Einunddreißig

Jonas sprang auf und flüchtete auf die Seite, wobei er schützend die Arme vor Katherine und Andrea hielt. Er wusste nicht, was auf sie zukam, aber es erschien ihm klug, auf der anderen Seite des Feuers zu bleiben.

Das letzte Gebüsch aus Riesenblättern teilte sich und zum Vorschein kam .

Antonio.

Er rannte, so schnell er konnte, auf sie zu und stob nur so durch den Sand.

»Ist irgendwas hinter dir her?«, rief Jonas ihm entgegen.

Antonio gab keine Antwort. Er hielt den Kopf gesenkt und konzentrierte sich ausschließlich aufs Laufen. Seine Füße berührten kaum den Boden. Er war noch mehrere Schritte von den anderen entfernt, als er plötzlich absprang und sich in einem erstaunlich hohen Bogen durch die Luft katapultierte.

Das wird wehtun, wenn er landet, dachte Jonas. Von dort, wo er stand, hatte es den Anschein, als wollte Antonio in den Sand eintauchen.

Nein, begriff er dann. In seinen Marker.

Antonio stieß mitten in der Luft mit seinem Marker zusammen. Dieser war gerade im Begriff, Fischgräten zum Feuer zu tragen, sodass er und Antonio sekundenlang aussahen wie ein Monster mit zwei Köpfen, vier Armen und vier Beinen, die in merkwürdigen Winkeln abstanden, und mit Fischskeletten an zwei seiner vier Hände. Dann richtete sich Antonios Körper auf, drehte sich um und verschmolz mit dem Marker.

»Ist irgendwas hinter dir her?«, schrie Jonas ihm abermals zu.

Fast unmerklich löste sich Antonio so weit von seinem Marker, dass er den Kopf schütteln konnte. Nein. Er wurde nicht verfolgt.

Trotzdem starrte Jonas noch eine Weile in den Wald und lauschte darauf, ob es im Unterholz zu rascheln begann. Doch nur der Wind strich durch die riesigen Blätter.

»Was war das denn?«, wollte Katherine wissen.

Wieder stieg aus dem Wald ein Heulen auf.

»Bruder Wolf weiß seine Worte wohl zu setzen«, begann der Marker/Antonio. Doch dann wandte Antonio abrupt den Mund ab. »Verrückter Marker!«, murmelte er.

Brendan lehnte sich mit dem Kopf in seinen Marker zurück und beugte sich gleich darauf wieder vor.

»Unsere Marker wissen, dass die Wölfe sich nicht in die Nähe des Feuers wagen werden«, erklärte er. »Sie haben keine Angst vor ihnen. Aber wenn wir von ihnen getrennt sind, wissen wir nie .«

Wenn er von seinem Marker getrennt war, hatte Antonio entsetzliche Angst vor den Wölfen, wurde Jonas klar. Selbst jetzt, wo er den Kopf nur ein kleines Stück zur Seite geneigt hatte, lief ihm der Schweiß über das Gesicht, er keuchte und sein Atem ging schwer. Besonders bizarr wurde sein Anblick dadurch, dass sein Brustkorb, der nach wie vor mit dem Marker verbunden war, sich in ruhigen und gleichmäßigen Abständen hob und senkte.

»Mein Marker hat vor nichts Angst«, sagte Antonio. Er löste sich noch ein wenig, um sich Brendan zuzuwenden. »Und deiner?«

Brendan schüttelte den Kopf.

»Eigentlich nicht«, sagte er langsam. »Ich meine, er weiß, dass schlimme Dinge passieren können: Wir könnten verhungern oder angegriffen werden und auf Millionen schreckliche Arten ums Leben kommen, aber wenn das passiert, dann weiß er, dass es der Wille des -«

»Sag es nicht!«, unterbrach ihn Antonio. »Sag bloß nicht >Großer Geist< oder so was Ähnliches. Das drückt es nicht richtig aus. Es lässt sich nicht übersetzen und sie würden doch bloß lachen.« Er löste seinen Arm vom Marker und gestikulierte aufgebracht in Jonas', Katherines und Andreas Richtung.

»Wir?«, fragte Katherine mit gespielter Unschuld. »Dann sag es in Algonkin. Das verstehen Jonas und ich. Wir helfen euch, es zu übersetzen.«

»Ist doch egal«, murmelte Antonio und wandte sich wütend ab. Verstohlen neigte er den Kopf seinem Marker zu, sodass nichts außer seinem Mund von ihm getrennt blieb. »Die Marker räumen auf und bereiten ein Nachtlager vor«, sagte er unwirsch. »Brendan, du soll-test dich besser wieder mit deinem Typen zusammentun, damit wir es auch richtig machen.«

»Alles klar«, sagte Brendan achselzuckend.

»Jonas, kannst du mir helfen, etwas beim Kanu zu suchen?«, fragte Katherine.

»Was denn?«, fragte Jonas.

»Ich, äh, ich glaube, ich habe ein Haarband verloren«, erwiderte Katherine. Jonas sah seine Schwester an.

»Du hast es im Haar«, stellte er fest.

Sie schüttelte den Kopf, dass ihr Pferdeschwanz hin-und herschwang.

»Doch nicht das Haarband«, sagte sie. »Ein anderes. Es könnte die Zeit für immer ruinieren, wenn wir es nicht finden.«

Obwohl er den ganzen Tag geschlafen hatte, war Jonas immer noch sehr müde. Allein der Gedanke ans Aufstehen erschien ihm unerträglich, ganz zu schweigen davon, zum Kanu laufen und nach einem blöden kleinen Haarband suchen zu müssen, das inzwischen vermutlich unter einer dicken Sandschicht begraben lag. Wie wichtig konnte ein einzelnes Haarband schon sein? Zwei hatte ganze Farbpötte in ein falsches Zeitalter geworfen.

Und fünf Kinder samt Hund.

»Kann dir Andrea beim Suchen nicht besser helfen?«, fragte er. »Sie ist ein Mädchen. Sie kennt sich mit Haarbändern viel besser aus.«

Katherine sah blitzschnell zu den anderen hinüber. Antonio und Brendan, die wieder ganz und gar mit ihren Markern vereint waren, beugten sich über das Feuer.

Andrea, mit Dare neben sich, sah auf ihren schlafenden Großvater hinab. Keiner von ihnen blickte in ihre Richtung.

Katherine stieß Jonas den Ellbogen in die Rippen.

»Au!«, rief dieser. »Was -«

Aber Katherine hatte bereits einen Finger auf den Mund gelegt. Sie wies mit dem Kopf nach rechts, in Richtung Kanu. Dann zeigte sie blitzschnell auf sich und Jonas und gab ihm mit einem Handzeichen zu verstehen, dass sie reden mussten.

»Ach, du meinst -«, begann Jonas.

Katherine schüttelte entschieden den Kopf und legte wieder den Finger auf den Mund. Sie packte Jonas am Arm und begann ihn mit sich zu ziehen.

»Also gut, also gut, ich komme ja schon!«, murmelte Jonas.

Sobald sie ein paar Schritte gegangen und außer Hörweite waren, platzte es aus Katherine heraus: »Du bist vielleicht schwer von Begriff! Du wärst garantiert der lausigste Spion der Welt! Meine Freundinnen hätten schon vor Ewigkeiten begriffen, dass ich mit ihnen allein reden will!«

»Kein Wunder!«, murmelte Jonas. »Die interessieren sich auch für Haarbänder.«

Katherine verdrehte die Augen. In der Nähe des Kanus ließ sie sich auf die Knie fallen und begann den Sand mit den Fingern durchzusieben.

Jonas stöhnte.

»Bitte sag mir, dass du nicht wirklich ein Haarband verloren hast«, sagte er.

Katherine hob gerade lange genug den Kopf, um ihn wütend anzufunkeln.

»Nein, aber es muss so aussehen, als ob du nach einem Gummiband suchst«, erinnerte sie ihn. »Für den Fall, dass jemand hersieht.« Sie wies mit dem Kopf zu den anderen hinüber.

Widerstrebend kniete sich Jonas neben seine Schwester und begann mit den Händen willkürlich Sand aufzuwerfen. Seine Knie taten weh. Seine Schultern ebenfalls. Und sein Kopf war immer noch benebelt. Der in der Sonne verschlafene und mit Albträumen verbrachte Tag hatte ihn nicht annähernd kuriert. Am schlimmsten aber war, dass es ihn schon wieder kalt überlief; kleine Angstschauer jagten ihm den Rücken hinunter und warnten ihn vor einer herannahenden Gefahr.

»Was hast du?«, fragte er Katherine, wobei seine Stimme rau und vorwurfsvoll klang. »Vertraust du Antonio und Brendan am Ende doch nicht?«

Katherine schob Sand beiseite und legte neuen Sand frei.

»Das ist es nicht«, flüsterte sie. »Ich ... ich traue ihren Markern nicht.«

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