Achtunddreißig

Das frische Grab, überlegte Jonas. Ist dieser Marker hier, weil Zwei Virginia Dare ermordet hat?

Dann wurde ihm klar, dass er vor lauter Aufregung die Markergesetze außer Acht gelassen hatte. Niemand konnte Virginia Dare ermordet haben - jedenfalls noch nicht. Denn Andrea war Virginia Dare. Und Andrea war am Leben, sie stand unten beim Kanu und rief in diesem Moment: »Jonas?«

Jonas gab keine Antwort.

Der Marker ist hier, weil Gary und Hodge Andrea/Virginia Dare aus der Geschichte entführt haben, hielt er sich vor Augen. Und weil Zwei dafür gesorgt hat, dass sie nicht an den richtigen Ort und in die richtige Zeit zurückgekehrt ist.

Das Markermädchen stand auf Zehenspitzen und spähte durch die Äste, geradewegs zum Kanu hinunter.

Sie sieht sie, dachte Jonas. Sie sieht Geht Voller Stolz und Der Vieles Überlebt. Ob sie auch ihren Großvater sehen kann?

Das Markermädchen formte mit dem Mund ein überraschtes Oh und sah auf ihre Füße hinab. Offensichtlich hatte sie mit den nackten Zehen einen Zweig zertreten oder ein anderes kleines Geräusch gemacht.

Unten beim Kanu rief Antonio mit seiner Markerstimme: »Da ist es wieder! Es klingt wie ein rastloser Geist! Fahren wir!«

Deshalb haben die Markerjungen Geräusche gehört, die Antonio und Brendan nicht hören konnten, überlegte Jonas. Es war das Markermädchen, das hier herumgestreift und durch den Wald gewandert ist.

»Jonas!«, rief Katherine hinter ihm. »Ich meine es ernst. Die Marker werden nicht auf dich warten! Hol Dare und komm!«

Aber Jonas wollte warten. Er wollte abwarten, bis Andreas Marker herauskam und aus dem Wald trat. Dann würde Brendans Marker sie sehen und Antonios ebenfalls und vielleicht war sogar John Whites Marker wach genug, um sie zu sehen.

Und was immer als Nächstes geschehen sollte - was auch immer im ursprünglichen Verlauf der Zeit geschehen war -, würde geschehen.

Doch Andreas Marker trat nicht vor, er schreckte zurück.

»Ist schon gut«, flüsterte Jonas. »Wir meinen es nicht böse.«

Aber natürlich konnte das Markermädchen ihn nicht hören. Sie zog sich weiter in den Wald zurück und glitt tiefer in die Schatten.

Sie hatte nicht die Absicht, sich zu zeigen und die anderen Marker zu begrüßen - Brendan, Antonio und ihren Großvater. Sie fürchtete sich vor ihnen. Sie versteckte sich.

»Was machst du da, Jonas?«, rief Katherine wieder. »Wenn du jetzt nicht kommst, musst du schwimmen!«

Was sollte er tun? Sie waren in die Vergangenheit gereist, um Andrea mit ihrem Marker wiederzuvereinen. Ein klares Ziel. Doch das war, bevor sie herausgefunden hatten, dass es Zwei gab und dass Andrea den Code im Definator verändert hatte. Bevor John White aufgetaucht war, Brendan und Antonio auf der Bildfläche erschienen und sie entdeckt hatten, dass Croatoan eine Insel des Todes war. Was bewirkten alle diese Veränderungen? Änderten sie etwas an der Notwendigkeit, dass Andrea sich mit ihrem Marker vereinen musste? Was würde geschehen, wenn dies die falsche Zeit und der falsche Ort dafür waren?

Und wie sollte Jonas das beurteilen?

»Augenblick noch«, rief Jonas Katherine zu, obwohl er wusste, dass nicht sie es war, die entschied, ob sie abfuhren oder blieben.

Wie viel kann ich entscheiden?, überlegte er. Wie viel soll ich überhaupt entscheiden, wo es doch Andreas Leben ist, nicht meins?

Er sah sich nach dem Kanu um. Katherine hatte ein wenig übertrieben. Noch waren sie nicht im Begriff abzulegen. Brendan band das Kanu gerade los. Ein bisschen Zeit blieb Jonas noch. Ein oder zwei Minuten.

Er holte tief Luft.

»Andrea!«, rief er unsicher. »Komm schnell. Ich habe deinen Marker gefunden!«

»Was?«, schrie Katherine. »Jetzt? Machst du Witze?«

Brendan erstarrte, obwohl er gerade das Seil ins Kanu zurückwerfen wollte und sein Marker ohne ihn weitermachte. Antonio fiel fast das Paddel aus der Hand. Und Andrea sprang aus dem Boot.

»Ich wusste, dass wir sie finden!«, rief sie aus. »Ich wusste, dass John White seine Enkeltochter wiedersieht!«

Andrea rannte auf Jonas, Dare und den Marker zu. Sie blieb erst stehen, als sie neben Jonas anlangte und direkt vor ihrer Doppelgängerin stand. Ihr stockte der Atem.

»Du hast keine Zeit, herumzustehen und darüber zu staunen, wie seltsam das alles ist«, murmelte Jonas.

»Wie komme ich ...?«, fragte Andrea. »Muss ich springen? Die Luft anhalten? Die Augen zumachen? Rückwärtsgehen?«

Jonas gab ihr einen Schubs. Er hätte es sicher behutsamer anstellen können, doch er wusste, dass ihnen die Zeit davonlief.

Immer noch mit offenem Mund stolperte Andrea vorwärts. Sie wirbelte herum, schob ihre Konturen über die Konturen, ihre Gliedmaße über die Gliedmaße des Markermädchens: Sie hatte einen Arm um einen Baumstamm geschlungen und einen Fuß angehoben, als wollte sie gleich davonstürmen.

Dann tauchte ihr Gesicht aus dem Gesicht des Markermädchens auf.

»Sie lebt nicht auf dieser Insel«, erklärte Andrea atemlos. Sie ist von weit her auf dem Festland gekommen. Sie weiß, dass die Skelette hier sind, und will sie begraben, um die Leute von Croatoan zu ehren . Sie hat nicht damit gerechnet, dass sonst noch jemand auf die Insel kommt!«

»Schön«, sagte Jonas ungeduldig. »Und?«

Andrea lehnte das Gesicht zurück in das ihres Markers und tauchte gleich darauf wieder auf. Diesmal hatte sich ihr Gesichtsausdruck verändert, deshalb war es leicht, sie und ihren Marker auseinanderzuhalten. Das Markermädchen wirkte ein wenig besorgt.

Andrea sah wütend aus.

»Nein!«, schrie sie. »Das ist nicht fair! So darf es nicht ablaufen!«

»Wie?«, fragte Jonas.

»Sie will sich verstecken, bis die Fremden abfahren«, erklärte Andrea. »Sie weiß nicht mal, dass ihr Großvater bei ihnen ist! Sich so nahe zu sein und sich doch nicht zu begegnen - das lasse ich nicht zu!«

»Andrea«, sagte Jonas, dass es fast klang wie eine Entschuldigung. »Das ist nicht deine Entscheidung. Du kannst deinem Marker nichts vorschreiben. Du kannst nur für dich selbst entscheiden.«

Jonas überlegte, wie er ihr sämtliche potenziellen Möglichkeiten aufzählen sollte. Idealerweise würden sie sich alle entscheiden können. Jeder konnte mit seinem jeweiligen Marker zusammenbleiben, egal was geschah. Oder sie blieben alle auf Croatoan und ließen die Marker von Brendan, Antonio und John White als Geister allein weiterziehen. Oder die Kinder brachen alle zusammen in einem Kanu auf und ließen Andreas herbeigesehnten Marker zurück. Nur Jonas und Kathe-rine hatten keinen Marker, für oder gegen den sie sich entscheiden mussten, wenn es galt, zwischen ihren Freunden und dem Schicksal abzuwägen.

Die Zeit war zu knapp, um irgendetwas davon zur Sprache zu bringen. Wieder schrie Andrea los.

»Nein! Mein Marker wird ihrem Großvater nie begegnen! Und mein Großvater wird mich niemals wirklich sehen! Nein! Das kann nicht sein! Du-kommst-mit-mir!«

Jonas war klar, dass sie nicht mit ihm sprach.

Andrea hatte ihren Marker an den Händen gepackt und versuchte ihn hinter dem Baum hervorzuziehen. Es war ein merkwürdiger Anblick, so als sähe man jemanden mit seinem eigenen Schatten ringen - aber als Teil dieses Schattens.

Aufgeregter als je zuvor winselte Dare und wich zurück. Jonas packte das Halsband fester.

»Jonas! Andrea! Los, kommt!«, rief Brendan hinter ihnen. »Mein Marker ist fertig! Ich steige jetzt ins Kanu. Wir fahren ab!«

»Nein-tut-ihr-nicht!«, schrie Andrea.

Das Marker-Andrea-Gespann trat einen Schritt vor.

Eine optische Täuschung, dachte Jonas. Ein Hirngespinst.

Dann noch einen Schritt.

Andrea grinste.

Doch es war nicht nur sie, die grinste. Auch das Markermädchen tat es und die Lachfältchen um ihre Augen strahlten zu ihren Zöpfen aus.

»Wartet!«, rief Andrea/Virginia, und obwohl Jonas sie vollkommen verstand, wusste er, dass sie nicht Englisch sprach. Sie benutzte einen weiteren Algonkin-Dialekt, der dem ähnelte, den Brendans und Antonios Marker verwendeten.

Andrea kannte keine Algonkin-Dialekte. Oder doch?

»Entfernt euch nicht mit solcher Hast«, fuhr Andrea/ Virginia fort und ging im Sonnenlicht auf Brendan zu. »Habt ihr einen Geistermann in eurem Kanu? Ich bin ein Geistermädchen und er gehört vielleicht zu meiner Sippe.«

Brendan drehte sich um.

Nein, es war das Brendan-Marker-Gespann, das sich umdrehte. Auch der Marker drehte sich um!

Das kann nicht sein, dachte Jonas. Ich weiß, dass das nicht passiert ist. Andreas Marker hätte nicht gerufen. Und Brendans Marker hätte sich nicht umgedreht.

»Bist du ein verirrter Totengeist?«, fragte Brendans Marker. Seine Knie stießen leicht aneinander und Jonas fand es ziemlich mutig von ihm, nicht davonzulaufen, obwohl er solche Angst hatte.

»Nein«, sagte Andrea/Virginia. »Ich bin lebendig. Aber ich habe meinen Großvater verloren.«

Brendans Marker zögerte. Dann wies er mit der Hand zum Kanu.

»Dann komm und finde ihn«, sagte er.

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