Vierundzwanzig

Jonas kletterte hastig über die Felsen in der Hoffnung, die echte Kiste zu finden, ehe der Markerjunge davonging. Nach seinem Empfinden sah ein Felsbrocken aus wie der andere. Ohne den Markerjungen würde er womöglich ewig suchen müssen.

Der Junge hielt mit der Markertruhe auf der Schulter auf den nächsten Felsen zu. Es war der andere, bei dem er sich gebückt und die Truhe gefunden hat, dachte Jonas. Der, der aussieht wie eine Hexennase. Der Markerjunge lief jetzt schneller. Inzwischen war er drei Felsen entfernt. Jonas duckte sich und warf sich nach vorn, mitten durch den Markerjungen hindurch.

Der Hexennasenfelsen war hart und hatte messerscharfe Kanten.

»Schreib es dir hinter die Ohren«, murmelte Jonas. »Leg dich nicht mit Felsen an.«

Er hatte sich die rechte Handfläche und das rechte Knie aufgeschürft und ein Loch in die Jeans gerissen. Zum ersten Mal kam ihm der Gedanke, dass sein Sprung auch vergeblich hätte sein können: Was ist, wenn irgendeine Zeitabweichung sich auf die Truhe ausgewirkt hat und das echte Gegenstück gar nicht hier ist?, überlegte er.

Doch sie war da, direkt am Fuß des Hexennasenfel-sens. Wellen klatschten gegen ihre untere Hälfte, doch sie saß so fest, dass sie nicht zertrümmert werden konnte wie die Bootsplanken.

Jonas bückte sich und zog an den Griffen. Wieder bewunderte er die Kraft des Markerjungen: Jonas musste mit aller Kraft ziehen, während der Markerjunge die Truhe mühelos aufgehoben hatte.

Vielleicht war sie ursprünglich nicht so verkeilt, überlegte er.

Stöhnend schaffte er es, die Truhe zwischen den Felsen hervor und auf ebeneren, trockeneren Boden zu zerren. Sie war ziemlich klein, nicht viel größer als der Rucksack, mit dem Jonas zur Schule ging. Er drehte sie zur Seite und überlegte, wie sie entriegelt wurde.

Dare begann zu bellen.

»Keine Sorge, Junge, wenn es eine Million Dollar in Goldmünzen sind, teile ich mit dir«, murmelte er. »Und wenn es die Lösung aller Rätsel ist, darfst du auch mit nach Hause.«

Dare bellte weiter.

»Schon gut, schon gut, was ist los?« Jonas hob den Kopf.

Der Hund lief zwischen ihm und dem Markerjungen hin und her. Allerdings war Letzterer kaum noch zu sehen. Er war nicht stehen geblieben, um nachzusehen, was sich in der Truhe befand. Er trug sie einfach fort, zurück ins Indianerdorf. Nur sein Kopf und die Marker-truhe auf seiner Schulter ragten noch über das hohe Gras hinaus.

»Macht nichts«, sagte Jonas zu dem Hund. »Wir finden den Rückweg schon.«

Dare winselte und legte den Kopf schief, als traute er Jonas' Orientierungssinn nicht. Oder als wollte er, dass Jonas sich vorstellte, wie besorgt Katherine und Andrea sein würden, wenn der Markerjunge wieder im Dorf auftauchte und von Jonas nichts zu sehen war.

Dieser fummelte noch einen Moment am Riegel herum, der aus verschnörkeltem Metall bestand. Doch er konnte sich nicht mehr richtig konzentrieren. Seine Hände zitterten.

»Na gut«, sagte er zu Dare. »Wenn du die Mädchen so vermisst...«

Er hob die Truhe hoch und marschierte auf den nächsten Felsen zu. Zuerst versuchte er, sie an den Griffen vor sich herzutragen. Doch das war schwierig. Immer wieder stießen seine Beine beim Laufen gegen die Truhe.

Jonas sah nach vorn zum Markerjungen und wie mühelos dieser die Truhe trug.

Wenn du in Rom bist, benimm dich wie die Römer, ging ihm eine Redewendung seiner Mutter durch den Kopf. Aber müsste sie dann hier nicht lauten: Wenn du auf Roanoke bist, tu das, was die falschen Indianer tun?

Nicht ohne Mühe schaffte es Jonas, die Truhe auf Schulterhöhe zu bringen und an die richtige Stelle zu bugsieren. Er stolperte weiter.

»Glaub mir, ich bin gut in Form«, sagte er zu dem Hund. »Ich spiele Fußball. Und Basketball.«

Seine Arme wurden allmählich taub davon, die Truhe oben auf der Schulter festhalten zu müssen.

Am Ende musste Jonas einsehen, dass er, wenn er mit dem Markerjungen Schritt halten wollte, die Truhe den größten Teil des Wegs würde ziehen müssen. Er sah die Furchen, die er im sandigen Untergrund hinterließ, nicht einmal an. Stattdessen motivierte er sich weiterzumachen, indem er sich genau ausmalte, welchen Schatz die Truhe enthielt. Goldmünzen würden im Augenblick nicht besonders nützlich sein. Vielleicht enthielt sie die Nahrungsvorräte, die John White aus England mitgebracht hatte?

Die Truhe war doch sicher so wasserfest, dass den Vorräten nichts passieren konnte? Und wenn sich sowohl in der echten Truhe als auch in der Markerversion Vorräte befanden, war es doch bestimmt nicht gefährlich, sie zu essen?

Jonas befürchtete schon, er könnte bei dem Gedanken an diese Möglichkeit anfangen zu sabbern.

Vielleicht enthielt die Truhe Waffen, mit denen sich nach Essbarem jagen ließ: Messer oder kompakte Pfeile und Bogen?

Womöglich passte er sich allmählich ein wenig zu gut an dieses Zeitalter an: Jetzt hoffte er schon auf Waffen statt auf Gold.

Der Markerjunge betrat das Indianerdorf mit dem Gehabe eines Kriegers, der nach einem großen Sieg zurückkehrt. Wenige Schritte hinter ihm beschloss Jonas sich die Truhe wenigstens beim Betreten des Dorfes wieder auf die Schulter zu hieven. Unmittelbar nach dem Markerjungen stolperte er auf die Lichtung.

»O nein, Jonas, was ist passiert?«, stieß Andrea hervor.

Er sah an sich herab. Unter dem Riss in der Jeans war sein Knie von einer dicken Blutkruste überzogen. Von den Felsen hatte er Kratzer an Armen und Händen. Er setzte ein Grinsen auf und hoffte, wie ein mitgenommener Actionheld am Ende eines Kinofilms auszusehen. Wie Indiana Jones vielleicht. Oder Jason Bourne.

»Ich habe eine Schatztruhe gefunden«, erklärte er. »War nicht ganz leicht, an sie ranzukommen.«

Dabei hoffte er, Andrea und Katherine würden nicht bemerken, dass der Markerjunge nicht ganz so mitgenommen aussah.

»Glaubt ihr, John White hat vielleicht selbst ein bisschen im Kapergeschäft mitgemischt?«, fragte Jonas, um sie abzulenken. »Und spanisches Gold gestohlen?«

»Nein, er doch nicht«, sagte Andrea, die erschrocken zusammengezuckt war. »Das kann nicht sein.«

Der Markerjunge stellte die Truhe vor John White auf den Boden. Jonas bemerkte überrascht, dass der echte Mann komplett mit seinem Marker verschmolzen war: Beide Männer schliefen. Doch der zweite Markerjunge rüttelte ihn wach.

»Schnell, stell die echte Truhe dorthin, wo die Markertruhe steht«, sagte Andrea. »Damit mein Großvater sich nicht wundert, wenn .«

Schnell?, dachte Jonas. Habt ihr eine Ahnung, wie schwer das Ding ist?

Trotzdem schaffte er es, die Truhe in etwa an der richtigen Stelle zu Boden plumpsen zu lassen. Sie vereinigte sich nicht vollständig mit ihrem Marker, fügte sich nicht ein, wie ein Mensch es getan hätte.

Oder wie ein Mensch es tun sollte, dachte Jonas.

Katherine schob die Truhe zurecht, bis sie genau mit dem Marker übereinstimmte.

»Für alle Fälle«, murmelte sie. »Wenigstens das können wir tun, um die Zeit zu reparieren.«

Andrea ging in die Hocke und nahm die Position des Markerjungen ein. Dann begann sie ihren Großvater ebenfalls an der Schulter zu rütteln.

»Wach auf«, flüsterte sie ihm ins Ohr. »Oh, bitte, wach auf!«

Jonas sah Katherine an, die den Kopf schüttelte.

»Er hat die ganze Zeit geschlafen«, sagte sie. »Für uns ist das von Vorteil... aber Andrea bricht es das Herz.«

Andrea rüttelte ihren Großvater immer heftiger.

»Du tust ihm noch weh, Andrea«, sagte Jonas streng.

Andrea hörte auf und sackte in sich zusammen. Sie vergrub das Gesicht in den Händen.

»Warum wirkt denn nichts?«, jammerte sie. »Das Trockennahrungspellet hat mir nicht geschadet, also habe ich ihm auch eines gegeben. Wasser habe ich ihn auch trinken lassen. Ich habe seine Wunde wieder gesäubert - eigentlich müsste er sich erholen! Und wach sein!«

Katherine ging zu ihr und legte ihr behutsam den Arm um die Schulter.

He! Das hätte ich machen können!, schoss es Jonas durch den Kopf. Er dachte an seinen anfänglichen Schwur, sich um sie zu kümmern. Ihm war nicht klar gewesen, wie kompliziert das sein würde. Er war froh, dass wenigstens Katherine zu wissen schien, was zu tun war.

»Lass uns einfach zuschauen«, sagte sie sanft. »Und sehen, was passiert.«

Die Markerversion von John White war nun wach. Jonas stellte fest, dass es ihn wirklich mitnahm, in das Gesicht des alten Mannes zu schauen, in dem die unheimlichen starren Augen wie aufgepfropft auf den geschlossenen Lidern saßen.

»Öffne sie«, flüsterten der Marker und der echte John White zusammen. Dann setzte sich der Marker auf und sein Oberkörper löste sich vom echten Mann. Jonas zuckte zusammen. Auch das sah nicht richtig aus. Doch dann lenkte ihn die Beobachtung des Markers zu sehr ab.

Dieser redete immer noch, auch wenn Jonas ihn nicht mehr verstand. Er gestikulierte und gab offensichtlich genaue Anweisungen, wie die Truhe zu öffnen war. Der Junge, der sie gefunden hatte, hockte daneben und hatte die Hände auf den Riegel gelegt.

»Wir können genauso gut nachsehen, was drinnen ist«, sagte Jonas, der sich bemühte, gelassen zu klingen, als sei er es gewöhnt, dass Halbmarker geisterhafte Anweisungen gaben.

Er legte die Hände auf die gleiche Stelle wie der Markerjunge und ahmte jede seiner Bewegungen nach. Als der Junge schließlich den Deckel anhob, musste Jonas ein bisschen fester drücken. Er hoffte, dass keines der Mädchen bemerkte, wie sehr er sich dabei anstrengte.

»Was ist drinnen?«, fragte Katherine. »Andreas Familienschatz?«

Der Markerjunge holte bereits den ersten Gegenstand heraus. Jonas sah ihn an, stutzte und spähte selbst in die offene Truhe.

»Malpinsel?«, fragte er ungläubig. »Wer schleppt denn Malutensilien um die halbe Welt?«

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