Neunzehn

Jonas ließ Andrea los. Er war zu verblüfft, um irgendetwas anderes zu tun oder zu sagen. Ausnahmsweise war er froh darüber, dass Katherine so gut wie nie um Worte verlegen war.

»Andrea, ich glaube, du verstehst nicht ganz«, sagte sie fast schnippisch. »Wie kannst du das wissen? Wer soll der Mann schon sein?«

»Er ist mein Großvater«, sagte Andrea. »John White.«

Katherine stockte der Atem.

Jonas hatte alle Mühe, mitzukommen. Andreas Großvater . hatten sie womöglich die Gelegenheit verpasst, Andreas Eltern das Leben zu retten, und waren stattdessen zurückgedüst, um ihren Großvater der Gefahr zu entreißen? Nein, ihr echter Großvater -ihr Adoptivgroßvater aus dem einundzwanzigsten Jahrhundert - konnte nicht aus Virginia Dares Lebzeiten stammen. Das hier musste Virginia Dares Großvater sein, jener Mann, über den Andrea so viel gelesen und der ihr Interesse an der Geschichte erst geweckt hatte.

Wahrscheinlich lag es am Großvater, der zurückgekommen ist, hatte Andrea gesagt. Daran, wie sehr er versucht hat, wieder zu seiner Familie zu kommen, und wie oft er damit gescheitert ist. Und als er es schließlich bis nach Roanoke geschafft hat .

Jetzt blieb auch ihm die Luft weg, wie kurz zuvor Katherine.

»Woher weißt du, dass er es ist?«, fragte er.

»Er redet ständig von Eleanor, so hieß seine Tochter, meine . meine Mutter. Meine leibliche Mutter, meine ich«, sagte Andrea abwehrend.

»Ich wette, damals hießen eine Menge Frauen Elea-nor«, sagte Katherine.

»Die anderen Namen, die er genannt hat, gehören ebenfalls Leuten von Roanoke: Fernandez, Lane, George Howe . Und was er über den Kampf mit Man-teos Leuten gesagt hat... Das war dieser dumme Überraschungsangriff, den die Kolonisten von Roanoke auf ein Indianerdorf verübt haben. Mittendrin haben sie dann gemerkt, dass sie gegen ihre Freunde kämpfen«, erklärte Andrea.

»John White war sicher nicht der einzige Kolonist bei diesem Kampf«, stellte Jonas klar, stolz, dass ihm etwas Plausibles eingefallen war.

»Aber John White war der Einzige aus der Kolonie, der von Roanoke nach England zurückgesegelt ist, um mit Sir Walter Raleigh zu reden und neue Vorräte zu holen«, sagte Andrea. »Er wollte nicht fort. Die anderen Kolonisten mussten ihn anflehen. Sie haben ihm klargemacht, dass er ihre einzige Hoffnung ist.«

»Und er hat von einem Baby geredet«, sagte Katherine nachdenklich. »Das war dann wohl...«

»Virginia Dare«, sagte Andrea. Ihre Stimme wurde zu einem Flüstern. »Ich.«

Zärtlich strich sie dem Mann wieder über die Schulter und es hatte fast den Eindruck, als erhebe sie Anspruch auf ihn, als willige sie ein, seine Enkelin zu sein. Blinzelnd versuchte Jonas in der fast undurchdringlichen Finsternis besser zu sehen. Er wusste, dass gerade etwas sehr Bedeutungsvolles geschehen war. Wollte Andrea jetzt etwa Virginia Dare sein? Hatte der mysteriöse Unbekannte sie auch in dieser Hinsicht manipuliert?

Als wir ins Jahr 1483 gereist sind, wollten Chip und Alex auch Edward IV. und Prinz Richard sein, fiel ihm ein. Aber das war, nachdem wir ihre Marker gefunden hatten.

Andrea mochte ihren Großvater gefunden haben, aber sie hatten nach wie vor nicht die leiseste Ahnung, wo ihr Marker steckte. Jonas sah zu den Markerjungen hinüber, die wieder ausgestreckt auf dem Boden lagen und tief und fest zu schlafen schienen. Die beiden bewiesen nur einmal mehr, dass die Zeit und die Geschichte völlig aus den Fugen geraten waren.

»Hast du nicht gesagt, der Großvater hätte niemanden mehr gefunden, als er nach Roanoke zurückkam«, sagte Jonas vorwurfsvoll. »Nur das Wort Croatoan, das jemand in ein Stück Holz geritzt hatte. Aber keine zwei Indianerjungen.« Er deutete auf die Marker. »Äh, jedenfalls zwei Jungen, die wie Indianer angezogen sind.«

»Irgendwas muss sich verändert haben«, sagte Andrea. »Auch ohne dass wir uns eingemischt haben. Vielleicht stimmen die historischen Berichte nicht?«

Sie sah zu dem Mann hinab - John White? -, der wieder friedlich eingeschlafen war. Er lächelte sogar ein wenig und es hatte den Anschein, als reagiere er auf Andreas Stimme. Als würde er sie kennen. Aber wie konnte das sein? Gewiss, er hatte sie als Baby gesehen, aber danach nie wieder - in keiner Version der Geschichte -, bis Jonas und sie den Mann aus den Wellen gefischt hatten.

Jonas schüttelte den Kopf. Die Geschichte war wirklich kompliziert genug, ohne dass es sie in verschiedenen Versionen gab.

»Was hat sich denn abgespielt, als John White nach Roanoke zurückkam?«, wollte Jonas wissen. »Laut den Berichten, die du gelesen hast?«

»Er hat drei Jahre gebraucht, um zurückzukommen«, erzählte Andrea. »Es lag nicht nur an der spanischen Armada, er hatte auch sonst allerhand Pech. Außer ihm scheint Roanoke sonst niemandem am Herzen gelegen zu haben. Ein Schiff, auf dem er losfuhr, wurde von Piraten angegriffen, dann wurde er in einen Schwertkampf verwickelt, und als er schließlich ein Schiff gefunden hatte, das ihn nach Roanoke bringen sollte, wollte er eine weitere Gruppe Kolonisten mitnehmen, aber der Kapitän hat es nicht erlaubt.«

»Warum nicht?«, fragte Jonas.

»Der Kapitän wollte nicht, dass ihm die vielen Leute auf dem Schiff Platz wegnehmen. Er hatte vor, durch Kaperei ein Vermögen zu machen, und wollte den Platz für seine Schätze frei halten.«

»Was ist Kaperei?«, fragte Katherine.

Jonas war froh, dass sie diese Frage gestellt hatte, dass sie diejenige war, die dumm dastand.

»Der Mann - dieser Mr White? -, hat er nicht was von Kaperern gesagt?«, fragte er.

»Gouverneur White«, verbesserte ihn Andrea. »Er war der Gouverneur der Kolonie von Roanoke. Auch wenn«, sie grinste fast fröhlich, »die Kolonie nur aus einhundertsechzehn Leuten bestand. Es war also keine große Sache.«

»Aber Kaperei...«, hakte Katherine noch einmal nach.

»Ach ja.« Andrea zuckte die Achseln. »Kaperei war das Gleiche wie Piraterie, nur legal. Die englischen Schiffe sind losgefahren, haben spanische Schiffe angegriffen und ihrer Schätze beraubt. Dann haben sie der Regierung einen bestimmten Prozentsatz von ihrem Profit abgegeben, wie Steuern, und alle fanden das in Ordnung. Es galt als patriotisch.«

»Das ist doch verrückt!«, sagte Jonas.

»Ja, ich wette, Pfadfinder haben dabei nicht mitgemacht«, sagte Katherine.

»Das kann auch nicht sein, weil die Gründung der Pfadfinder erst .« Jonas merkte, dass Katherine sich über ihn lustig machte. Und er war darauf reingefallen. Er räusperte sich. Wenn er so tat, als hätte er nichts gesagt, würde es vielleicht niemand bemerken. »Warum hat dieser Mr, äh, Gouverneur White kein Schiff genommen, das nichts mit Kaperei zu tun hatte?«

Andrea legte den Kopf schräg und dachte darüber nach.

»Ich glaube, damals waren so gut wie alle englischen Schiffe, die nach Amerika fuhren, Kaperschiffe«, sagte sie. »Die Engländer wollten die Kolonie auf Roanoke wohl vor allem deshalb, um dort gestohlene Schätze zu horten, sich vor den Spaniern zu verstecken und sich mit Vorräten und Wasser einzudecken.«

»Das haben sie uns in der Schule aber nicht beigebracht!«, protestierte Katherine.

»Tja, es macht auch keinen sehr guten Eindruck«, sagte Andrea. »Wer will schon hören, dass die eigenen Vorfahren ein Haufen Diebe waren?«

Jonas schon. Er hätte sich bestimmt besser an die Kolonie von Roanoke erinnert, wenn Mrs Rorshas ihnen von Piraten und gestohlenen Schätzen erzählt hätte.

Katherine sah auf den schlafenden Mann hinab.

»Aber er hat keinen Haufen Schätze nach Roanoke mitgebracht«, sagte sie. »Er war allein in einem Ruderboot.«

»Das sollte er eigentlich nicht«, sagte Andrea leise und düster. »Eigentlich müssten mehrere Männer vom Schiff zur Insel gerudert sein. Und nachdem sie das Wort Croatoan entdeckt hatten, wollte Gouverneur White zur Insel Croatoan weiterfahren und dort nach den Kolonisten suchen. Aber dann kam dieser schreckliche Sturm, ein Hurrikan, glaube ich, und hat jede Menge Probleme verursacht. Deshalb mussten sie fort. Und das war's. Niemand hat je auf Croatoan nach den Kolonisten gesucht.«

Andreas Stimme war nur noch ein Flüstern, als sie ihre Geschichte beendete. Wahrscheinlich wollte sie le-diglich ihren Großvater nicht stören, doch die Wirkung war unheimlich. Jonas schauderte, fast so, als wäre er einer der Kolonisten: ausgesetzt und durch einen Ozean von allen getrennt, die er kannte.

Was ist, wenn Katherine, Andrea und ich in der gleichen Situation sind? Wenn wir in der Vergangenheit ausgesetzt wurden wie die Kolonisten in Amerika?

Im Geiste sah er HK über eine Art Computermonitor gebeugt verzweifelt nach ihnen suchen. Er würde sie bestimmt suchen. Dessen war sich Jonas gewiss. Doch die Zeit war nun einmal endlos, oder nicht? Und wenn HK sie nun niemals fand?

Was ist, wenn das zum Plan gehört?, fragte sich Jonas. Wenn Andreas mysteriöser Unbekannter möchte, dass wir für immer verloren bleiben?

»Bist du sicher, dass du die Geschichte richtig im Kopf hast?«, fragte er Andrea. Er hörte sich hart und vorwurfsvoll an, fast so, als wäre er wieder böse auf sie. »Wenn das hier John White ist, hat er es vor dem Sturm nicht mal nach Roanoke geschafft. Das könnte durchaus ein Hurrikan gewesen sein, aus dem wir ihn gerettet haben!«

Andrea rang in einer Verzweiflungsgeste die Hände.

»Es passt vieles nicht zusammen«, gab sie zu.

»Auch der Schiffbruch nicht«, sagte Katherine. »In der ursprünglichen Geschichte gab es kein Schiffsunglück, bei dem alle ums Leben gekommen sind außer John White, der in einem Ruderboot entkam.« Sie wurde ganz blass. »Glaubt ihr, Andreas Unbekannter hat das Unglück verursacht?«

»Nein. John Whites Marker hat auch vom Schiffsunglück gesprochen«, sagte Jonas. »Es gehört zum ursprünglichen Verlauf.«

»Wahrscheinlich gibt es in den historischen Berichten ein paar Ungereimtheiten«, sagte Andrea. »Womöglich haben die Historiker auch gelogen?« Sie strich ihrem Großvater eine Locke aus der Stirn. »Morgen erfahren wir die wahre Geschichte. Ich bin sicher, dass er bald aufwacht und ich mit ihm reden kann.«

Damit waren sie wieder am Anfang, bei Andreas Ent-schluss, um jeden Preis mit dem Mann-der-wieder-in-seinem-Marker-steckt zu reden.

»Andrea«, begann Katherine. »Das kannst du nicht machen. Vor allem jetzt nicht, wo wir wissen, wer er ist und dass es eine Verbindung zwischen euch gibt. Wir wissen, dass wir nicht in der richtigen Zeit sind und dass dein Marker nicht hier ist. Aber diese beiden Marker sind hier«, sie deutete auf die Jungen auf der anderen Seite des Feuers, »also wissen wir auch, dass zwei Personen fehlen. Es ist sowieso schon zu viel durcheinandergeraten! Wir können nicht riskieren -«

»Das. Ist. Mir. Egal!«, sagte Andrea.

»Aber ...«, widersprach Jonas und Katherine wandte ein: »Hör mal .«

Doch Andrea schüttelte nur den Kopf und redete einfach weiter.

»Nein, ihr hört mir zu«, sagte sie. »Ich weiß, was ihr sagen wollt. Ich weiß, dass ihr glaubt, eure Pläne und Strategien wären wichtig und dass es darauf ankommt, den Mann, der mich belogen hat, auszutricksen und die

Zeit zu beschützen, als wäre sie ein kostbares, absolut vollkommenes Juwel. Aber das ist sie nicht. Sie spielt keine Rolle. Nichts von alldem spielt eine Rolle. Das Leben ist kein Spiel. Das werdet ihr noch sehen. Wenn ihr die Menschen verliert, die ihr am meisten auf der Welt liebt, wenn ihr alles verliert...« Ihr wurde die Kehle eng. Jonas konnte die Tränen förmlich hören. Behutsam berührte sie John White am Ärmel. »Dieser Mann hat den ganzen Ozean überquert, um seine Familie wiederzufinden. Er hat dafür sein Leben aufs Spiel gesetzt. Und wenn ich einer der Menschen bin, nach denen er sucht -und das bin ich -, dann werde ich mich nicht vor ihm verstecken. Ich werde ihm sagen, wer ich bin!«

Auf ihrer letzten Reise durch die Zeit waren Jonas und Katherine so dicht davor gewesen, eine der heiligen Grundregeln des Zeitreisens zu verletzen, dass HK sie in null Komma nichts aus dem fünfzehnten Jahrhundert herausgerissen hatte. Jonas erwischte sich bei dem Wunsch, das Gleiche würde jetzt mit Andrea geschehen. Drohte sie nicht auch damit, die Zeit gänzlich über den Haufen zu werfen? Musste man sie nicht aus der Vergangenheit reißen?

Nichts geschah. Andrea zog trotzig die Nase hoch. Ihr Großvater gab ein leises Stöhnen von sich. Einer der Markerjungen drehte sich im Schlaf um und vergrub seinen Arm in Dares Fell. Und das Feuer, das Jonas so mühsam in Gang gebracht hatte, ging flackernd aus.

Das ist der Beweis, dachte Jonas düster. Ihm wurde klar, dass er trotz allem noch die winzige Hoffnung gehegt hatte, HK könnte genau wissen, wo sie waren, und alles laufe nach Plan. Wenn HKs Zeitanalyst wirklich der Allerbeste war, hätte er dann nicht vorhersehen müssen, dass Andrea den Code verändern und der Defina-tor verschwinden würde und dass Jonas und die Mädchen den Mann vor dem Ertrinken retten würden? War es nicht denkbar, dass die drei auf sich gestellt etwas taten, was besser war als alles, was sie erreichen konnten, wenn HK sie herumkommandierte? So ähnlich hatte es im fünfzehnten Jahrhundert funktioniert.

Aber was Andrea vorhatte, war einfach nur tollkühn. HK würde es nie erlauben. Also gab es auch keine Chance, dass er wusste, wo sie waren. Niemand wusste, wo sie waren.

Außer Andreas mysteriösem Unbekannten, dachte Jonas.

Das war kein beruhigender Gedanke.

»Andrea ...«, sagte Jonas.

»Ich habe mich entschieden«, sagte diese. »Ich werde es mir nicht mehr anders überlegen.«

Sie bückte sich, um John White etwas ins Ohr zu flüstern, doch Jonas verstand jedes Wort.

»Morgen. Morgen reden wir.«

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