Achtundzwanzig

»He!«, schrie Andrea und schwenkte hilflos die Arme. »Wartet auf uns!«

Die Markerjungen paddelten weiter.

»Beeil dich mit dem Kanu, Jonas!«, rief Katherine ganz aufgeregt.

»Es gibt kein Kanu!«, rief Jonas zurück. »Jedenfalls kein echtes!«

»Was?«, schrie Katherine zurück.

Die beiden Mädchen hasteten zum Wasser, um sich selbst am Ufer umzusehen.

»Vielleicht klappt es mit dem Ast besser, als wir glauben?«, meinte Jonas.

Der Ast sackte bereits ins Wasser. Eine Welle rollte über ihn hinweg und Andrea griff gerade noch rechtzeitig nach hinten, um ihren Großvater davor zu bewahren, ins Wasser zu rollen. Weiter draußen wäre er mit Sicherheit hineingefallen.

»Oder wir schwimmen?«, änderte Jonas seinen Vorschlag ab. »Ich habe John White gestern ja auch getragen.«

Katherine fixierte ihn mit einem vernichtenden Blick. Sie musste nicht erst aussprechen, was sie dachte: Bist du verrückt? Sollen wir alle ertrinken? Siehst du denn nicht, wie weit das nächste Land entfernt ist?

Das nächste Land war ein schmaler Streifen am Horizont. Alles war so flach, dass Jonas nicht mit Sicherheit sagen konnte, ob es wirklich Land war. Das schmale Band aus Grün und Braun mochte ebenso gut eine optische Täuschung sein.

Wer konnte schon sagen, wie weit es bis zur Insel Croatoan war?

»Zwei!«, schrie Andrea in die Luft. »Wenn du uns wirklich helfen willst, dann gib uns ein Kanu! Mehr brauchen wir nicht!«

Nichts geschah. Kein Kanu schwebte vom Himmel.

Andrea sackte neben ihrem Großvater zusammen.

»Das passt«, murmelte sie. »Er hat die ganze Zeit mit uns gespielt. Und jetzt seht euch meinen Großvater an!«

John Whites Haut wirkte kälter und feuchter denn je. Ein gequälter Ausdruck lag auf seinem Gesicht, als würden sich ihm überall kleine Zweige und andere spitze Triebe in den Rücken bohren.

»Vielleicht ist das Zeug, das ich für Farbe gehalten habe, in Wirklichkeit Arznei?«, überlegte Jonas.

»Würde Zwei uns nicht wissen lassen, wenn er wirklich helfen wollte?«, fragte Katherine zurück. »Damit wir Andreas Großvater nicht aus Versehen vergiften?«

»Wenn Zwei uns wirklich helfen wollte, würde er uns ein bisschen mehr zukommen lassen als >Mit besten Grüßen< und >Ihr macht das toll<«, murmelte Andrea. »Und ... ach ja, >So kannst du deine Eltern retten<. Es ist alles gelogen.«

Jonas blickte zu ihr hinüber und sah, dass ihr die Tränen in die Augen stiegen.

»Vergiss Zwei«, sagte er zu ihr. »Wir kommen von dieser Insel runter. Wir entziehen uns seinen Plänen. Wir holen die Markerjungen ein und finden deinen Marker. Und wenn wir selbst ein Kanu bauen müssen aus diesem .«

Baumstamm, wollte er sagen. Direkt am Ufer trieb ein umgestürzter Baum im Wasser. Er war die ganze Zeit über da gewesen, schon als Jonas mit der Suche nach einem Kanu angefangen hatte. Doch in diesem Moment wehte der Wind ein paar tote Blätter fort und Jonas sah, dass der Stamm mit einem primitiven geflochtenen Seil an einem Baum festgebunden war.

Warum sollte jemand einen Baumstamm festbinden? War der Stamm vielleicht gar kein Stamm?

Jonas sah zu den Markerjungen hinüber, die in ihrem Markerkanu davonpaddelten. Er kniff die Augen zusammen und versuchte sich vorzustellen, wie die Unterseite ihres Kanus aussehen mochte, der Teil, der sich unterhalb der Wasseroberfläche befand. Er erinnerte sich an einen Wassersportlehrer im Pfadfinderlager, der sie im Einführungskurs pausenlos ermahnt hatte, die Geschichte zu respektieren. Der Lehrer war ihm damals wie ein verrückter alter Mann vorgekommen, aber hatte er ihnen nicht erzählt, dass die amerikanischen Ureinwohner sich Kanus angefertigt hätten, indem sie Baumstämme mithilfe von Feuer aushöhlten? Und würde das nicht bedeuten, dass die Kanus von außen weiter wie Baumstämme ausgesehen haben mussten?

Jonas setzte den Fuß seitlich auf den Stamm und rollte ihn ein wenig herum. Er hatte nicht fest genug zugetreten, um ihn ganz herumzurollen, daher verursachte der Stamm eine große Welle, als er wieder in seine Ausgangslage zurückrollte. Jonas sprang zurück, um nicht völlig durchnässt zu werden.

Doch er hatte genug gesehen. Er hatte gesehen, dass die andere Seite des Stamms ausgehöhlt war.

»Ich hab das Kanu gefunden!«, schrie er. »Ich hab es gefunden!«

»Dann bring es hier rüber«, erwiderte Katherine. »Bevor wir die Marker aus den Augen verlieren!«

»Ihr müsst mir helfen!«, rief Jonas zurück. »Ich kann nicht alles allein machen!«

Das war unfair, denn Katherine und Andrea hatten sich ebenso abgemüht wie er, John White auf dem Ast hierherzubefördern. Aber Jonas war nass, müde, hungrig und kaputt und er wusste, dass es an ihm war, ins Wasser zu springen und das Kanu umzudrehen.

Sie waren alle nass, müde, kaputt und gereizt, als sie das Kanu endlich losgebunden, umgedreht, ausgeleert und mit John White und seiner Truhe beladen hatten. Sie brauchten zu dritt fünf Anläufe, ehe sie es schafften, das Kanu umzudrehen. Womöglich hätten sie es schon beim vierten Mal geschafft, hätte nicht Katherine in dem Moment, als sie das Kanu hochhoben, gesagt: »Wartet mal! Was sollen wir eigentlich als Paddel benutzen?«

Jonas konnte das Kanu an der Seite nicht länger festhalten. Es knallte ihm auf die Schulter und drückte ihn unter Wasser, dass er in der Luftblase unter dem Kanu wieder auftauchte.

Ach ja, dachte er und erinnerte sich an einen weiteren Rat seines verrückten Wassersportlehrers aus dem Pfadfinderlager. So soll man ein Kanu umdrehen. Von der Unterseite aus.

Etwas schlug ihm auf den Kopf und er griff danach, während er untertauchte, sich nach rechts abstieß und außerhalb des Kanus wieder auftauchte.

»Ich hab rausgefunden, wie wir es machen müssen!«, erklärte er den Mädchen und reckte triumphierend die Arme. Er beschloss ihnen lieber nicht zu sagen, dass er das eigentlich von Anfang an hätte wissen müssen.

»Und du hast ein Paddel gefunden!«, rief Andrea.

Jonas sah auf das Ding in seiner Hand. Es war ein zurechtgeschnittenes Holzstück, das in etwa die Form eines Paddels hatte. Hm. Vielleicht hatte der verrückte Wassersportlehrer ihnen auch gesagt, dass der beste Platz zum Verstauen der Paddel ein umgedrehtes Kanu war.

Am Ende tauchten sie alle drei unter das Kanu und hoben es an. Dabei fanden sie auch das andere Paddel und einen hölzernen Gegenstand, der aussah wie ein Rechen. Ihnen blieb keine Zeit herauszufinden, wofür er gut sein sollte, weil die Markerjungen immer weiter fortpaddelten, daher warfen sie den Rechen einfach ins Kanu. Selbst nachdem sie John White und seine Truhe dazugepackt hatten, gab es noch reichlich Platz für sie und den Hund.

Hat der Typ im Pfadfinderlager nicht gesagt, dass diese Kanus mitunter bis zu zwanzig Leute aufnehmen konnten?, überlegte Jonas. Oder war das etwas, was Mrs Rorshas ihnen von den Indianern erzählt hatte? Er war sich nicht sicher. Er war zu benommen, orientierungslos und erschöpft, um noch klar denken zu können. Und jetzt mussten er und eines der Mädchen ein Kanu paddeln, das eigentlich von zwanzig Männern gesteuert werden sollte?

Er beschloss, den Mädchen gegenüber lieber nichts davon zu sagen.

»Ich setze mich nach vorn«, bot er an und kletterte ins Boot. »Kann eine von euch uns abstoßen?«

»Ich übernehme das«, sagte Andrea. »Beeilt euch!«

Die Markerjungen und ihr Kanu wurden in der Ferne immer kleiner.

Als Jonas und Katherine ihre Plätze eingenommen hatten, gelang es Andrea erstaunlich schnell, sie vom Ufer abzustoßen.

»Und los!«, rief sie.

»Du paddelst auf der gegenüberliegenden Seite von mir!«, rief Jonas über die Schulter. Er wünschte, sie hätten Zeit gehabt, ihre Paddelstrategie abzusprechen. »Katherine, sag Andrea -«

»Sie weiß Bescheid!«, rief Katherine, die neben John White und seiner Truhe hockte, nach vorn. »Sie ist schon dabei. Drück auf die Tube.«

Jonas paddelte mit aller Kraft. Seine vom Kanu gerammte Schulter schmerzte bei jedem Schlag, doch es half, als er die Seite wechselte.

»Wechsel!«, rief er nach hinten zu Andrea.

»Hat sie schon gemacht!«, rief Katherine nach vorn.

Jonas paddelte weiter.

Zuerst schien es, als wären sie gerade schnell genug, um die Entfernung zwischen sich und den Markern nicht größer werden zu lassen. Doch langsam und kaum wahrnehmbar merkte Jonas, dass sie den Markern näher kamen.

Paddele ich so viel schneller?, wunderte er sich und war ziemlich stolz darauf, dass er es schaffte, die muskulösen Marker auszustechen. Dann warf er einen kurzen Blick über die Schulter und begriff, dass nicht er es war, der sich so bärenstark ins Zeug legte. Es war Andrea.

Sie paddelte wie von Sinnen und tauchte das Blatt nur Sekundenbruchteile nachdem sie es herausgezogen hatte, wieder ins Wasser. Außerdem zog sie es genau im richtigen Winkel durchs Wasser, sodass es die größtmögliche Kraft entwickelte und das Kanu so schnell wie möglich vorantrieb.

Ach ja, erinnerte sich Jonas. Andrea war auch im Ferienlager. Und sie hat das Trockennahrungspellet gegessen, also hat sie wahrscheinlich mehr Energie als ich. Vielleicht war es voll mit Anabolika? Womöglich hat das Pellet auch Dare aufgepeppt?

Ihm blieb keine Zeit, diesen Gedanken weiterzuver-folgen.

»Gute Arbeit!«, rief er Andrea zu.

»Mach weiter!«, schrie Katherine.

Das Paddeln fiel Jonas immer schwerer. Es wurde zur Strafe. Solange sie in Sichtweite der Marker blieben, kam es doch sicher nicht darauf an, dass John White jede einzelne Sekunde mit seinem Marker zusammen war?

Jonas riskierte einen weiteren Blick auf den Mann. Wie war das möglich? Wie konnte der Mann noch blasser aussehen als zuvor? Und zitterte er etwa? Bei dieser Hitze, obwohl Jonas, der gerade erst aus dem Wasser aufgetaucht war, schon wieder schwitzte?

Er konzentrierte sich voll und ganz darauf, das Paddelblatt ins Wasser einzutauchen, durch- und wieder herauszuziehen. Eintauchen, durchziehen, raus; eintauchen, durchziehen, raus .

Unter größten Anstrengungen schoben sie sich an das Markerkanu heran, bis die Spitze des echten Kanus das Ende seines Markers berührte.

»Na also!«, jubelte Katherine. »Wir sind fast da!«

Jonas hatte das Gefühl, als würden ihm gleich die Arme abfallen. Er hielt das Paddel schon so lange umklammert, dass seine Hände inzwischen völlig taub waren - was gut war, weil sie jede Menge Blasen hatten. Er traute sich noch einen letzten Spurt zu, um zu den Markern aufzuschließen. Doch wie sollte er danach weiterpaddeln?

Das Kanu schoss vorwärts. Andrea paddelte noch kräftiger als zuvor, was Jonas so beschämte, dass er ebenfalls beschleunigte.

Er glitt durch den Körper des ersten Markerjungen. Zog mit John Whites Füßen gleich, mit seinem Bauch, dann mit seinem Kopf. Das Kanu stockte, es fiel zurück, holte auf, fiel wieder zurück, holte auf. Und dann sorgte Jonas mit einem letzten Paddelschlag dafür, dass sich das echte Kanu und sein Marker exakt überlagerten.

Jonas sah zu dem zweiten Markerjungen hinüber, der direkt neben ihm paddelte.

»He«, murmelte er. »Wird es nicht langsam Zeit für eure Kaffee-, äh, Trockenfleischpause?«

Hungrig, durstig und erschöpft, wie er war, kam ihm das unglaublich witzig vor. Richtig sehen konnte er den Markerjungen nicht, nur als Echo seiner selbst: Hin und wieder löste sich ein Arm von Jonas' Arm; oder eine extra Nase beugte sich aus seinem Gesicht nach vorn. Es war, als spreche er mit seinem eigenen Schatten, als gleite er durch Nebel.

Und dann hörte der Marker urplötzlich auf wie ein Schatten oder Nebel auszusehen. Er hörte auch auf wie ein Marker auszusehen. Stattdessen wirkte er wie ein richtiger Junge mit Armen und Beinen, einem Oberkörper und einem Kopf, und er versuchte den gleichen Platz einzunehmen wie Jonas. Es war, als würde jemand von oben auf ihn drauffallen, von unten anspringen und von allen Seiten auf ihn einstürmen - alles auf einmal. So als hätten Zeit und Raum einen Schluckser von sich gegeben und die andere Person hätte aus irgendwelchen Gründen einen größeren Anspruch auf Jonas' Platz als dieser selbst.

Er fiel augenblicklich aus dem Kanu.

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