Nachwort der Autorin

Wenn man heute, im einundzwanzigsten Jahrhundert, auf die Insel Roa noke in North Carolina will, kann man die Virginia Dare Memorial Bridge überqueren. Und bei der Ankunft befindet man sich dann im Bezirk Dare County. Ein Stück weiter östlich führt eine Route namens Virginia Dare Trail zu den Inseln der Outer Banks. Und weiter nördlich, am Smith Mountain Lake in Virginia, kann man auf einem Ausflugsschiff namens Virginia Dare eine Spazierfahrt unternehmen. Wer lieber zu Hause bleibt, kann mit Virgi nia Dare Vanille einen Kuchen backen oder sich die Musik der Virginia Dare Band anhören.

Dafür, dass wir so wenig über sie wissen, ist Virginia Dare unglaublich berühmt. In den Geschichtsbüchern wurden nur zwei Informationen über ihr tatsächliches Leben festgehalten: Sie wurde am 18. August 1587 als Tochter von Ananias und Eleanor Dare geboren und sechs Tage später, am 24. August 1587, getauft. Das ist alles! Mehr gesichertes Wissen gibt es nicht über sie. Beide Informationen stammen aus Berichten ihres Groß vaters John White, des Gouverneurs der Kolonie von Roanoke. Dieser ver ließ Roanoke am 27. August, als Virginia gerade neun Tage alt war. Ihr weiteres Leben ist unbekannt. Alles andere gehört ins Reich der Legende, ist reine Spekulation, ein Mysterium.

Die Geschichte der Kolonie von Roanoke hat mich schon als Kind faszi niert. Ich erinnere mich, eine Biografie über Virginia Dare gelesen zu haben: Virginia Dare: Mystery Girl, die zu einer Buchserie über die Kindheit ame rikanischer Berühmtheiten gehörte. (Man sollte meinen, dass es ein extrem dünnes Buch gewesen sein musste, aber das war es nicht.) Als ich das erste Mal daran dachte, »Im Sog der Zeiten« zu schreiben, war mir sofort klar, dass Virginia Dare eines der verschollenen Kinder der Geschichte sein wür de. Doch als ich über die Kolonie von Roanoke zu forschen begann, stellte ich fest, dass die Geschichte wesentlich komplizierter war als die, die ich zu kennen glaubte.

So wie es aussieht, war Virginia Dare tatsächlich das erste englische Kind, das in der Neuen Welt geboren wurde. Aber schon die Behauptung, die Kolonie von Roanoke sei die erste englische Siedlung in Amerika gewesen, ist ein wenig suspekt. Bereits 1583 versuchte eine Gruppe Engländer auf Neufundland eine Siedlung zu gründen. Allerdings gaben sie ihr Vorhaben nach wenigen Wochen auf, weil ihnen die Vorräte ausgingen.

Als Kind stellte ich mir die Ankunft der ersten Europäer in Amerika so ähnlich vor wie die Landung auf dem Mond in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts. Doch das ist kein guter Vergleich. Zum einen lebten, anders als auf dem Mond, bereits Menschen in Nord und Südame rika. Zum anderen unternahm man innerhalb von vierzig Jahren ins gesamt neun bemannte Raumflüge zum Mond, während die Europäer im sechzehnten Jahrhundert Hunderte Male zwischen Amerika und Europa hin und herfuhren. Fischer aus England und anderen Nationen kamen in der wärmeren Jahreszeit regelmäßig in die Gewässer vor Neufundland, um dort zu fischen und ihren Fang anschließend nach Hause zu bringen und dort zu verkaufen. Die Spanier, die einen gewaltigen Vorsprung hatten, un terhielten zu dieser Zeit bereits zahlreiche Siedlungen auf der westlichen Erdhalbkugel und überquerten den Atlantik regelmäßig mit Schiffen voller Schätze aus Zentral und Südamerika.

Dieses Ungleichgewicht wir kriegen den Fisch und sie das Gold gefiel den Engländern nicht. Sie betrachteten die Spanier, unter anderem aus religiösen Gründen, ohnehin als ihre Feinde. (Spanien war ein katholisches Land und England im ausgehenden sechzehnten Jahrhundert bereits pro testantisch.) Spanien schien alle Macht zu besitzen und seinen Einfluss in Europa wie in Amerika immer weiter auszudehnen. Eine der wichtigsten Maßnahmen, mit denen sich die Engländer dagegen zur Wehr setzten, be stand darin, spanische Schiffe anzugreifen und alles zu stehlen, was sie in die Finger bekamen. Das klingt nach Piraterie und ausgemachten Kriegs handlungen, doch die Engländer hatten einen anderen Begriff dafür: Kape rei. Das bedeutete im Klartext, dass die Engländer nicht das Gefühl hatten, etwas Unrechtes zu tun. Die englische Regierung und ihre Anführer dulde ten den Diebstahl der spanischen Schätze nicht nur sie ermunterten sogar dazu. Und Königin Elisabeth erhielt einen Anteil vom Profit.

Sir Walter Raleigh, einer ihrer Favoriten unter den Höflingen, gehörte gleichzeitig zu den Männern, die am stärksten ins Kapergeschäft involviert waren. (Wenn du besser aufgepasst hast als Jonas, kennst du seinen Namen vielleicht aus dem Geschichts oder Gemeinschaftskundeunterricht.) Ra leigh war der Ansicht, dass die Gründung einer Kolonie in Nordamerika eine gute Möglichkeit wäre, der spanischen Übermacht auf der westlichen Erdhalbkugel etwas entgegenzusetzen vor allem dann, wenn die Kolonie als Bastion und Versteck für englische Kaperer diente.

Raleigh selbst hatte nicht vor in der neuen Kolonie zu leben, die ihm vorschwebte; er blieb in England und schickte stattdessen andere los. Es ist schwer, zu ergründen, was die eigentlichen Kolonisten von Roanoke bewo gen hat, alles Vertraute hinter sich zu lassen und sich an einem völlig unbe kannten Ort eine neue Heimat zu erschaffen. Einige Historiker nehmen an, dass sich mehrere oder alle Kolonisten von der Church of England abspalten und ihre eigene Religion praktizieren wollten, wie die Pilgerväter, die sich dreiunddreißig Jahre später in Massachusetts niederließen. Andere vermu ten, dass die finanziellen Anreize vielleicht wichtiger waren: Jeder männ liche Siedler sollte zweihundert Hektar Land erhalten.

Eines der Dinge, die ich vergessen (oder vielleicht nie gewusst) habe, war, dass es mehrere Probeläufe gab, ehe John White, die Dares und mehr als einhundert weitere Männer, Frauen und Kinder Ende Juli 1587 auf der Insel Roanoke auftauchten. Seit dem Jahr 1584 hatten sich immer wieder ver schiedene Gruppen (ausschließlich männlicher) Entdecker und Soldaten auf der Insel niedergelassen. Und alle diese Probeläufe endeten aus unter schiedlichen Gründen in Katastrophen und legten den Grundstein für wei tere Desaster. Ungeachtet der Tatsache, dass eine große Dürre herrschte und die eigentlichen Inselbewohner selbst kaum genug zu essen hatten, erwarte ten die Engländer von den Ureinwohnern, sie mit Nahrungsmitteln zu ver sorgen. Dabei verhielten sich die Engländer den Indianern gegenüber fast schizophren, indem sie sich abwechselnd mit ihren neuen Nachbarn an freundeten oder sie töteten. Auf den puren Verdacht hin, ein Indianer könnte einen silbernen Abendmahlbecher gestohlen haben, brannten sie ein ganzes Dorf nieder und zerstörten die Maisernte der Bewohner. Später stahlen und aßen sie die Hunde anderer Indianer. Außerdem entführten sie den kleinen Sohn eines berühmten indianischen Anführers. Nichts von alldem war dazu angetan, die Engländer den Ureinwohnern sonderlich sympathisch zu machen. Als Virginia Dares Eltern und die anderen Kolo nisten im Sommer des Jahres 1587 auf Roanoke eintrafen, gingen sie davon aus, dort fünfzehn Soldaten vorzufinden, die als Bewachung eines eng lischen Forts zurückgelassen worden waren. Stattdessen entdeckten sie das Skelett eines vermutlich von Indianern getöteten Soldaten. Was aus den anderen vierzehn Männern wurde, weiß niemand.

Diese erste Entdeckung muss sehr entmutigend gewesen sein, doch es sollte noch viel schlimmer kommen. Sechs Tage nach ihrer Ankunft wurde einer der Kolonisten, George Howe, von Indianern getötet, während er allein nach Krebsen suchte. Er hinterließ einen kleinen Sohn, der nun Waise war. Als die Kolonisten beschlossen sich für den Mord an Howe zu rächen und ein nahe gelegenes Indianerdorf angriffen, stellten sie mitten im Kampf fest, dass sie einen großen Fehler gemacht hatten: In dem Dorf lebten Men schen, die den Engländern freundlich gesonnen und keineswegs ihre Feinde waren, wie sie geglaubt hatten.

Erstaunlicherweise scheinen die Indianer bereit gewesen zu sein, über diesen »Fehler« hinwegzusehen. Trotzdem hatten die Kolonisten von Roa noke noch mehr als genug andere Probleme. Aus verschiedenen Gründen hatten sie es versäumt, sich auf dem Weg nach Amerika mit den nötigen Vorräten einzudecken, und das galt auch für Nahrungsmittel. Da die Kapi täne der Schiffe, mit denen sie übersetzten, bestrebt waren, den Großteil der Segelsaison mit dem Kapern fremder Schiffe zuzubringen ein wiederkeh rendes Thema in der Geschichte der Engländer auf Roanoke , trafen die Kolonisten erst im Spätsommer auf der Insel ein; zu spät, um noch irgend etwas anzupflanzen. Und schließlich war eines der Dinge, das die Engländer aus den vorangegangenen Probeläufen gelernt hatten, die Tatsache, dass die Insel Roanoke im Grunde ein lausiger Ort und wenig geeignet war, um sich dort niederzulassen. Daher hatten die Kolonisten vor, sich dieses Mal weiter nördlich anzusiedeln, im Gebiet der Chesapeake Bay. Doch Simon Fernandez, der Kapitän und Lotse ihrer Schiffe, weigerte sich, so wird be richtet, sie an einen anderen Ort zu bringen. Viele der Spekulationen um das Schicksal der Kolonie von Roanoke ranken sich um diesen Mann. Hat

Fernandez die Kolonie mit Absicht sabotiert? Falls ja, wer gab ihm den Auftrag dazu? Und warum? Stand er insgeheim im Dienst der Spanier? Oder wurde er von einem Feind Raleighs am englischen Hof bestochen?

Oder hat man Fernandez' Absichten schlicht und einfach missverstan den, weil seine Version der Geschichte nie überliefert wurde?

Auf jeden Fall erklärte sich Simon Fernandez bereit, einen Kolonisten mit nach England zurückzunehmen, der dort um weitere Vorräte bitten sollte: John White. Seinen eigenen Angaben zufolge verließ er Roanoke nur un willig, doch die anderen Kolonisten überredeten ihn, weil sein Wort den größten Einfluss und er die besten Chancen haben würde, Hilfe zu organi sieren.

In England stellte sich White ein Hindernis nach dem anderen in den Weg. Da man einen Seeangriff der Spanier befürchtete, befahl Königin Elisabeth alle Schiffe in den Häfen zu lassen und sie darauf vorzubereiten, ihr Land zu verteidigen. Irgendwann erhielt White die Erlaubnis loszu segeln, sie wurde ihm jedoch, noch ehe er in See stechen konnte, wieder entzogen. Ein anderes Mal brach White mit einem kleinen Schiff, Vorräten und fünfzehn neuen Kolonisten auf, kam aber nie in Amerika an. Statt dessen verübte ihr Schiff diverse Überfälle und wurde schließlich selbst von einem französischen Kaperschiff attackiert. White wurde bei den Kämpfen zweimal verwundet und ihr Schiff am Ende so stark beschädigt, dass es nach England zurückkehren musste. Einige Monate später griff die spanische Armada an. Doch selbst nachdem England die Spanier in jener legendären Schlacht besiegt hatte, waren die Geldgeber der Kolonie von Roanoke offen sichtlich zu abgelenkt, um sofort einen Rettungsversuch zu organisieren.

Schließlich brach White am 20. März 1590 ein weiteres Mal nach Ame rika auf, drei Jahre nachdem er seine Kolonie dort zurückgelassen hatte. Fahren durfte er nur, weil er sich bereit erklärt hatte, keine neuen Kolonisten mitzunehmen. In seinen Aufzeichnungen beklagt er sich darüber, dass man ihm nicht einmal gestattete einen Jungen mitzunehmen, der ihm auf der Überfahrt als Diener zur Hand gehen sollte. Der Kapitän des Schiffes wollte so viel Stauraum wie möglich für die Schätze freihalten, die er durch Kaper überfälle zu erbeuten hoffte. Auch ließ er sich unterwegs reichlich Zeit und fuhr einen Umweg, um mitzuhelfen ein spanisches Schiff zu überfallen. White selbst beschrieb die Situation mit den Worten: »Sowohl die Eigner als auch die Kapitäne und Seeleute scher(t)en sich wenig um das Wohl ihrer Landsleute« in der Kolonie von Roanoke.

Das Schiff, mit dem White unterwegs war, die Hopewell, erreichte die Insel schließlich Mitte August des Jahres 1590. Am ersten Abend schöpfte White Mut, als er in der Gegend, in der er die Kolonie zurückgelassen hatte, Rauch aufsteigen sah. Am nächsten Morgen sahen sie jedoch von einer anderen nahe gelegenen Insel Rauch aufsteigen und beschlossen zuerst dort zu suchen. Vergeblich. Sie begegneten keinem Menschen und das Feuer hatte offensichtlich natürliche Ursachen. Am nächsten Tag setzten zwei Ruder boote nach Roanoke über. Eines davon kenterte in der gefährlichen Bran dung und sieben Männer ertranken. Als die Überlebenden sich um alles ge kümmert hatten, beschlossen sie, dass es inzwischen zu spät und zu dunkel sei, um nach Roanoke zu gelangen. Von ihrem nahe gelegenen Ankerplatz aus sahen sie ein weiteres Feuer auf der Insel, also versuchten White und die anderen, die Kolonisten durch Rufe, Trompetespielen und das Singen be kannter englischer Lieder auf sich aufmerksam zu machen. Sie erhielten keine Antwort, und als White und die Seeleute am folgenden Morgen auf Roanoke an Land gingen, stellten sie fest, dass trockenes Gras und abge storbene Bäume die Ursache des Feuers gewesen waren. Auf dem Weg zur Kolonie entdeckten sie Fußspuren im Sand, die von Indianern stammten, wie White vermutete, doch sie begegneten niemandem.

Der Rest der Geschichte verlief so, wie Andrea und Katherine sie geschil dert haben: White und die Männer in seiner Begleitung fanden die Kolonie verlassen und fast gänzlich zerstört vor. In einen Baum in der Nähe waren die Buchstaben CRO eingeritzt und auf einen Holzpfahl des Forts (das die Kinder im Buch als Zaun bezeichnen, obwohl White es wohl eher eine Pa lisade genannt hätte) das Wort CROATOAN. Zu seinem Entsetzen musste White feststellen, dass einige seiner eigenen Besitztümer (darunter auch eine Rüstung) samt der großen Koffer, in denen sie versteckt gewesen waren, ausgegraben und verstreut in der Gegend herumlagen, wo sie vor sich hin rosteten und vermoderten. Die Schuld daran gab er feindlichen Eingebo renen. Überglücklich hingegen machte ihn das eingeritzte CROATOAN, be sonders da sich kein Kreuz neben dem Wort befand. Ein Kreuz war das Zeichen, das er mit den Kolonisten vereinbart hatte, um anzuzeigen, dass sie die Insel aus Not, Elend oder Gefahr verlassen hatten. White kam zu dem Schluss, dass seine Kolonisten auf der Insel Croatoan (vermutlich die Insel, die heute als Hatteras bekannt ist) bei dem dort lebenden freundlich gesinnten Stamm der Croatoan Indianer in Sicherheit waren.

Er hatte vor am nächsten Tag dorthin zu fahren, doch in der Nacht kam ein Sturm auf, und eine Reihe weiterer Debakel führte dazu, dass die Hope well drei ihrer vier Anker verlor. Zuerst planten sie nach Trinidad zu fahren, um dort Reparaturen durchzuführen und Vorräte aufzunehmen, ehe sie zurückkommen und weiter nach den Kolonisten suchen wollten. Doch das andauernde stürmische Wetter trieb die Hopewell so weit von ihrem Kurs ab, dass sie schließlich auf den Azoren landete, mitten im Atlantik. Dort be schloss der Kapitän nach England zurückzukehren.

Das war das Ende der Bemühungen der Hopewell, die Kolonisten von Roanoke zu finden.

1593 schrieb White einen Brief an einen gewissen Richard Hakluyt, in dem er ihm seine Reise von 1590 schilderte. Zu diesem Zeitpunkt sechs Jahre nachdem er seine Tochter, seinen Schwiegersohn und seine Enkelin zum letzten Mal gesehen und drei Jahre nachdem er den Ozean ein weiteres Mal überquert hatte, um nach ihnen zu suchen schien er sich mit seinem Verlust abgefunden zu haben. Trotzdem betete er weiter für die Sicherheit jener, die er auf Roanoke zurückgelassen hatte.

Nach jenem Brief aus dem Jahr 1593 verschwand John White fast ebenso spurlos wie der Rest seiner Familie. Manche Leute glauben, dass er seine restlichen Tage in Irland verbrachte, weil er auch seinen letzten Brief dort verfasste, und zwar auf Ländereien, die Sir Walter Raleigh gehörten. Andere verweisen auf die Aufzeichnungen einer gewissen Brigit White, der 1606 die Verwaltung des Nachlasses ihres verstorbenen Bruders, John White, über tragen wurde. Sie ziehen daraus den Schluss, dass Gouverneur John White in diesem Jahr verstarb, auch wenn niemand weiß, ob es sich um den richtigen John White handelt. Wieder andere glauben, dass White ein wei teres Mal nach Amerika zurückgekehrt sein könnte, um nach seiner Familie zu suchen, allerdings auf einer Reise, die nicht besonders gut dokumentiert wurde. (An diese These würde ich gern glauben, selbst wenn sie mir bei der Handlung meines Buches nicht weitergeholfen hätte.)

Unabhängig davon, was in ihrem wirklichen Leben passiert, können Künstler darauf hoffen, nach dem Tod in ihren Kunstwerken weiterzuleben.

Im Jahr 1590 wurden Holzschnitte von Whites Zeichnungen veröffentlicht, die Originale hingegen blieben viele Jahre lang verschollen. 1788 tauchten einige seiner Zeichnungen wieder auf und wurden schließlich vom Briti schen Museum erworben. Das steigende Interesse an seinen Werken führte dazu, dass das Britische Museum und die University of North Carolina Press 1964 gemeinsam ein Buch mit dem Titel The American Drawings ofJohn White herausgaben. Wie Andrea schwärmt, wird Whites Werk heute tatsächlich für seine Einfühlsamkeit gerühmt und dafür, dass es die amerikanischen Ureinwohner als Menschen zeigt und nicht als gänzlich fremde Wesen.

Seit vierhundert Jahren spricht man von Virginia Dare und den anderen Menschen, die John White auf Roanoke zurückließ, als den Verlorenen Kolo nisten. Ich konnte mich bei den Nachforschungen für dieses Buch nur immer wieder darüber wundern, wie unpassend dieser Begriff ist. Im Grun de sind die Kolonisten gar nicht verloren gegangen; vielmehr war es so, dass niemandem außer John White sonderlich daran gelegen war, nach ihnen zu suchen. Wenn wir in der heutigen Zeit gezwungen wären, Astronauten auf dem Mond zurückzulassen, hätten wir mit Sicherheit alles unter nommen, um sie zu retten. Aber ich begehe wieder einmal den Fehler, die Vergangenheit so zu betrachten, als sei sie mit heute vergleichbar.

Nach den Ereignissen von Roanoke warteten die Engländer zwanzig Jah re, bevor sie einen weiteren Versuch unternahmen, sich auf amerikani schem Boden niederzulassen. Diesmal fassten sie eine Gegend ins Auge, die ein wenig weiter nördlich liegt, am James River in Virginia. Die Siedler von Jamestown hörten Gerüchte über Menschen mit heller Haut und blonden Haaren, die man in der Nähe gesehen hatte oder von Menschen, die eng lische Kleidung trugen, Englisch sprachen oder in englisch aussehenden Häusern wohnten. Und es gab Vermutungen, dass einige dieser Menschen die verbliebenen Kolonisten von Roanoke sein könnten. Allerdings machten die Bewohner von Jamestown nur wenig Anstalten, nach diesen Leuten zu suchen. Das ist für Historiker frustrierend, aber nur allzu verständlich. Die Siedler von Jamestown hatten genug damit zu tun, am Leben zu bleiben. Bereits nach einem Jahr waren von den ursprünglichen hundertvier Sied lern nur noch achtunddreißig übrig.

Was also ist mit Virginia Dare und dem Rest der Kolonie von Roanoke im »ursprünglichen Verlauf der Geschichte« tatsächlich geschehen? Die depri mierendste Möglichkeit ist die, dass alle kurz nach John Whites Abfahrt starben. Möglicherweise wurden sie von ihren indianischen Feinden getötet. Vielleicht aber auch von einem spanischen Stoßtrupp. Oder sie sind ver hungert.

Das, was John White 1590 auf Roanoke vorfand, vor allem das fehlende Kreuz neben dem Wort CROATOAN, scheint darauf hinzudeuten, dass die Kolonisten es zumindest geschafft haben, die Insel Roanoke wohlbehalten zu verlassen. Einige Historiker vertreten die Theorie, dass die Kolonisten sich in zwei Gruppen aufgeteilt haben: Eine Gruppe könnte, wie ursprünglich geplant, zur Chesapeake Bay weitergezogen sein, während eine kleinere Gruppe bei den Croatoan Indianern blieb, nah genug an Roanoke, um nach John White Ausschau zu halten, falls er zurückkommen sollte. Der noch heute existierende Indianerstamm der Lumbee in North Carolina behauptet, die Kolonisten von Roanoke hätten amerikanische Ureinwohner geheiratet und gehörten zu ihren Vorfahren. Eine im späten neunzehnten Jahrhundert durchgeführte Untersuchung ergab, dass sich bei den Mitglie dern dieses Stammes einundvierzig der insgesamt fünfundneunzig Fami liennamen der Kolonisten wiederfinden.

Andere erzählen völlig andere Geschichten über die Kolonisten. Kapitän John Smith berichtete, der mächtige Indianerhäuptling Powhatan aus der Nähe von Jamestown habe einmal behauptet, alle Bewohner der Kolonie von Roanoke getötet zu haben. (Powhatan war der Vater von Pocahontas, wie du vielleicht noch weißt, wenn du den Film von Walt Disney gesehen hast.) Eine weitere traurige Möglichkeit ist, dass einige der Kolonisten die Sklaven eines ziemlich grausamen Stammes wurden, der weiter im Inland lebte. Es gab Berichte über ungewöhnlich hellhäutige Menschen, die für die sen Stamm arbeiteten, aber auch Beschreibungen von hellhäutigen Men schen, die unter glücklicheren Umständen mit anderen Ureinwohnern zu sammenlebten.

Natürlich waren die Kolonisten von Roanoke nicht die einzigen Menschen mit heller Haut, die im ausgehenden sechzehnten und frühen siebzehnten Jahrhundert durch Nordamerika gezogen sein könnten. Neben Spaniern und Engländern erforschten auch Franzosen und Dänen den Kontinent. Und die Geschichte, die Antonio beschreibt, hat sich tatsächlich ereignet: Europäische Kapitäne ließen Schiffsjungen zurück, damit sie die india nischen Sprachen lernen und ihnen später als Übersetzer dienen sollten. Wurden die europäischen Schiffe versenkt oder kamen sie einfach nicht wieder, fügten sich die Kinder, die es schafften zu überleben, in die jeweilige indianische Kultur ein. Manche von ihnen kamen vielleicht wirklich zum gleichen Schluss wie Antonio, dass ihnen das Leben als adoptierter Indianer besser gefiel als das kümmerliche Dasein als Schiffsjunge. Offenbar gab es unter den amerikanischen Ureinwohnern viele, die nichts dagegen hatten, Fremde in ihren Stamm aufzunehmen.

Schon nach den ersten Siedlungsversuchen, die der späteren »Verlorenen Kolonie« vorangingen, wurden zahlreiche Personen vermisst, auf die sich einige der Berichte über Menschen von europäischem Aussehen und Be nehmen an verschiedenen Orten entlang der amerikanischen Atlantikküste bezogen haben könnten. Virginia Dare mag die berühmteste Person sein, die von Roanoke verschwand, aber sie war beileibe nicht die einzige. Im Juni 1586, als Sir Francis Drake den Soldaten auf Roanoke anbot sie mit nach England zurückzunehmen, wurden drei Männer zurückgelassen. Und auch die von einem anderen Schiff wenig später dort abgesetzten Soldaten verschwanden zwischen Sommer 1586 und August 1587 von der Insel.

Die Geschichte von Drakes Rettungsaktion war mir völlig unbekannt und ich war über die Entscheidungen, die er traf, ebenso entsetzt wie Brendan. Um Platz zu schaffen für die englischen Soldaten, ließ Drake tatsächlich mehrere Hundert Sklaven (indianischer wie afrikanischer Herkunft) auf der Insel zurück. Und er hielt dies zweifellos für eine sehr heldenhafte und groß zügige Geste. Die Sklaven verschwanden augenblicklich aus den historischen Aufzeichnungen niemand weiß, wie es ihnen erging. Es ist schwer, sich mit der Geschichte dieser Epoche zu beschäftigen, ohne zutiefst zu erschrecken: über den Umgang mit Sklaven und amerikanischen Ureinwohnern, aber auch darüber, wie mit einfachen (nicht adligen) englischen Menschen umge sprungen wurde. Viele ihrer Geschichten gingen verloren, weil man es nicht für wichtig erachtete, sie festzuhalten. Ich bin überzeugt, dass Zeitreisen uns zahllose faszinierende Menschen, Perspektiven und Ereignisse aufzeigen könnten, die von der Geschichte vollkommen übersehen wurden.

Aber auch ohne Zeitreisen werden geschichtliche Vorgänge ständig neu bewertet. Heute haben die Historiker eine wesentlich bessere Vorstellung davon, welche katastrophalen Auswirkungen es aufdie amerikanische Urbe völkerung hatte, als sie mit europäischen Krankheiten in Berührung kamen. Es ist wahr, dass ganze Dörfer ausstarben, ganze Stämme bis auf eine Hand voll Überlebende ausgelöscht wurden. Auch wenn sich unmöglich ermessen lässt, wie viele Menschen starben, wird in frühen europäischen Berichten über Reisen nach Amerika immer wieder festgehalten, dass die Entdecker bei ihrer ersten Begegnung mit den Ureinwohnern auf Gemeinschaften trafen, in denen es von Menschen nur so wimmelte, während sie, wenn sie ein wei teres Mal zurückkamen, nichts als endlose, verlassene Wildnis vorfanden.

Wäre ich eine Zeitreisende, würde ich unbedingt Impfstoffe in die Vergan genheit schmuggeln wollen.

Da es keine nachprüfbaren Berichte über das Schicksal von Virginia Dare und die anderen Kolonisten von Roanoke gibt, sind in den letzten vierhun dert Jahren zahllose Geschichten, Fabeln und Mythen entstanden. Manch mal werden diese Geschichten sogar als wahr dargestellt: In den späten 1930er Jahren fand man an verschiedenen Stellen in den Bundesstaaten Georgia, North und South Carolina insgesamt achtundvierzig Steine mit Gravuren, die angeblich von Eleanor Dare zurückgelassen wurden, um vom Schicksal ihrer Familie zu berichten. 1941 zog ein Zeitschriftenartikel die Echtheit der Steine in Zweifel und enttarnte sie als ausgebuffte Fälschung. Doch noch 1991 wird in einem Buch mit dem Titel A Witness for Eleanor Dare (»Ein Zeuge für Eleanor Dare«) behauptet, dass die Steine echt waren.

Noch fantasievoller ist die lange poetische Erzählung einer gewissen Sallie Southall Cotton von 1901, in der sie angeblich eine »indianische Fabel« nacherzählte. Darin weist Virginia Dare die Annäherungsversuche eines bösen indianischen Zauberers zurück, der sie aus Rache in ein weißes Reh verwandelt. Ihre wahre Liebe, ein indianischer Krieger, will sie retten, indem er einen verzauberten Pfeil auf sie abschießt. Allerdings stellt ihr auch ein weiterer Rivale nach. Von zwei Pfeilen gleichzeitig getroffen, verwandelt sich Virginia Dare in einen Menschen zurück und stirbt.

Vielleicht würde sich heute niemand mehr an Virginia Dare erinnern oder sich für sie interessieren, wenn wir von Anfang an gewusst hätten, wie ihr Leben verlaufen ist. Vielleicht ist es gerade das Geheimnis, das sie so interes sant macht.

Vielleicht ist aber auch die Wahrheit besser als jede erfundene Geschichte. Wir wissen nur nicht, wie sie aussieht.

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