Zwölf

»AHH!« Jonas sprang zurück und versuchte hastig auszuweichen. Flüchtig gewahrte er Hufe und glühende Augen. Was ist das - ein Dämon?, fragte er sich. Wo sind wir hier?

Mit wütendem Gebell setzte Dare der Kreatur in den Wald nach.

Jonas konnte erst erkennen, was es war, als sich sein wild pochendes Herz beruhigte, er sich umdrehte und den in der Hütte verbliebenen Marker entdeckte: Es war nur ein weiteres Reh.

Nein, es kann auch dasselbe Reh sein, das die Markerjungen getötet haben, weil es in Wirklichkeit noch am Leben ist . wie viele Markerversionen kann ein und dasselbe Reh eigentlich haben? Jonas stellte sich vor, wie sich das Reh, sobald es mit einer neuen Störung der Zeit in Berührung kam, zu Dutzenden von Markerrehen vervielfachte. Doch dann wurde ihm klar, dass ihm die Panik immer noch den Verstand vernebelte. Jedes Tier kann nur einen Marker haben. Weil es nur eine ursprüngliche Zeit gibt und nur einen vorgesehenen Verlauf.

Auch wenn es albern war, beruhigte es ihn zu wissen, dass es nicht dasselbe Reh war, das die Markerjungen getötet hatten. Fast zärtlich betrachtete er die Markerversion des Rehs, das er aufgeschreckt hatte. Das Markertier hob nicht einmal den Kopf, sondern kaute friedlich weiter an ... was war das? Eine halb verfaulte Melone?

Dann bemerkte Jonas den Tumult hinter sich.

»Dare, nein! Komm zurück!«, rief Andrea dem Hund nach.

Katherine konnte sich vor Lachen kaum noch auf den Beinen halten.

»Oh, Mann! Du hättest dein Gesicht sehen sollen! Du bist bleich wie ein Geist. Man könnte dich selbst für einen Marker halten!«, quietschte sie.

»Ha, ha«, murmelte Jonas. Er lehnte sich matt an die Seitenwand der Hütte, die sich gefährlich nach innen bog. Jonas befand, dass er allein stehen konnte, und richtete sich auf.

»Dare!«, schrie Andrea und ihre Stimme hallte durch die Bäume. »Dare!«

»Psst!«, sagte Jonas. Ihm dröhnten die Ohren und er glaubte nicht, dass er dafür noch die Zeitkrankheit verantwortlich machen konnte. Das Geschrei und das Gelächter, der Hund und das Reh, die durch den Wald stürmten - das alles war viel zu viel Lärm, viel zu viel weitere Veränderung an diesem stillen, verlassenen Ort voller Marker. »Seid still! Jemand wird uns hören! Am Ende ruinieren wir wirklich noch die Zeit!«

Wie viel Veränderung war zu viel? An welchem Punkt würden die Marker so überhandnehmen, dass sich nichts mehr reparieren ließ?

Katherines Gelächter verebbte zu einem Prusten und gelegentlichem Kichern. Andrea rief noch einmal »Dare!«, dann drehte sie sich zu Jonas um.

»Ehrlich, Jonas«, sagte sie nüchtern. »Ich glaube nicht, dass außer uns und den Markern noch jemand auf der Insel ist. Spürst du das denn nicht?«

Es könnte sich jemand verstecken, wollte er erwidern. Dein mysteriöser Unbekannter zum Beispiel, der zurückkommt, um dafür zu sorgen, dass wir tun, was er will. Aber was war schlimmer: die Möglichkeit anzusprechen, dass überall gefährliche Unbekannte lauern könnten, oder die Leere, die Trostlosigkeit und den Verfall zu akzeptieren? Es fühlt sich an, als wäre hier etwas Schlimmes passiert, dachte Jonas. Und vielleicht . vielleicht ist es noch nicht vorbei?

Das würde er nicht aussprechen.

Stattdessen murmelte er mürrisch: »Woher willst du wissen, dass wir auf einer Insel sind?«

»Weil sich die Kolonie von Roanoke auf einer Insel befand«, erwiderte Andrea. »Auf Roanoke.«

Jonas hob die Hände.

»Bin ich eigentlich der Einzige, der in der Schule nicht aufgepasst hat?«, fragte er.

Zu seiner Überraschung lachte Andrea. Doch es war ein freundliches Lachen. Ganz anders als das von Katherine.

»Ich kann mich nicht erinnern, in der Schule je etwas über die Kolonie von Roanoke gehört zu haben. Ich glaube nicht, dass meine Lehrer sie erwähnt haben«, sagte Andrea. »Aber erinnerst du dich an den Tag in der Höhle? Als sie uns die Namen der verschollenen Kinder der Geschichte aufgezählt haben? Ohne uns zu sagen, wer von uns wer ist?«

Jonas nickte achselzuckend.

»Ja, und?«

»Als ich an dem Tag nach Hause kam, beschloss ich, jeden einzelnen Mädchennamen zu recherchieren, an den ich mich erinnern konnte«, erzählte Andrea weiter. »Ich lebe jetzt bei meinem Onkel und meiner Tante und, na ja . jedenfalls ist es gut, wenn ich mich auf mein Zimmer verziehen und die Tür hinter mir zumachen kann und dann etwas zu tun habe.«

»Aber -«, setzte Katherine an. An der Art, wie sie die Augen zusammenkniff und die Nase krauszog, erkannte Jonas, dass sie im Begriff stand, irgendetwas unglaublich Neugieriges zu fragen, etwa: Du magst deinen Onkel und deine Tante wohl nicht? Warum nicht? Was ist mit ihnen?

»Wow«, unterbrach er sie schnell. »Ich bin an dem Tag einfach nur nach Hause gefahren, habe eine riesige Peperonipizza mehr oder weniger allein verdrückt und bin direkt ins Bett gegangen.«

Wieder lachte Andrea. Es klang schön.

»Dagegen ist nichts zu sagen. Schließlich hast du auch einen kleinen Umweg übers Mittelalter gemacht«, sagte sie.

»Stimmt, als ich aus dem fünfzehnten Jahrhundert zurückkam, war ich halb .« Jonas sprach das letzte

Wort nicht aus, das eigentlich verhungert lauten sollte. Es erschien ihm nicht sehr klug, es jetzt zu erwähnen. Er wechselte das Thema. »Und du hast dich wirklich über sämtliche verschollenen Kinder der Geschichte schlaugemacht? Jedenfalls über die Mädchen?«

Andrea schüttelte den Kopf. Ihr Blick war ernst.

»Nein, und das ist ziemlich merkwürdig«, sagte sie. »Ich habe mit Virginia Dare angefangen und wollte mir dann jemand anderen vornehmen, aber stattdessen habe ich ... immerzu über Virginia weitergelesen.«

»Oho .« Katherine gab einen leisen, unheimlich klingenden Laut von sich. Sie hörte auf, die Augen zusammenzukneifen, und ihr ganzes Gesicht begann vor Aufregung zu leuchten. »Dann musst du gewusst haben, wer du früher warst. Hattest du einfach ein komisches Gefühl bei Virginia Dare? Etwas, das dir bewusst oder unbewusst gesagt hat: >Das bist du. So muss es sein!<«

Jonas sah seine Schwester wütend an. Hatte sie Andreas Reaktion im Zeittunnel vergessen, als HK ihr gesagt hatte, dass sie in Wirklichkeit Virginia Dare war? Das bin ich nicht! Das ist nicht meine Mutter!, hatte sie geschrien. Wollte Katherine, dass sie sich wieder aufregte?

Doch diesmal schrie Andrea nicht. Sie legte nur den Kopf schief und dachte über Katherines Fragen nach.

Vielleicht kannte sich Jonas mit Mädchen und ihren Stimmungen einfach zu wenig aus.

»Ich glaube nicht, dass ich irgendetwas gewusst habe«, sagte Andrea kurz darauf. »Nicht mal unterbewusst. Ich fand einfach die Geschichte interessant. Wahrscheinlich lag es am Großvater, der zurückgekommen ist; daran, wie sehr er versucht hat, wieder zu seiner Familie zu kommen, und wie oft er damit gescheitert ist. Und als er es schließlich bis nach Roanoke geschafft hat .«

»War niemand mehr da«, wisperte Katherine.

Da er seit fast zwölf Jahren mit ihr zusammenlebte, hätte Jonas gegen Katherines Theatralik eigentlich gefeit sein müssen. Trotzdem konnte er nicht verhindern, dass ihn der unheimliche Ton in ihrer Stimme schaudern machte. In weiter Ferne schien Dares Gebell jetzt einen klagenden, verzweifelten Tonfall anzunehmen.

»Das hört sich nicht an, als würde er immer noch das Reh anbellen«, stellte er fest.

»Nein. Glaubst du, er ist verletzt?«, fragte Andrea zurück. »Oder in eine Grube gefallen, die ein Jäger zurückgelassen hat, oder, o Gott, sie werden doch auf Roanoke keine Fallen aufgestellt haben?«

Sie wirbelte herum und rannte in Richtung des Gebells. Jonas und Katherine folgten ihr.

Sie liefen jetzt nicht mehr auf den Wald zu, sondern kamen in ein Gebiet mit hohem Gras, das ihnen ins Gesicht schlug und in die Arme schnitt. Jonas wünschte, er hätte trotz der Hitze sein Sweatshirt angelassen, einfach um seine Haut zu schützen. Doch er hatte keine Zeit, stehen zu bleiben und es sich wieder anzuziehen.

Dares Gebell veränderte sich; es wurde schriller, ängstlicher.

»Da stimmt was nicht!«, rief Andrea Jonas und Katherine zu. »Das höre ich. Wir müssen ...«

Sie sprach nicht weiter, sondern lief einfach schneller.

»Warte, Andrea! Du weißt doch gar nicht, was dort draußen ist!«, rief Jonas ihr nach. Er hatte keine Ahnung, welche Gefahren es überhaupt zu befürchten galt. Den mysteriösen Unbekannten, der ihnen Andrea gänzlich wegschnappen könnte? Den Feind, der die Kolonie von Roanoke und das Indianerdorf zerstört hatte? Irgendeine andere Gefahr, in die der Unbekannte Andrea schicken wollte? Piraten, Banditen? Diebe, Mörder ...

Sich die Gefahren aufzulisten spornte Jonas an. Doch je schneller er lief, desto schneller peitschte ihm auch das Gras ins Gesicht, gegen die nackten Arme und die Fußknöchel. Er war froh, als es endlich spärlicher wurde, auch wenn er nun durch Sand rennen musste, der ihm in die Schuhe drang und jeden Schritt doppelt mühsam machte.

Dann bog er um eine Biegung und stellte fest, dass Andrea Dare eingeholt hatte.

Der Hund saß nicht in einem Fangeisen fest. Er wurde auch nicht von bösen Zeitreisenden oder Piraten verschleppt. Stattdessen kauerte er an einem schmalen Strandstreifen und bellte wütend etwas an, das draußen auf dem Wasser trieb.

»Was ist los, mein Junge?«, fragte ihn Andrea. »Was siehst du da?«

Noch im Laufen schirmte Jonas die Augen mit der Hand gegen das grelle Sonnenlicht ab, um in die Brandung hinauszuschauen. Der Wellengang war so heftig, dass es fast unmöglich war, im nächsten Augenblick noch zu wissen, welchen Teil des Wassers er bereits abgesucht hatte und welchen noch nicht. Ein dunkler Umriss tanzte draußen auf den Wellen - oder war es nur ein Schatten?

Jonas kniff die Augen zusammen und rannte zum Ufer. Allmählich begann sich der dunkle Umriss abzuzeichnen.

»Es ist ein umgekipptes Boot«, sagte er. »Mächtig zertrümmert, wie von einem Schiffsunglück.« Der Begriff tat ihm auf der Stelle leid. Schiffsunglück, Autounglück - vielleicht bemerkte Andrea die Ähnlichkeit nicht? »Ist wahrscheinlich schon Jahre her«, fügte er beruhigend hinzu. »Manchmal brauchen Trümmerteile ewig, bis sie an Land gespült werden.«

»Es war vor einer Minute noch aufrecht, Jonas«, sagte Andrea. Sie rannte zum Saum des Wassers, riss sich den rechten Schuh vom Fuß, dann den linken. Und schließlich rollte sie den Saum ihrer Shorts hoch.

»Was machst du da?«, fragte Jonas.

Andrea nahm das Sweatshirt ab, das sie sich um die Hüfte gebunden hatte. Es fiel in den Sand und einer der Ärmel hing im Wasser.

»Da war jemand in dem Boot!«, rief sie. »Ich hab ihn gesehen!«

Загрузка...