Vierzig

Jonas wirbelte herum.

Ein Fremder stand hinter ihm. Wären sie im einundzwanzigsten Jahrhundert gewesen, hätte er den Mann als einen typischen Vertreter der Gattung Computer-freak beschrieben. Er hatte käsige Haut, als wäre er schon ewig nicht mehr vor die Tür gekommen. Sein blondes Haar stand in alle Himmelsrichtungen ab, als hätte er, wie Einstein, zu viele andere Dinge im Kopf, um ans Kämmen zu denken. Außerdem war sein Hemd auf der einen Seite in die Hose gesteckt und hing auf der anderen heraus, obwohl das, soweit es Jonas betraf, auch ein Modetrend der fernen Zukunft sein mochte.

»Zwei T. Chance, zu euren Diensten«, sagte der Mann und verbeugte sich leicht. Er kürzte die Verbeugung ein wenig ab und richtete sich hastig wieder auf, um Jonas prüfend ins Gesicht zu sehen. »Aber ich bin unvorsichtig. Wenn man bedenkt, dass du Antonio auf den reinen Verdacht hin, er könnte für mich arbeiten, verprügeln wolltest, siehst du es mir sicher nach, dass ich mich nicht in eine derart angreifbare Position bringen will.« Er legte nachdenklich den Kopf schief. »Obwohl verdat-tert eure Gefühlslage aller Voraussicht nach wesentlich treffender beschreibt als wütend.«

»Ich ... Sie ...«, Jonas brachte kaum ein Wort zustande, geschweige denn irgendwelche Boxhiebe.

»Seht ihr?«, sagte der Mann. »Genau wie ich vorhergesagt habe.«

Jonas kapierte immer noch nicht, was vor sich ging, aber es gefiel ihm nicht, Zwei zu bestätigen.

»Also ...«, nahm er noch einmal Anlauf und versuchte seinen Verstand so weit zusammenzunehmen, dass er eine vollständige Frage stellen konnte. »Ist es das hier, worauf Sie die ganze Zeit aus waren?« Er machte eine lasche Handbewegung in Andreas Richtung, die sich im Kanu tief über ihren Großvater beugte. »Dass Andrea und ihr Großvater - ich meine, Virginia Dare und John White - zueinanderfinden?«

»Ganz genau«, sagte Zwei und strahlte.

Nicht weniger verwirrt als vorher kniff Jonas die Augen zusammen. Er hatte sich so sehr daran gewöhnt, an Zwei als jemand Böses zu denken, als jemanden, dem man sich widersetzen musste. Widerstehen.

»Sie wollen, dass Andrea glücklich ist?«, fragte Jonas.

»Du nicht?«, fragte Zwei zurück.

»Doch, sicher ... aber so ist es ursprünglich nicht gewesen«, sagte Katherine. »Das hier war nicht vorgesehen.«

Zwei seufzte. Er warf einen Blick auf etwas in seiner Tasche.

»Ihr habt drei Minuten und einundvierzig Sekunden gebraucht, um zu diesem Schluss zu kommen«, sagte er. »Das ist in etwa das, was ich vorhergesehen hatte. Ich lag nur zwei Sekunden daneben. Trotzdem ist es ein bisschen enttäuschend. Ihr habt gerade den größten wissenschaftlichen Durchbruch seit der Entdeckung des Zeitreisens miterlebt und euch fällt nichts anderes ein als: >Das hier war nicht vorgesehen

Es war gemein, wie er Katherine nachahmte, und ließ sie kindisch und albern wirken.

»Wie eure Freundin Andrea so schön festgestellt hat, war die ursprüngliche Zeit kein kostbares, absolut vollkommenes Juwel«, sagte Zwei. »Ist es nicht besser, einen alten Mann und ein kleines Mädchen glücklich zu machen?«

Es missfiel Jonas, dass Zwei Andrea als klein bezeichnete.

»Aber . aber . wenn man die Zeit verändert, kann es passieren, dass man ein gefährliches Paradox verursacht«, wandte er ein. »Dass die eigenen Eltern nie geboren werden. Oder man verändert etwas anderes und, keine Ahnung, in ein paar Hundert Jahren gewinnt dann der Süden den amerikanischen Bürgerkrieg und nicht der Norden. Die Sklaverei wird nicht abgeschafft. Hitler gewinnt den Zweiten Weltkrieg. Oder ...«

Jonas suchte nach weiteren schlimmen Beispielen, die aufzeigen sollten, wie die Geschichte noch aus dem Ruder laufen könnte. Doch er konnte nicht klar denken, weil Zwei ein derart spöttisches Grinsen aufgesetzt hatte, dass er fast gluckste.

»Und wenn wir nun dafür sorgen, dass Hitler den Zweiten Weltkrieg gar nicht erst anfängt?«, fragte er mokant. »Oder dass die Sklaverei in den Vereinigten

Staaten niemals Fuß fasst und es gar nicht zum Bürgerkrieg kommt, weil die Sklaverei nicht existiert? Also gibt es auch keinen Rassismus, weil es die Erblast der Sklaverei nicht gibt . Martin Luther King wird nie erschossen; die Navajo-Indianer werden nie auf den Pfad der Tränen geschickt, die Invasion in der Schweinebucht findet nicht statt und die USS Maine geht niemals unter ...«

»All das wird passieren und nur wegen Andrea und ihrem Großvater?«, fragte Jonas ungläubig.

»Nein«, sagte Zwei. »Ich bin mir zu 99,9998 Prozent sicher, dass nichts davon wegen Andrea und ihrem Großvater geschehen wird. Aber denk doch mal nach! Wir fangen klein und fast unsichtbar an - mit einem Mädchen und ihrem Großvater auf einer abgelegenen Insel -, und wer weiß, was dann passiert? Vielleicht ist alles andere auch möglich.«

Er strahlte wieder.

Jonas erinnerte sich an etwas, das Katherine gesagt hatte, ganz am Anfang, als sie zum ersten Mal davon hörten, dass er und sein Freund Chip etwas mit Zeitreisen zu tun hatten: Wenn man in der Zeit zurückreisen will, rettet man Abraham Lincoln davor, erschossen zu werden. Oder John F. Kennedy. Oder man verhindert, dass die Titanic untergeht. Oder wendet den 11. September ab. Oder - jetzt weiß ich es - man verübt ein Attentat auf Hitler, bevor er den Zweiten Weltkrieg anfangen kann.

Vielleicht hatte Zwei das mit angehört.

»Dann versuchen Sie also, alternative Dimensionen zu schaffen«, sagte Jonas, stolz, dass er darauf gekom-men war. »In denen es verschiedene Möglichkeiten gibt.«

»Nein«, sagte Zwei. »Es geht nicht um Alternativen. Ihr habt keine alternative Dimension betreten, als Andrea ihren Marker zwang, aus dem Wald zu kommen. Die Zeit selbst veränderte sich. Es gibt nur einen Zeitstrahl und nur eine Geschichte. Das Reisen durch die Zeit lässt es nur nach mehr aussehen.«

»Aber die Marker zeigen den ursprünglichen Verlauf der Geschichte, und dann ist da der Ablauf, also das, was wir sehen, wenn wir in der Zeit zurückreisen ...«, unterbrach ihn Jonas. »Das sind doch schon zwei Varianten.«

»Du irrst dich«, sagte Zwei. »Marker durchleben die Zeit nur einmal, nicht öfter als irgendjemand sonst. Nur war es bisher so, dass sie alles und jeden auf einen scheinbar vorbestimmten Pfad gelotst haben. Den Schicksalsweg, könnte man sagen. Die Marker selbst waren unveränderbar. Bis jetzt.« Obwohl Jonas es nicht für möglich gehalten hätte, wurde Zweis Grinsen noch breiter. »Ihr beide habt soeben die erste Zeitverschiebung der Geschichte miterlebt. Die Entgleisung des Schicksals. Das Ende des Schicksals. Es ist... als wärst du Watson und ich Alexander Graham Bell. Du bist der kleine Junge, der den ersten Flugversuch beobachtet, und ich bin Orville Wright. Du bist eine Eidechse in der Wüste von New Mexico und ich bin Robert Oppenheimer.«

Jonas hatte nicht den leisesten Schimmer, wer Robert Oppenheimer war, fand es aber trotzdem ein bisschen beleidigend, als Eidechse bezeichnet zu werden.

»Moment«, sagte Katherine und stampfte mit dem Fuß auf. »Sie wollen uns wirklich einreden, das hier wäre so ähnlich, als hätten Sie gerade die Atombombe erfunden?«

Oh, dachte Jonas. Also das hat Robert Oppenheimer gemacht.

»Ich will hier keinen moralischen Vergleich anstellen«, sagte Zwei. »Ich sage nur ... dass es genauso bahnbrechend ist. Die Auswirkungen werden bis in alle Ewigkeit nachhallen.«

Katherine sah ihn wütend an.

»Sie sind verrückt«, sagte sie. »Und anmaßend.«

»Na, na«, sagte Zwei. »Findet ihr den ursprünglichen Verlauf denn gut?«

Jonas öffnete den Mund. Und machte ihn wieder zu. Auch Katherine gab keine Antwort, fiel ihm auf.

»Im ursprünglichen Verlauf der Geschichte fanden Virginia Dare und ihr Großvater nie wieder zusammen«, sagte Zwei und zum ersten Mal schlich sich ein Anflug von Trauer in seine Stimme. »Es ging knapp daneben, wie wir sagen. Die Zeit wird dort, wo etwas so knapp danebengeht, fast durchscheinend . Virginia Dare stand da und ihr Großvater war nur wenige Meter von ihr entfernt und trotzdem würden sie das nie herausfinden. Es war ihnen bestimmt, ins Grab zu sinken, ohne etwas über das Schicksal des anderen zu erfahren. Und das Grab wartete schon bald auf sie, das könnt ihr mir glauben. Findet ihr nicht, dass die Zeit da einen Fehler gemacht hat? Sollte man den nicht korrigieren?«

Die Frage hing in der Luft. Jonas sah Zweifel über das Gesicht seiner Schwester huschen.

»Sie manipulieren uns schon wieder«, warf er Zwei vor. »Das machen Sie die ganze Zeit!«

Zwei hob eine Augenbraue.

»Vielleicht«, sagte er. »Aber vielleicht auch weniger, als du denkst.«

»Sie haben Andrea belogen, damit sie den Definator verstellt!«, sagte Katherine.

»Stimmt«, bestätigte Zwei. »Das war notwendig, auch wenn ich bedaure, dass sie dadurch leiden musste.«

»Sie wollten, dass wir den Definator verlieren!«, forderte ihn Jonas heraus.

»Natürlich«, stimmte Zwei ihm zu.

»War Ihnen nicht klar, welche Angst uns das einjagen würde?«, fragte Jonas.

»Ich hatte allen Grund anzunehmen, dass ihr klarkommen würdet«, sagte Zwei.

»Und dann haben Sie ... irgendwie dafür gesorgt, dass Geht Voller Stolz und Der Vieles Überlebt nicht da waren, um John White zu retten«, sagte Katherine.

Zwei zuckte die Achseln.

»Ich habe Brendans und Antonios Rückkehr in ihre angestammte Zeit nur um ein paar Tage verzögert«, erwiderte er. »Genauso wie ich Andreas Rückkehr nur leicht verändert - und sie nach Roanoke statt nach Croatoan geschickt habe.«

»Das haben Sie getan, damit wir John White retten, nicht?«, vermutete Jonas. »Damit . Andrea ihn lieb gewinnt?«

»Bingo!«, sagte Zwei, der schon wieder grinste.

»Und wenn wir ihn nicht gerettet hätten?«, hakte Katherine nach. »Wenn er ertrunken wäre?«

»Tja, ich musste Dare zwar mit ein paar Hundekeksen bestechen, damit er rechtzeitig bellt«, gab Zwei zu. »Das war ein bisschen heikel. Aber als ihr dann am Strand wart und den Mann gesehen habt, gab es praktisch keine Chance mehr, dass ihr nicht versuchen würdet ihm zu helfen.«

»Andrea hätte ertrinken können!«, sagte Jonas. »Oder ich!«

»Nö«, sagte Zwei kopfschüttelnd. »Das ist nicht mal statistisch möglich. Ihr wart beide kräftig und entschlossen genug dafür.«

Jonas runzelte die Stirn. Etwas machte ihm immer noch zu schaffen.

»Woher wussten Sie überhaupt, dass wir Dare dabeihaben würden?«, fragte er. »Das hatte HK gar nicht für uns geplant. Er hat Dare nur mitgeschickt, weil sein Zeitanalyst gesagt hat .«

Jonas brach ab, weil Zwei eine Art Zeitmesser aus der Tasche zog.

»Hmm«, machte dieser. »Eigentlich hatte ich vorhergesehen, dass ihr das inzwischen herausgefunden haben würdet. Ihr liegt elf Sekunden daneben. Aber ein kleiner Tipp ist in Ordnung. Wie ihr euch vielleicht schon gedacht habt, ist Zwei T. Chance nicht der Name, den meine Eltern mir gegeben haben. Ich habe ihn mir erst kürzlich zugelegt, weil er so gut zu meinem Bestreben passt, die Geschichte zu verändern. Es könnte sein, dass ihr schon früher von mir gehört habt, unter einem anderen Namen: Sam vielleicht? Sam Chase?«

Sam, überlegte Jonas. Sam Chase. Zu Hause, in der Schule, kannte er zwei Sams und einen Samuel und einen Sammy in seiner Fußballmannschaft. Aber all das schien so weit weg, so lange her zu sein - oder noch so lange hin. Selbst das letzte Mal, als er den Namen Sam gehört hatte, schien schon ewig zurückzuliegen. Es war HK gewesen, der gesagt hatte: Sam ist der genialste Zeitanalyst, mit dem ich je zusammengearbeitet habe.

Jonas blieb der Mund offen stehen und er spürte, wie ihm die Augen aus dem Kopf traten.

»Sie sind HKs Zeitanalyst?«, keuchte er.

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