es böse ist, unsere Brüder, die Tiere, nach dem Tod so zu behandeln. Es hat für ihn keine Bedeutung.«

Jonas hörte kaum hin, weil er nur an das frische Grab denken konnte. Wer lag darin? Wer hatte es angelegt? Brendan und Antonio hatten erzählt, dass sich die Indianer fürchteten, nach Croatoan zu kommen, also war es vermutlich niemand von ihnen gewesen. Und Andrea hatte gesagt, dass die Engländer nie auf Croatoan nach den Kolonisten von Roanoke gesucht hatten.

Jedenfalls nicht, soweit es in den Geschichtsbüchern festgehalten wurde, verbesserte sich Jonas. John White ist aber hier. Und für diese Abweichung können wir nicht einmal Zwei verantwortlich machen, weil sein Marker auch hier ist.

Zwei! Was war, wenn er jemanden getötet und auf Croatoan begraben hatte?

Jonas wurde ein wenig schwummrig, was nicht nur an der Hitze lag.

»Vielleicht ist es für den alten Mann beunruhigender, wenn wir ihm die Augen verbinden, als die entweihten Tierknochen zu sehen«, überlegte Antonio. »Fahren wir einfach weg und lassen diesen Ort hinter uns.«

»Nein, wartet!«, rief Jonas. »Es gibt etwas, das ich euch zeigen muss, ehe wir abfahren!«

Katherine, Andrea und selbst der Hund drehten sich zu ihm um. Antonio und Brendan dagegen blieben fest mit ihren Markern verbunden.

Plötzlich erstarrten sie. Sie rissen die Köpfe herum und sahen sich mit angsterstarrten Gesichtern um.

»Wir brechen sofort auf«, sagte Antonio knapp und Brendans Marker nickte.

Dann zog sich Brendan aus seinem Marker zurück, um die anderen zu informieren: »Es war ganz seltsam! Mein Marker glaubt, dass er einen Geist gehört hat, aber ich habe gar nichts gehört.«

War das etwas, das sich in der ursprünglichen Zeit ab-gespielt hat, aber nicht jetzt?, fragte sich Jonas. Weil es durch Zeitreisende verändert wurde? Oder haben wir das getan? Oder . Zwei?

Jonas blieb keine Zeit, in Erfahrung zu bringen, was die anderen zu diesen Theorien sagten - oder ihnen das Grab zu zeigen. Brendan und Antonio zogen John Whites Marker aus einer leeren Hütte.

»Wir gehen«, sagte Antonio, dessen Marker wieder in die einfache Sprache verfiel, die er John White gegenüber verwendete. »Müssenfort. Gefährlich.«

Verwirrt nickte John Whites Marker und machte einen Schritt vorwärts. Doch Antonio und Brendan trieben ihn zu sehr zur Eile an.

»Wartet... bevor ... ihr solltet...«, Jonas wusste nicht recht, was er den anderen sagen sollte.

Antonio, Brendan und John Whites Marker erreichten bereits den Rand des Dorfes. John White erblickte die ersten Knochenhaufen. Mit ungläubigem Entsetzen im Gesicht wandte er sich Antonio zu.

»Er versteht genau, was das bedeutet«, flüsterte Andrea. »Aber sie haben es so eilig, dass sie es gar nicht mitbekommen. Brendan! Antonio! Passt auf!«

Die beiden Jungen stockten und drehten sich um, doch ihre Marker marschierten stur geradeaus und schoben John Whites Marker vorwärts.

Dieser stolperte, wankte - und fiel wie ein Stein zu Boden.

Siebenunddreißig

Antonio und Brendan glitten augenblicklich in ihre Marker, um sich über den Gestürzten zu beugen.

»Alter Mann! Alter Mann!«, rief Antonio und schüttelte John White sachte an der Schulter. »Wach auf!«

»Ist er ohnmächtig geworden?«, fragte Andrea und kauerte sich neben die beiden Jungen.

»Ich glaube. Und dann .« Brendan brach ab, weil Antonios Marker John Whites Kopf hin und her drehte und den Mann dann ein wenig zur Seite schob, sodass an der Stelle, an der eben noch sein Kopf gelegen hatte, die Spitze eines Steins zum Vorschein kam.

»Er hat sich den Kopf angeschlagen!«, rief Katherine.

Andrea streckte die Hand aus, als hätte sie vergessen, dass sie den Marker gar nicht berühren konnte. Stattdessen zeigte sie auf eine klaffende Wunde unterhalb seines Haaransatzes.

»Es ist dieselbe Stelle«, hauchte sie mit einer Mischung aus Angst und Verwunderung in der Stimme. »Genau die Stelle hat sich der echte Mann angeschlagen, als er fast ertrunken wäre. Sie blutet nur nicht.«

»Los, macht euch fertig.« Brendan löste sich von seinem Marker, um die anderen anzusprechen. Dann ver-schmolz er wieder mit ihm und sagte zu Antonio: »Ich wusste, dass es hier immer noch böse Geister gibt. Spute dich!«

Antonio klaubte John Whites Marker vom Boden und rannte förmlich mit ihm zum Kanu zurück. Brendan blieb dicht hinter ihm. Er löste sich von seinem Marker, um den anderen über die Schulter zuzurufen: »Unsere Marker werden nicht lange fackeln, um von hier zu verschwinden. Steigt, so schnell ihr könnt, ins Kanu!«

Jonas stürmte mit Katherine, Andrea und Dare zwischen den Knochen hindurch.

Wir müssen später wiederkommen, um uns das Grab anzusehen, dachte er. Ich kann ihnen jetzt unmöglich davon erzählen!

Antonio erreichte das Kanu und bettete John Whites Marker vorsichtig hinein, direkt auf den echten Mann. Dieser rollte sich zur Seite und fügte sich in seinen Marker ein, sodass sie sich komplett verbanden. Als John White den Kopf abwandte, sah Jonas, dass Andrea recht gehabt hatte in Bezug auf die verletzte Stelle: Die echte und die Markerwunde stimmten genau überein.

Trotzdem muss die Verletzung des Markers nicht genauso schlimm sein, dachte Jonas. Schließlich gleicht sie der echten Wunde, die schon zwei Tage Zeit hatte zu heilen.

Sollte er das Andrea sofort erzählen oder lieber warten, bis sie draußen auf dem Wasser waren?

In diesem Moment langte Dare beim Kanu an. Doch er sprang nicht wie sonst hinein. Stattdessen blieb er stehen, drehte sich abrupt um und sah zum Wald jen-seits des Dorfes. Er stellte die Ohren auf und schien irgendetwas anzustarren. Dann raste er mit wütendem Gebell auf den Wald zu.

»Nein, Dare!«, rief Andrea und versuchte ihn festzuhalten. »Wir müssen los!«

Dare glitt ihr durch die Hände.

»Ich hole ihn!«, rief Jonas.

Er flitzte dem Hund hinterher, konnte ihn aber nicht ganz einholen. Diesmal versuchte Jonas erst gar nicht, die Tierskelette zu umlaufen. Schädel knackten unter seinen Füßen und bei fast jedem Schritt zertrat er spröde kleine Knochen.

Ich wette, ich hinterlasse jede Menge Marker, dachte er.

Doch das war im Moment kaum seine größte Sorge.

Ein verschwommener Gedanke huschte ihm durch den Kopf: Marker . Marker . waren da irgendwelche Spuren von Markerleuchten neben dem frischen Grab beim Tempel? Das hätte mir vielleicht sagen können, ob Zwei derjenige war, der es gegraben hat.

Allerdings hatte Jonas nicht daran gedacht, sich an der Begräbnisstätte nach Anzeichen von Markerleuchten umzusehen. Er hatte auch jetzt keine Zeit, darüber nachzudenken. Er hechtete Dare hinterher, doch der Hund flitzte, immer noch bellend, davon.

»Nein, Dare!«, rief Jonas. »Komm zurück!«

Dann waren sie am Waldrand und Dares Bellen wurde noch wilder. Der Hund stürzte sich ins Unterholz und Jonas folgte ihm, wich Bäumen aus und duckte sich unter Ästen hindurch.

»Jonas!«, rief Katherine vom Kanu. »Beeil dich!«

»Gleich hab -«, schrie Jonas. Er beschloss sich den Rest zu schenken und sich lieber auf den Hund zu werfen. Seine Finger glitten über Dares Fell, dann packte er das Halsband. Da! Er hatte ihn.

Dare winselte und versuchte sich loszureißen. Dann bellte er wieder los und starrte geradeaus, als wollte er sagen: Da schau! Das musst du dir ansehen!

»Was ist denn? Da ist doch nichts«, sagte Jonas aufgebracht. Er winkte mit seiner freien Hand und diese fuhr durch etwas Bleiches, Ätherisches.

Bleich. Ätherisch. Durchsichtig. Geisterhaft.

Leuchtend.

Ein Marker.

Immer noch das Halsband umklammernd, trat Jonas einen Schritt zurück. Der Hund fiepte.

»Ich seh's, ich seh's«, murmelte Jonas.

Der Marker war ein Indianermädchen in einem Kleid aus Rehleder. Sie trug zwei lange geflochtene Zöpfe. Und obwohl sie nur ein Marker war, konnte Jonas den hellen Ton ihrer Haut erkennen und das traurige Grau ihrer Augen.

Helle Haut. Graue Augen. Dies war nicht der Marker eines Indianermädchens.

Es war Andreas Marker.

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