Sechsundzwanzig

»Das ist es!«, rief Andrea aus. Ein Lächeln trat in ihr Gesicht und löschte die Verzweiflung aus. »Jetzt verstehe ich, wie alles verlaufen soll! Wir fahren zusammen nach Croatoan und dort finden wir dann meinen Marker! Das ist nur logisch, wenn die Kolonie von Roanoke dorthin übergesiedelt ist. Und wenn ich mit meinem Marker vereint bin, kann mein Großvater mich sehen. Er wird wieder genesen und endlich auf die Beine kommen .«

Sie bückte sich und umarmte ihren Großvater. Der echte Mann schreckte zurück, also ließ sie von ihm ab.

»Vergiss nicht, dass dein Marker eine Dreijährige sein wird, Andrea«, warnte sie Jonas. »Wenn du dich mit ihm zusammentust, musst du wieder zum Vorschulkind werden - wobei sie zu dieser Zeit noch gar keine Schulen hatten.«

Andreas Lächeln wurde ein wenig zittrig, trotzdem erklärte sie gefasst: »Das ist mir egal. Wenn es so ablaufen muss, damit mein Großvater mich sehen kann, will ich gern wieder ein kleines Kind sein.«

Wenn es so ablaufen muss, dachte Jonas ein wenig benommen. Es war nicht nur das fehlende Essen, das ihm Schwindelgefühle verursachte. War es das, was HK für sie wollte? War das der Weg, um die Zeit zu reparieren und Andrea zu retten? Oder war es nur ein weiteres abgekartetes Spiel?

»Was ist, wenn das zu Zweis Plan gehört?«, fragte er. »Du hast gesagt, John White hätte es im ursprünglichen Verlauf der Geschichte nicht nach Croatoan geschafft. Er hat weder dich noch sonst jemanden aus seiner Familie jemals wiedergesehen!«

»Aber sie bringen ihn hin«, sagte Andrea und zeigte auf die Markerjungen. Schon bückte sich einer von ihnen, als wollte er John White forttragen. »Die historischen Berichte, die ich gelesen habe, haben sich in verschiedenen Punkten geirrt. So muss es auch hierbei sein!«

»Oder Zwei spielt wieder an der Zeit herum«, sagte Jonas düster. »Er legt uns rein.«

»Wie sollte er das tun?«, fragte Katherine. »Andrea hat recht: Wenn die Marker John White nach Croatoan bringen, ist das ursprünglich auch so passiert. Marker verhalten sich immer richtig, äh, ich meine korrekt. Sie zeigen den ursprünglichen Verlauf der Zeit.«

Jonas sah die beiden Mädchen mit zusammengekniffenen Augen an.

»Was hat John White eigentlich auf die Idee gebracht, darum zu bitten, ihn nach Croatoan zu bringen?«, fragte er. »Er war doch noch gar nicht in seiner alten Kolonie und hat das eingeritzte Wort gesehen.«

»Vielleicht war er dabei, Roanoke zu verlassen, als sein Boot kaputtging und wir ihn gerettet haben?«, ver-mutete Katherine. »Vielleicht war er schon vor zwei Tagen da und ist zu seinem Schiff zurückgekehrt und nur deshalb wieder nach Roanoke gekommen, weil das Schiff verunglückt ist?«

»Der Geschichte nach hat nichts davon stattgefunden«, erklärte Jonas störrisch.

»Aber es ist das, was dem ursprünglichen Zeitverlauf nach passieren soll«, sagte Katherine und wies mit einer Handbewegung auf die Marker.

»Ihr wolltet die Zeit doch wieder ins Lot bringen, nicht?«, fragte Andrea sanft. »Meint ihr nicht, dass wir mit den Markern nach Croatoan fahren sollten?« Sie sah Jonas an, nicht Katherine, die ihn ebenfalls anblickte. Beide wollten hören, was er zu sagen hatte. Jonas überlegte, ob er einen blöden Witz machen sollte: He, Amerika ist noch keine Demokratie. Ihr müsst nicht abwarten, wie ich mich entscheide! Aber sie steckten zu dritt in dieser Sache. Andrea und Katherine mussten wissen, wie er sich entscheiden würde.

Stirnrunzelnd versuchte Jonas alles zu durchdenken.

»Ich denke, ihr habt recht«, sagte er schließlich. »Das Dorf auf Roanoke war verlassen und wir haben das Wort Croatoan mit eigenen Augen gesehen, also wissen wir, dass dieser Teil der Geschichte stimmt. Und wenn sämtliche Marker zur Insel Croatoan fahren und Andreas Marker vermutlich auch dort ist . welchen Sinn hat es dann, hierzubleiben?«

»Genau!«, sagte Andrea grinsend.

Jonas versuchte nicht darauf zu achten, wie hübsch Andrea aussah, wenn sie glücklich war. Er wollte einen klaren Kopf behalten. Er wollte analysieren können, ob sich hinter dieser neuen Entwicklung geheime Motive oder hintergründige Pläne von Zwei verbargen. Ließen sich die Dinge auf diese Weise wirklich zusammenfügen? Oder ... gab es mehr Grund denn je, misstrauisch zu sein?

»Wenn wir an den Markern dranbleiben wollen, sollten wir uns in Bewegung setzen«, sagte Katherine.

Während einer der Markerjungen neben John White kauerte, schüttete der andere Wasser auf das Lagerfeuer der vergangenen Nacht. Dann ging er zu einer Hütte am anderen Ende des Dorfes, die ein wenig abseitsstand.

»Ich gehe nachschauen, was er vorhat«, bot Jonas an.

Als er zu der Hütte kam, stopfte der Markerjunge gerade getrocknete Rehfleischstreifen in einen Beutel aus Hirschleder.

Trockenfleisch von dem Reh, das sie erlegt haben?, wunderte sich Jonas. Aber wo haben sie es getrocknet?

Der Markerjunge kippte ebenfalls Wasser auf den Boden und erst da bemerkte Jonas, dass auch hier ein Markerfeuer gebrannt hatte.

Ach so, es ist eine Räucherkammer. Sie müssen, gleich nachdem sie das Reh geschossen haben, hierhergekommen sein und das Feuer angezündet haben. Noch bevor sie zum Strand gegangen sind und John White gerettet haben, wurde Jonas klar. Gut möglich, dass sie in der Nacht hin und wieder aufgestanden sind, um die Fleischstreifen umzudrehen.

Es wurmte ihn, dass er nichts davon mitbekommen hatte. Er hatte sich nicht einmal gefragt, wo sie ihr Fleisch eigentlich zubereitet hatten.

Was entgeht mir noch?, fragte er sich. Auf was achte ich noch alles nicht?

Ihm wurde bewusst, dass er sich weder am Vortag noch seitdem die restlichen Hütten angesehen hatte, selbst dann nicht, als er die Melone mit Zweis Botschaft entdeckt hatte.

»Mir steht wirklich nicht der Sinn nach weiteren Botschaften von diesem Kerl«, murmelte er.

Doch als er zu Katherine, Andrea und John White zurückging, steckte er unterwegs den Kopf in jede Hütte. Alle waren dunkel und verwaist, der Boden leer gefegt, nur hier und da wucherte ein kränklich wirkendes Gewächs. Im Vergleich dazu sah die Melonenpflanze in der Hütte mit dem eingefallenen Dach prächtig aus. Jonas warf auch in diese Hütte einen schnellen Blick . und stutzte.

Auf dem Boden, eingebettet zwischen den Melonenblättern, standen zwei kleine Gefäße. Jonas bückte sich und hob sie auf.

Sie hinterließen keine Marker.

Und bei beiden waren in die Stopfen die gleichen Worte geritzt.

MIT BESTEN GRÜSSEN

ZWEI

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