Dreiunddreißig

Jonas schlitterte durch den Sand und kam direkt vor Andrea, Brendan und Antonio zum Stehen. Katherine sprintete hinter ihm heran. Inzwischen hatte Andrea Antonio gepackt und umarmte ihn heftig.

»Oh, danke!«, rief sie. »Vielen Dank!«

Sie umarmte ihn noch einmal, ehe sie losließ.

Antonio trat einen Schritt zurück, gerade weit genug, um an den Rändern seines Markers zu verschwimmen. Um ein Haar wäre er auf Dare getreten.

»Was hab ich denn getan?«, fragte er verblüfft.

»Du hast mir das richtige Jahr gesagt«, erwiderte Andrea mit leuchtendem Gesicht. »Das Jahr!« Sie sah zu Jonas und Katherine und ihr Grinsen wurde noch breiter. »Wir haben uns geirrt mit dem, was wir dachten und was ich Brendan erzählt habe. Und er wusste es auch nicht besser. Aber Antonio, mein neuer bester Freund Antonio, wusste es.« Wieder schlang sie die Arme um ihn, ehe sie, zu aufgeregt, um stillzustehen, fortsprang. »Wir sind gar nicht im Jahr 1590!«

»Ach, tatsächlich?«, fragte Jonas verdutzt. »Und was ist daran gut?«

Andrea lachte genüsslich.

»Du kapierst es nicht, was?«, sagte sie. »Komm schon, Jonas, du warst doch derjenige, der es ausgeknobelt hat! Aber du hast dich geirrt!«

Jonas merkte, dass er immer ratloser dreinsah. Andrea dagegen lachte umso vergnügter.

»Virginia Dare wurde 1587 geboren«, sagte sie. »Sie -ich - war noch keinen Monat alt, als mein Großvater nach England zurückfuhr, um Nachschub zu holen. Drei Jahre später, 1590, kam er wieder und fand seine Kolonie verlassen vor. Deshalb haben wir gefolgert: John White, verlassene Insel - es muss 1590 sein. Seine Reise ist vergeblich, keine Chance für uns.«

Jonas war sich ziemlich sicher, dass er es nicht so einfältig hatte klingen lassen.

»Aber.«, sagte Andrea und hielt zur Unterstreichung einen Finger in die Luft. »Aber wir wissen nichts darüber, was John White nach 1593 getan hat. Er schrieb einen Brief, in dem er von seiner unglückseligen Reise im Jahr 1590 berichtete. Der Brief wurde in einem Buch veröffentlicht von jemandem, dessen Namen ich vergessen habe. Und nach allem, was man sonst noch weiß, hätte John White am Tag nachdem er diesen Brief abgeschickt hat, gestorben sein können. Ist er aber nicht! Er ist nicht gestorben!«

»Und das weißt du?«, fragte Katherine vorsichtig. »Warum bist du dir so sicher?«

»Weil!«, krähte Andrea. »Weil Antonio sich erinnern kann, wann er - äh, sein Marker -«

»Also eigentlich waren es wir beide«, sagte Antonio. »Zusammen. Bevor Gary und Hodge mich entführt ha-ben und mein Marker abgetrennt wurde. Als ich einfach nur ein spanischer Junge war, der kurz davorstand, von Indianern adoptiert zu werden.«

»Ja, schön«, sagte Andrea ungeduldig. »Auf was es ankommt, ist, dass Antonio noch weiß, in welchem Jahr er von Spanien losgesegelt ist und wie lange er schon in Nordamerika lebt. Antonio?«

Dieser warf ihr einen verwirrten Blick zu.

»Mir ist immer noch nicht klar, warum das so eine große Sache ist. Aber .es war 1597«, sagte er. »Vor drei Jahren.«

»Versteht ihr denn nicht? Das bedeutet, dass wir jetzt das Jahr 1600 haben!«, rief Andrea aus. »Ein neues Jahrhundert! Es ist eine völlig andere Reise! Und ich bin dreizehn Jahre alt!«

Sie hätte ebenso gut ta-taa! rufen können, so begeistert schien sie über ihre Enthüllung zu sein.

Die anderen sahen sie einfach nur an. Selbst Dare legte fragend den Kopf schief.

»Und?«, sagte Jonas schließlich. »Was ist so besonders daran, dreizehn zu sein?«

»Bist du Jüdin?«, fragte Katherine. »Wegen der Bar-Mizwa, äh, der Bat-Mizwa-Sache?«

»Nein! Das ist es nicht!« Allmählich schien es Andrea auf die Nerven zu gehen, dass die anderen sie nicht verstanden. »Das heißt, dass ich genau das richtige Alter habe! Ich bin genau so alt, wie mein Großvater es von seiner Enkelin erwarten würde! Deshalb würde es ihm auch nicht komisch vorkommen, wenn er mich sieht und erfährt, wer ich bin!«

Voller Erwartung, dass bei ihnen nun endlich der Groschen fallen würde, strahlte sie die anderen an. Jonas' Hirn bewerkstelligte ein: Oh, das heißt dann ., Kathe-rine stand der Mund offen, sie schien sich aber noch nicht entschieden zu haben, was sie sagen sollte, und Antonio und Brendan erweckten den Anschein, als warteten sie darauf, dass Katherine ihnen sagte, was sie denken sollten.

Nur Dare reagierte schnell. Er bellte freudig los, sprang an Andrea hoch und tanzte praktisch um sie herum.

»Versteht ihr denn nicht?«, fragte Andrea, ehe sie sich bückte, um Dare zu umarmen und ihn dann weitertanzen zu lassen. »Findet ihr nicht, dass das bedeutet . dass alles so kommen sollte? Mein Großvater soll mich finden und ich muss nicht wieder zum Kleinkind werden. Es wird alles gut gehen!«

Die anderen standen immer noch in sprachlosem Erstaunen da und versuchten ihr zu folgen.

»Dann glaubst du also . dass sich die Geschichte komplett geirrt hat?«, fragte Brendan gedehnt. »Über das, was du und Katherine uns im Kanu erzählt habt. Du hast gesagt, John White hätte seine Familie und die Leute von Roanoke nie gefunden.«

»Beim letzten Mal. Im Jahr 1590«, sagte Andrea. »1590 hat er niemanden gefunden. Aber jetzt sind wir im Jahr 1600 und John White ist zurückgekommen. Und dieses Mal . muss es nicht unbedingt schiefgehen.« Sie schnaubte. »Die Geschichte, von der wir gesprochen haben, hat sich nicht geirrt. Sie ist einfach nur... unvollständig.«

»Du meinst, sie haben einfach nicht weiterverfolgt, was John White 1600 widerfahren ist?«, fragte Jonas benommen. »Niemand hat etwas aufgeschrieben, also weiß auch niemand .«

Irgendetwas daran, dass es in der Geschichte Geheimnisse geben sollte und sie ihre Lücken verbarg, irritierte ihn sehr. Doch ihm blieb keine Zeit, darüber nachzudenken, weil Andrea bereits zu einem anderen Punkt weitereilte.

»Meint ihr nicht, dass es daran gelegen haben könnte, dass er seine Familie gefunden hatte und glücklich war und sich nicht die Mühe gemacht hat, nach Hause zu schreiben?«, fragte sie und kicherte. »Es gab ja schließlich noch keinen Postdienst nach England!«

Sie zeigte aufs Meer hinaus, auf dem die letzten Strahlen der untergehenden Sonne verglühten. Das Wasser schien endlos zu sein, es war schwer, sich in der Ferne andere Länder vorzustellen.

»Das würde erklären, warum die Dinge auf Roanoke nicht zusammengepasst haben«, sagte Katherine nachdenklich. »Warum John White allein war und keine anderen Seeleute bei sich hatte, warum er das Wort Croatoan nicht gesehen hat und nicht von einem Sturm vertrieben wurde.«

»Dann hat Zwei die Zeit vielleicht gar nicht so schlimm sabotiert«, sagte Andrea. »Das einzig Wichtige, das auf Roanoke durcheinandergeraten ist, ist die Tatsache, dass die falschen Kinder meinen Großvater vor dem Ertrinken gerettet haben.«

»Und dass er am Kopf verletzt wurde«, ergänzte Anto-nio. Jonas war froh, dass Antonio darauf hingewiesen hatte, denn Andrea funkelte ihn bereits wütend an.

»Schon, aber .« Sie schien um jeden Preis an ihrer Begeisterung festhalten zu wollen. Sie sah nach unten und ihr ganzer Gesichtsausdruck veränderte sich. »Ich wette, seine Kopfverletzung ist gar nicht so schlimm! Jetzt wo Antonio und Brendan wirklich hier sind und er sie genauso gut sehen kann wie sein Marker, ist er wahrscheinlich nur wegen uns bewusstlos! Weil sein Verstand nicht damit fertig wird, dass wir in Klamotten aus dem einundzwanzigsten Jahrhundert herumlaufen!«

Sie sprang auf und begann in der Schatztruhe ihres Großvaters zu wühlen. Jonas wusste genau, was sie suchte: die Kleider. Sie zerrte ein blassgelbes Kleid mit einem winzigen Rosenmuster heraus.

»Lass das, Andrea«, sagte Katherine scharf. »Das kann nicht die Antwort sein. Im fünfzehnten Jahrhundert haben die Leute Jonas und mich auch in modernen Kleidern gesehen und niemand ist davon halb ohnmächtig geworden!«

»Lasst es mich einfach versuchen«, widersetzte sich Andrea störrisch.

Sie zerrte sich das Kleid über die Schultern und ihr T-Shirt und die Shorts verschwanden darunter. Der Kleidersaum schleifte über den Sand, als sie zu ihrem Großvater eilte. Er lag flach auf dem Rücken und seine Markeraugen starrten in den dämmrigen Himmel. Seine echten Augen waren nach wie vor geschlossen.

Andrea kniete sich neben ihn. Das Kleid brachte sie dazu, sich anders zu bewegen, oder sie bemühte sich absichtlich, sich wie ein Mädchen aus dem Jahr 1600 zu benehmen.

»Großvater?«, murmelte sie. »Soeben hörte ich von deiner Ankunft und dass diese beiden, äh, edlen Eingeborenen dich gerettet haben. Sie schickten mir eine Nachricht, zu kommen, und gaben mir dies Kleid, das du hierherbrachtest. Bitte, bitte, wach auf.«

In gewisser Weise wirkte Andrea ebenso lächerlich wie Jonas, als er auf Roanoke Fluch der Karibik nachgespielt hatte. Doch der Blick, mit dem sie ihren Großvater betrachtete, war voller Hoffnung.

John White bewegte sich und wälzte sich hin und her. Andrea ergriff seine Hand.

»Großvater?«

John White öffnete den Mund.

»Schwindel!«, schrie er. »Verrat! Betrug!«

Entgeistert sackte Andrea neben ihm zusammen und vergrub das Gesicht in ihrem Rock.

»Andrea!«, rief Jonas. »Er meint nicht dich! Er hat die Augen geschlossen! Er und sein Marker denken einfach nur das Gleiche. Es war Zufall!«

»Die Wilden haben uns betrogen und wir betrogen sie«, fuhr John White fort. »Und nie traf ich einen Kapitän, dem ich Vertrauen schenken konnte.«

Jonas tätschelte Andrea den Rücken.

»Siehst du, es hat nichts mit dir zu tun!«, sagte er. »Es ist einfach so, dass du mit deinem Marker zusammen sein musst! Wir finden ihn! Das verspreche ich dir!«

»Geh weg«, murmelte Andrea. »Lass mich in Ruhe.«

Brendan ließ seinen Marker stehen und kauerte sich neben sie.

»Andrea?«, sagte er. »Ich weiß nichts von deinem Marker und ich weiß auch nicht, warum mein Marker nicht an Croatoan denkt. Aber ich kann dir versichern, Antonio und ich, und unsere Marker, wir sind ehrenhafte Stammes-... äh, Leute. Wenn unsere Marker John White versprochen haben ihn nach Croatoan zu bringen, dann fahren wir auch dorthin. Dein Marker ist wahrscheinlich dort, nicht?«

»Das nehmen wir an«, sagte Andrea und schniefte ein wenig.

»Jonas?«, sagte Katherine mit überlauter Stimme. »Meinst du nicht, wir sollten noch mal nach dem Haarband suchen?«

»Äh, ja richtig«, sagte Jonas.

Wieder gingen sie zusammen in Richtung Kanu.

»Denkst du das Gleiche wie ich?«, fragte Katherine.

»Weiß ich nicht«, sagte Jonas. »Was denkst du denn?«

Das hätte ein Slapstick aus einer Comedy-Show sein können, doch Katherines Stimme enthielt nicht den leisesten Funken Humor. Und auch Jonas war nicht nach Lachen zumute.

»Möglicherweise hat die Geschichtsschreibung nichts von John Whites Reise im Jahr 1600 gewusst«, sagte Katherine, »aber die Zeitreisenden hätten davon gewusst.«

»HK wusste es«, sagte Jonas erbittert.

»Und . selbst bevor Zwei ins Spiel kam . hätte uns

HK nicht mit Andrea zurückgeschickt, wenn ihr lediglich ein nettes kleines Familientreffen bevorstand«, sagte Katherine. »Es gibt immer noch etwas, vor dem wir sie retten müssen.«

»Gut möglich«, sagte Jonas. »Und wer rettet uns dann vor Zwei?«

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