»Aiya!« schrie Liang und warf sich gegen die Seitenwand der Telefonzelle, als die Kugeln gegen die Mauer schlugen. Webb stürzte sich auf den Chinesen und preßte sich gegen ihn, zog das Jagdmesser aus der Scheide. »Nicht! Was machen Sie da?« kreischte Liang, als David ihn am Hemd packte und ihm die Messerspitze gegen das Kinn drückte, so daß die Haut aufriß und ein paar Blutstropfen hervortraten. »Aiiii!« Aber der Lärm, der sie umgab, verschluckte seinen hysterischen Schrei.
»Die Nummer! jetzt!«
»Tun Sie mir nichts! Ich schwör's Ihnen, ich hab nicht gewußt, daß das eine Falle war!«
»Das ist keine Falle für mich, Liang«, sagte Webb außer Atem. Der Schweiß rann ihm über das Gesicht. »Die gilt Ihnen!«
»Mir? Sie sind verrückt! Warum mir?«
»Weil die wissen, daß ich jetzt hier bin und Sie mich gesehen haben, Sie mit mir gesprochen haben. Sie haben Ihr Telefonat geführt, und jetzt können die sich nicht mehr leisten, daß Sie am Leben bleiben.«
»Aber warum?«
»Man hat Ihnen eine Telefonnummer gegeben. Sie haben Ihren Auftrag erledigt, und die können sich nicht leisten, daß es irgendwelche Spuren gibt.«
»Das erklärt überhaupt nichts!«
»Vielleicht hilft Ihnen mein Name. Ich heiße Jason Borowski.«
»Gütiger Gott!« flüsterte Liang, dessen Gesicht totenbleich geworden war. Er starrte David an, seine Augen waren wie milchig gewordenes Glas. Seine Lippen hatten sich geöffnet.
»Sie sind eine Spur«, sagte Webb. »Sie sind ein toter Mann.«
»Nein, nein!« Der Chinese schüttelte den Kopf. »Das kann nicht sein! Ich kenne doch keinen, nur die Nummer! Und das ist ein Telefon in einem leeren Büro im New World Centre, ein Apparat, den man nur auf kurze Zeit dort installiert hat. Bitte! Die Nummer ist drei-vier, vier, null, eins! Töten Sie mich nicht, Mr. Borowski! Bei der Barmherzigkeit unseres christlichen Gottes, tun Sie es nicht!«
»Wenn ich gedacht hätte, daß die Falle mir gilt, dann wäre jetzt Ihre ganze Kehle blutig, nicht nur Ihr Kinn ... drei, vier, vier, null eins?«
»Ja, genau!«
Die Schüsse hörten ebenso plötzlich und verblüffend auf, wie sie angefangen hatten.
»Das New World Centre ist doch direkt über uns, nicht wahr? Eines dieser Fenster dort oben.«
»Genau!« Liang schauderte, er konnte den Blick nicht von Davids Gesicht wenden. Dann drückte er die Augen zu, und Tränen quollen ihm unter den Lidern hervor, während er heftig den Kopf schüttelte. »Ich habe Sie nie gesehen! Das schwöre ich beim Tod unseres Heilands am Kreuz!«
»Ich frage mich manchmal, ob ich eigentlich in Hongkong oder im Vatikan bin.« Webb hob den Kopf und sah sich um. Überall auf dem schmalen Weg richteten sich jetzt erschrockene Menschen zögernd wieder auf. Mütter drückten ihre Kinder an sich; Männer hielten Frauen fest, und Männer, Frauen und Kinder richteten sich erst halb auf, dann ganz und stürmten plötzlich wie eine wild gewordene Herde auf den Torbogen zu. »Man hat Ihnen gesagt, daß Sie von hier aus anrufen sollen, nicht wahr?« sagte David schnell, indem er sich wieder dem verängstigten Hotelmanager zuwandte.
»Ja, Sir.«
»Warum? Hat man Ihnen den Grund genannt?«
»Ja, Sir.«
»Um Himmels willen, machen Sie endlich die Augen auf!«
»Ja, Sir.« Liang schlug die Augen auf, wandte aber den Blick beim Reden ab. »Die haben gesagt, sie würden dem Gast nicht vertrauen, der Suite sechs-neun-null verlangt. Er sei ein Mann, der einen anderen vielleicht zwingen könnte, Lügen weiterzugeben. Deshalb wollten sie mich beobachten, wenn ich mit ihnen sprach ... Mr. Borowski - nein, das habe ich nicht gesagt! Mr. Cruett - ich hab den ganzen Tag versucht, Sie zu erreichen, Mr. Cruett! Ich wollte, daß Sie wissen, daß man mich unter Druck gesetzt hat, Mr. Cruett! Die haben mich immer wieder angerufen und wollten wissen, wann ich sie meinerseits anrufen würde - von hier aus. Und ich habe denen immer wieder gesagt, daß Sie noch nicht gekommen seien! Was hätte ich denn sonst tun sollen? Ich habe doch dauernd versucht, Sie zu erreichen, daraus können Sie doch erkennen, daß ich versucht habe, Sie zu warnen! Das liegt doch auf der Hand, oder etwa nicht?«
»Für mich liegt nur auf der Hand, daß Sie ein ausgemachter Vollidiot sind.«
»Ich verstehe mich nicht auf solche Dinge.«
»Warum haben Sie sich dann darauf eingelassen?«
»Für Geld, Sir! Ich war bei Tschiangkaischek, bei der Kuomintang. Ich habe eine Frau und fünf Kinder - zwei Söhne und drei Töchter. Ich muß weg von hier! Die erkundigen sich gründlich, und dann drücken sie uns einen Stempel auf, den man nicht mehr los wird. Ich habe studiert, Sir! Auf der Fudan-Universität, ich habe als Zweiter in meinem Fach abgeschlossen
- in Shanghai hatte ich ein eigenes Hotel. Aber das alles ist jetzt ohne Bedeutung. Wenn Beijing hier die Macht übernimmt, bin ich ein toter Mann, und meine Familie ist erledigt. Und jetzt sagen Sie, ich sei jetzt schon ein toter Mann ... Was soll ich denn tun?«
»Peking - Beijing - wird in der Kronkolonie nichts verändern, überhaupt nichts«, sagte David und erinnerte sich an das, was Marie ihm an jenem schrecklichen Abend gesagt hatte, nachdem McAllister gegangen war. »Es sei denn, die Wahnsinnigen kommen an die Macht.«
»Die sind alle wahnsinnig, Sir. Glauben Sie mir. Sie kennen sie nicht!«
»Das mag schon sein. Aber ein paar von Ihren Leuten kenne ich. Und die hätte ich offen gestanden lieber gar nicht erst kennengelernt.«
»>Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Steine, Sir.«
»Steine, meinetwegen, aber nicht die Silberbeutel aus der Korruption Tschiangs, stimmt's?«
»Sir?«
»Wie heißen Ihre drei Töchter? Schnell!«
»Die heißen ... heißen ... Wang ... Wang Sho -«
»Vergessen Sie's!« schrie David und blickte zum Torbogen hinüber. »Ni bushi ren! Sie sind kein Mann, Sie sind ein Schwein! Lassen Sie es sich gutgehen, Liang von der Kuomintang. Lassen Sie es sich gutgehen, solang die das zulassen. Mir ist es, offen gestanden, völlig egal.«
Webb richtete sich auf, bereit, sich sofort wieder zu Boden zu werfen, wenn es aus einem der Fenster über ihm aufblitzte. Jason Borowskis Augen waren scharf: da war nichts zu sehen. David mischte sich in das Gedränge am Torbogen und arbeitete sich durch die Menschenmassen zur Salisbury Road durch.
Er führte das Gespräch an einem Telefon in einer überfüllten, lärmenden Arkade, dicht an der Nathan Road. Er drückte sich dabei den Zeigefinger ins rechte Ohr, um besser hören zu können.
»Wei?« sagte eine Männerstimme.
»Hier ist Borowski, und ich werde Englisch sprechen. Wo ist meine Frau?«
»Wode tian ah! Es heißt, Sie sprechen unsere Sprache in verschiedenen Dialekten.«
»Das ist lange her, und ich möchte, daß es keine Mißverständnisse gibt. Ich habe Sie nach meiner Frau gefragt!«
»Hat Liang Ihnen diese Nummer gegeben?«
»Er hatte keine Wahl.«
»Und außerdem ist er tot.«
»Was Sie tun, ist mir gleichgültig. Aber an Ihrer Stelle würde ich noch mal darüber nachdenken, ob Sie ihn wirklich töten wollen.«
»Warum? Er ist weniger wert als ein Wurm.«
»Weil Sie sich einen ausgemachten Vollidioten ausgesucht haben, schlimmer noch, einen Hysteriker. Er hat mit zu \ielen Leuten geredet. Eine Angestellte in einer Telefonvermittlung hat mir gesagt, er habe mich alle paar Minuten angerufen -«
»Sie angerufen?«
»Ich bin heute morgen angekommen. Wo ist meine Frau -«
»Liang, der Lügner!«
»Sie haben doch nicht etwa erwartet, daß ich in dieser Suite wohne, oder? Ich habe ihn dazu gebracht, mich in ein anderes Zimmer zu verlegen. Man hat uns gesehen, wie wir miteinander gesprochen - uns gestritten haben - ein halbes Dutzend Angestellte haben uns beobachtet. Wenn Sie ihn töten, gibt es mehr Gerüchte, als irgendeinem von uns lieb sein kann. Dann wird die Polizei einen reichen Amerikaner suchen, der verschwunden ist.«
»Er hat sich in die Hosen gemacht«, sagte der Chinese. »Vielleicht reicht das.«
»Es reicht. So, und was ist jetzt mit meiner Frau?«
»Ich bin nicht taub. Ich bin nicht zu solchen Informationen privilegiert.«
»Dann holen Sie jemanden an den Apparat, der das ist. Jetzt!«
»Sie werden andere treffen, die mehr wissen.«
»Wann?«
»Wir melden uns wieder bei Ihnen. In welchem Zimmer sind Sie?«
»Ich werde Sie anrufen. Sie haben fünfzehn Minuten Zeit.«
»Sie erteilen mir Befehle?«
»Ich weiß, wo Sie sind - welches Fenster, welches Büro -, Sie gehen recht ungeschickt mit Ihrem Gewehr um. Sie hätten den Lauf schwärzen müssen; die Sonne spiegelt sich im Metall, das weiß jedes Kind. In dreißig Sekunden werde ich hundert Fuß von Ihrer Türe entfernt sein, aber Sie werden nicht wissen, wo ich bin, und Sie können nicht weg vom Telefon.«
»Ich glaube Ihnen nicht!«
»Probieren Sie es doch aus. Jetzt beobachten Sie nicht mich, sondern ich Sie. Sie haben fünfzehn Minuten Zeit, und wenn ich wieder anrufe, möchte ich mit meiner Frau sprechen.«
»Sie ist nicht hier!«
»Wenn ich glaubte, daß sie das wäre, dann wären Sie jetzt tot. Dann hätte ich Ihnen den Kopf abgeschnitten und zum Fenster hinausgeworfen zu dem anderen Müll im Hafen. Wenn Sie meinen, ich übertreibe, dann erkundigen Sie sich doch. Fragen Sie Leute, die mit mir zu tun hatten. Fragen Sie Ihren Taipan, den Yao Ming, den es nicht gibt.«
»Ich kann Ihre Frau doch nicht herbeizaubern, Jason Borowski«, schrie der Mann verängstigt.
»Dann besorgen Sie sich eine Nummer, wo ich sie erreichen kann. Entweder höre ich ihre Stimme - und sie spricht mit mir -oder es gibt nichts. Bloß Ihre kopflose Leiche und ein schwarzes Tuch um Ihren blutenden Hals. Fünfzehn Minuten!«
David hängte den Hörer auf und wischte sich den Schweiß vom Gesicht. Jetzt hatte er es getan. Der Verstand und die Worte waren die Jason Borowskis gewesen - er hatte sich in eine Zeit zurückbegeben, an die er sich nur vage erinnerte, und hatte instinktiv gewußt, was zu tun und was zu sagen war und wie zu drohen. Daraus war eine Lehre zu ziehen. Der Schein war stärker als die Realität. Oder gab es irgendwo in ihm eine Realität, die nach draußen drängte, die die Kontrolle übernehmen wollte, die David Webb aufforderte, dem Mann in seinem Inneren zu vertrauen?
Er verließ die unerträglich überfüllte Arkade und bog nach rechts, auf den ähnlich überfüllten Bürgersteig. Die Goldene Meile von Tsim Sha Tsui bereitete sich auf ihre nächtlichen Spiele vor, und er würde das gleiche tun. Er konnte jetzt zum Hotel zurückkehren; Liang würde meilenweit entfernt sein, möglicherweise gerade damit beschäftigt, einen Flug nach Taiwan zu buchen, falls an dem, was er in seiner Angst herausgeplappert hatte, auch nur eine Spur von Wahrheit war. Webb würde den Lastenaufzug benutzen, um in sein Zimmer zu kommen, für den Fall, daß andere ihn in der Hotelhalle erwarteten, obwohl er das bezweifelte. Der Schießstand, der in Wirklichkeit ein leeres Büro im New World Centre war, war kein Befehlsposten, und der Schütze war kein Befehlshaber, sondern nur ein Verbindungsmann, den jetzt Todesangst quälte.
Mit jedem Schritt, den David die Nathan Road hinunterging, wurde sein Atem kürzer und das Pochen in seiner Brust lauter. In zwölf Minuten würde er Maries Stimme hören. O Gott, wie er sich das wünschte! Er mußte sie hören! Die Aussicht darauf war das einzige, was ihn bei Verstand hielt, das einzige, worauf es jetzt ankam.
»Ihre fünfzehn Minuten sind um«, sagte Webb. Er saß auf der Bettkante, versuchte, seinen Herzschlag unter Kontrolle zu bekommen, und fragte sich dabei, ob man sein Echo ebenso hören konnte, wie er es jetzt hörte. Er hoffte, daß seine Stimme davon nicht zitterte.
»Rufen Sie fünf-zwo, sechs, fünf, drei.«
»Fünf?« David kannte das Amt. »Dann ist sie in Hongkong, nicht in Kowloon?«
»Man wird sie sofort an einen anderen Ort bringen.«
»Ich rufe Sie wieder an, nachdem ich mit ihr gesprochen habe.«
»Das ist nicht nötig, Jason Borowski. Dort sind gut informierte Männer, die mit Ihnen sprechen werden. Mein Auftrag ist erledigt, und Sie haben mich nie gesehen.«
»Ich brauche Sie gar nicht zu sehen. Man wird eine Aufnahme von Ihnen machen, wenn Sie das Büro verlassen, aber Sie werden nicht wissen, wer sie macht oder von wo aus.
Wahrscheinlich werden Sie eine Anzahl Leute sehen - im Gang oder im Lift oder in der Halle -, aber Sie werden nicht wissen, wer die Kamera hat - eine Kamera mit einem Objektiv, das wie ein Knopf an einem Jackett aussieht oder wie eine Verzierung an einer Handtasche. Lassen Sie es sich gutgehen, Sie Söldner. Denken Sie an etwas Schönes.«
Webb drückte die Gabel nach unten und unterbrach damit die Verbindung; er wartete drei Sekunden, ließ die Gabel los, hörte das Freizeichen und drückte die Tasten. Er konnte es klingeln hören. Herrgott, er konnte es nicht mehr ertragen.
»Wei?«
»Hier ist Borowski. Holen Sie meine Frau an den Apparat.«
»Wie Sie wünschen.«
»David?«
»Geht es dir gut!« schrie Webb am Rande der Hysterie.
»Ja, nur müde, sonst nichts, mein Liebling. Und du? -«
»Haben sie dir weh getan - haben sie dich angerührt?«
»Nein, David, Sie sind eigentlich recht freundlich gewesen. Aber du weißt ja, wie müde ich manchmal werde. Erinnerst du dich an die Woche in Zürich, als du das Frauenmünster sehen wolltest und die Museen und auf der Limmat segeln, und ich dir gesagt habe, daß ich einfach nicht dazu in der Stimmung sei?«
Es hatte keine Woche in Zürich gegeben. Nur den Alptraum einer einzigen Nacht, in der sie beide beinahe ums Leben gekommen wären. Er auf der Flucht vor den Männern, die ihn töten wollten, und sie beinahe vergewaltigt, zum Tode verurteilt, an einem verlassenen Flußufer am Guisan Quai dem Tod entgegensehend. Was versuchte sie ihm zu sagen l
»Ja, ich erinnere mich.«
»Also brauchst du dir keine Sorgen um mich zu machen, Liebling. Gott sei Dank, daß du hier bist! Wir werden bald wieder Zusammensein, das haben sie mir versprochen. Es wird dann sein wie in Paris, David. Einnerst du dich an Paris, als ich dachte, ich hätte dich verloren? Aber du bist zu mir gekommen, und wir wußten beide, wohin wir gehen mußten. Diese hübsche Straße mit den dunkelgrünen Bäumen und den -«
»Das genügt jetzt, Mrs. Webb«, unterbrach eine Männerstimme. »Oder sollte ich sagen, Mrs. Borowski«, fügte der Mann hinzu, der offenbar jetzt direkt in die Muschel sprach.
»Du mußt nachdenken und vorsichtig sein!« schrie Marie im Hintergrund. »Und mach dir keine Sorgen, mein Liebster! Diese hübsche Straße mit der Reihe von grünen Bäumen, meinem Lieblingsbaum -«
»Ting zhi!« schrie die Männerstimme. »Bringt sie weg! Sie gibt ihm Informationen! Schnell! Laßt sie nicht sprechen!«
»Wenn Sie ihr das geringste Leid zufügen, wird Ihnen das den Rest Ihres kurzen Lebens leid tun«, sagte Webb eisig. »Ich schwöre bei Gott, daß ich Sie finden werde.«
»Bis zu diesem Augenblick hat es keinen Anlaß für Unfreundlichkeiten gegeben«, erwiderte der Mann langsam, und seine Stimme klang aufrichtig. »Man hat Ihre Frau gut behandelt. Sie hat sich über nichts zu beschweren.«
»Irgend etwas stimmt nicht mit ihr! Was, zum Teufel, haben Sie getan, das sie mir nicht sagen darf?«
»Das ist nur die Anspannung, Mr. Borowski. Und sie hat Ihnen etwas gesagt, ganz ohne Zweifel, indem sie in ihrer Angst versuchte, diesen Ort zu beschreiben - unrichtig, wie ich vielleicht hinzufügen sollte -, aber selbst wenn es zutreffen würde, wäre das für Sie ebenso nutzlos wie diese Telefonnummer. Sie ist zu einer anderen Wohnung unterwegs, einer von Millionen in Hongkong. Warum sollten wir ihr auch irgend etwas antun? Das wäre doch nur schädlich. Ein großer Taipan will sich mit Ihnen treffen.«
»Yao Ming?«
»Man kennt ihn ebenso wie Sie unter verschiedenen Namen. Vielleicht können Sie zu einer Einigung kommen.«
»Ja, sonst ist er ein toter Mann. Und Sie sind es auch.«
»Ich glaube, was Sie sagen, Jason Borowski. Sie haben einen Blutsverwandten von mir getötet, der außer Ihrer Reichweite war, und zwar in seiner eigenen Inselfestung auf Lantau. Sie werden sich sicherlich daran erinnern.«
»Ich führe nicht Buch. Yao Ming. Wann?«
»Heute abend.«
»Wo?«
»Bitte verstehen Sie, er ist sehr bekannt, es muß also ein äußerst ungewöhnlicher Ort sein.«
»Angenommen, ich wähle den Ort?«
»Das kommt natürlich nicht in Frage. Bestehen Sie nicht darauf. Wir haben Ihre Frau.«
Davids Muskeln spannten sich; er spürte, daß er im Begriff war, die Kontrolle über sich zu verlieren, die er so verzweifelt brauchte. »Nennen Sie den Ort«, sagte er.
»Die Ummauerte Stadt. Wir nehmen an, Sie kennen sie.«
»Ich habe von ihr gehört«, korrigierte ihn Webb und versuchte, sich auf seine Erinnerung zu konzentrieren. »Der schmutzigste Slum, den es auf der ganzen Welt gibt, wenn ich mich richtig entsinne.«
»Was sonst? Das ist der einzige legale Besitz der Volksrepublik in der ganzen Kronkolonie. Selbst der verabscheuungswürdige Mao Tse-tung hat unserer Polizei die Erlaubnis erteilt, sie zu säubern. Aber so gut werden Beamte nicht bezahlt. Im wesentlichen hat sich dort nichts geändert.«
»Wann heute abend?«
»Nach Einbruch der Dunkelheit, aber bevor der Bazar schließt. Ab neun Uhr dreißig und nicht später als fünfzehn Minuten vor zehn.«
»Wie finde ich diesen Yao Ming - der nicht Yao Ming ist?«
»Im ersten Abschnitt des Marktes gibt es eine Frau, die Schlangeneingeweide als Aphrodisiaka verkauft, vorzugsweise von der Kobra. Gehen Sie zu ihr, und fragen Sie, wo ein Großer ist. Sie wird Ihnen sagen, welche Treppe nach unten Sie nehmen sollen und welche Gasse. Man wird Sie erwarten.«
»Es könnte sein, daß ich nie dort hinkomme. Meine Hautfarbe ist dort nicht willkommen.«
»Niemand wird Ihnen etwas tun. Aber ich empfehle Ihnen, keine auffällige Kleidung zu tragen oder teuren Schmuck.« »Schmuck?«
»Wenn Sie eine teure Uhr besitzen, dann tragen Sie sie nicht.«
Für eine Uhr würden die dir den Arm abschneiden. Medusa.
»Danke für den Rat.«
»Noch etwas. Kommen Sie nicht auf den Gedanken, die Behörden hineinzuziehen oder etwa Ihr Konsulat, um den Taipan zu kompromittieren. Wenn Sie das tun, stirbt Ihre Frau.«
»Das war nicht nötig.«
»Bei Jason Borowski ist alles nötig. Man wird Sie beobachten.«
»Neun Uhr dreißig bis neun Uhr fünfundvierzig«, sagte Webb, legte den Hörer auf und erhob sich. Er ging ans Fenster und starrte auf den Hafen hinaus. Was war es? Was hatte Marie ihm mitzuteilen versucht?
... du weißt, wie müde ich manchmal werde.
Nein, das wußte er nicht. Seine Frau war ein kräftiges Mädchen, die sich nie beklagte, müde zu sein.
... mach dir keine Sorgen, mein Liebster!
Eine unsinnige Bitte, und das mußte sie auch wissen. Marie vergeudete keine wertvolle Zeit damit, Unsinniges zu sagen. Es sei denn ... wußte sie gar nicht, was sie sagte?
... es wird sein wie in Paris, David. Wir wußten beide, wohin wir gehen mußten ... Diese hübsche Straße mit den dunkelgrünen Bäumen.
Nein, das wirkte nur so, als ob sie nicht wüßte, was sie sagte; in ihren Worten war eine Botschaft versteckt. Aber was? Welche hübsche Straße mit »dunkelgrünen Bäumen«? Aber es wollte ihm nicht einfallen, und das machte ihn wahnsinnig. Sie hatte ihm ein Signal geschickt, und er begriff es nicht.
... du mußt nachdenken und vorsichtig sein!... Mach dir keine Sorgen, mein Liebster! Diese hübsche Straße mit der Reihe von
grünen Bäumen, meinem Lieblingsbaum Welche hübsche Straße? Welche verdammte Baumreihe, welcher Lieblingsbaum?
Nichts davon ergab für ihn einen Sinn, und das sollte es doch! Er sollte reagieren können, nicht einfach zum Fenster hinausstarren, ohne sich an irgend etwas zu erinnern.
Hilf mir, hilf mir! schrie er stumm hinaus.
Eine innere Stimme sagte ihm, daß er sich nicht an etwas klammern sollte, das er nicht verstand. Es gab vieles zu tun; er konnte nicht einfach ohne das geringste Wissen einen Treffpunkt aufsuchen, den der Feind ausgewählt hatte, nicht ohne selbst einige Trümpfe in der Hand zu haben ... Ich empfehle Ihnen, keine auffällige Kleidung zu tragen ...
Das wäre sie ohnehin nicht gewesen, dachte Webb, aber jetzt würde sie genau das Gegenteil sein - etwas Unerwartetes.
In den Monaten, in denen er die vielen Schichten Jason Borowskis abgeschält hatte, hatte sich immer wieder ein Thema wiederholt. Wechsel, Wechsel, Wechsel. Borowski änderte dauernd seine Erscheinung, man nannte ihn »das Chamäleon«, einen Mann, der ohne Mühe mit jeder Umgebung verschmelzen konnte. Nicht auf groteske Weise mit Perücken und falschen Nasen, nein, ein Mann, der das Wesentliche seines Aussehens der unmittelbaren Umgebung anpassen konnte, so daß diejenigen, die dem »Meuchelmörder« begegnet waren - wenn auch selten bei Tageslicht oder aus der Nähe -, völlig unterschiedliche Beschreibungen des Mannes lieferten, der in ganz Asien und Europa gejagt wurde. Die Details widersprachen sich stets: das Haar war dunkel oder hell; die Augen braun, blau oder gefleckt; die Haut bleich oder gebräunt oder fleckig; die Kleider von guter, unauffälliger Eleganz, wenn das Treffen in einem gedämpft beleuchteten, teuren Cafe stattfand, oder zerdrückt und schlecht sitzend, falls der Treffpunkt in einem Hafenviertel oder in der finstersten Gegend einer beliebigen
Stadt war. Wechsel. Mühelos, mit einem Minimum an Aufwand. David Webb würde dem Chamäleon in seinem Inneren vertrauen. Sich einfach fallenlassen, dort hingehen, wo Jason Borowski ihn hinführte.
Nachdem er aus dem Daimler gestiegen war, hatte er sich ein Zimmer im Peninsula-Hotel genommen und den Aktenkoffer im Hotelsafe verwahrt. Er war so geistesgegenwärtig, sich unter dem Namen einzutragen, der in Cactus' drittem falschen Paß stand. Falls man ihn suchte, dann unter dem Namen, den er im Regent angegeben hatte; sonst gab es keinen Anhaltspunkt.
Er überquerte die Salisbury Road, nahm den Personalaufzug, ging schnell in sein Zimmer und packte die wenigen Kleidungsstücke, die er brauchte, in die Flugtasche. Aber er gab das Zimmer im Regent nicht auf. Falls man ihn suchte, so sollten sie das dort tun, wo er nicht war.
Im Peninsula angekommen, hatte er Zeit, etwas zu essen und bis zum Einbruch der Dunkelheit in ein paar Läden herumzustöbern. Wenn es dann dunkel war, würde er in der Ummauerten Stadt sein - vor neun Uhr dreißig. Jason Borowski gab die Befehle, und David Webb befolgte sie.
Die Ummauerte Stadt von Kowloon besitzt keine sichtbare Mauer, die sie umgibt, ist aber doch so klar und eindeutig umgrenzt, als ob die Mauer eine harte, hohe Stahlwand wäre. Man spürt das sofort, wenn man den überfüllten Markt unter freiem Himmel sieht, der vor den düsteren, heruntergekommenen Wohnungen an der Straßenseite verläuft -einfach Hütten, die aufeinandergetürmt sind und den Eindruck vermitteln, als würde das Ganze jeden Augenblick unter seinem eigenen Gewicht zusammenbrechen und nichts als Schutt und Unrat hinterlassen. Und doch, wenn man ein paar Stufen ins Innere der Slums hinuntergeht, scheint dort auch eine Kraft zu walten, die freilich täuscht. Unter dem Straßenniveau führen mit
Kopfsteinpflaster bedeckte Gassen, meistenteils Tunnels, unter zerbrechlichen Bauten hindurch, und in den dreckigen Korridoren mischen sich verkrüppelte Bettler, halbnackte Prostituierte und Drogenhändler im gespenstischen Schein nackter Glühbirnen, die an freiliegenden Drähten an den Steinmauern hängen. Ein faulig-feuchter Dunst liegt über dem Ganzen; alles ist Fäulnis und Verwesung, aber zugleich scheint es, als hätte die Kraft der Zeit diesen Zustand des Verfalls besiegelt, ihn gleichsam eingemeißelt.
Zwischen den schmutzigen Gassen gibt es ohne besondere Ordnung enge, kaum beleuchtete Treppen, die in die heruntergekommenen Wohnbauten führen, die im Durchschnitt drei Stockwerke hoch sind, davon zwei über der Erde. In den kleinen, verkommenen Zimmern sind alle Variationen von Narkotika und Sex käuflich; alles jenseits des Zugriffs der Polizei - eine stumme Übereinkunft aller Betroffenen -, denn nur wenige Behörden der Kronkolonie legen Wert darauf, in die Eingeweide der Ummauerten Stadt einzudringen. Das Ganze ist eine in sich abgeschlossene Hölle.
Draußen, auf dem Markt, der die mit Unrat übersäten Straßen füllt, wo es keinen Verkehr gibt, zwängen sich schmutzige Tische voller Müll und Diebesgut zwischen schmierige Imbißbuden. Dort sieden in riesigen Kesseln, angefüllt mit kochendem Öl, bedenkliche Stücke von Fleisch, Geflügel und Schlangen, die dann mit großen Schöpfkellen herausgeholt und für den sofortigen Verzehr auf Zeitungspapier abgelegt werden. Die Menschenmassen schieben sich im schwachen Licht der Straßenlaternen von einem Händler zum nächsten, feilschen mit schrillen Stimmen, kaufen und verkaufen. Dann gibt es jene unterste Kategorie von Gewerbetreibenden, Männer und Frauen, ohne Tische und Stände, die ihre Ware auf dem Boden ausgelegt haben. Sie kauern hinter einem Tuch mit billigem Schmuck, größtenteils von den Docks gestohlen, und geflochtenen
Käfigen, in denen Käfer oder winzige flatternde Vögel zur Schau gestellt sind.
Nahe dem Eingang zu diesem stinkenden, widerwärtigen Bazar saß, etwas abgesondert, eine muskulös wirkende Frau auf einem niedrigen hölzernen Hocker, die dicken Beine gespreizt, und häutete Schlangen ab und nahm sie aus. Ihre dunklen Augen konzentrierten sich scheinbar ganz auf ihre Arbeit ... auf beiden Seiten von ihr standen Rupfensäcke, die in dauernder Bewegung waren und sich immer wieder aufbäumten, wenn die todgeweihten Reptilien in den Säcken zischend aufeinander losgingen. Mit dem rechten Fuß hielt die Frau eine Königskobra fest, deren jadeschwarzer Körper reglos und aufrecht dastand, der Kopf flach, die kleinen Augen unbewegt und von der sich vorbeischiebenden Menschenmenge hypnotisiert. Wie eine Barrikade schützten der Dreck und der Gestank des Marktes die mauerlose Ummauerte Stadt dahinter.
Jetzt kam am anderen Ende des langen Bazars eine armselig wirkende Gestalt um die Ecke und reihte sich in die Menschenschar ein. Der Mann trug einen billigen, schlecht sitzenden braunen Anzug mit zu weiten Hosen und einem zu großen Jackett, das nur um die nach vorne gebeugten Schultern eng anlag. Ein weicher, breitkrempiger Hut, schwarz und unverkennbar asiatischen Ursprungs, warf Schatten über sein Gesicht. Er bewegte sich langsam, wie es einem zukam, der die verschiedenen Imbißstände studierte und die Waren auf den Tischen begutachtete. Aber nur ein einziges Mal griff er vorsichtig in die Tasche, um etwas zu kaufen. Er hatte etwas Gebeugtes in seiner Haltung, wie ein Mann, den Jahre schwerer Arbeit auf den Feldern oder am Hafen niedergedrückt haben, in denen der Körper, dem so viel abverlangt wurde, nie genügend Nahrung bekommen hatte. Und dann war an diesem Mann eine Traurigkeit, ein Gefühl der Resignation, so als wäre für ihn immer alles zu wenig, zu spät und zu teuer gewesen. Es war die Erkenntnis der Machtlosigkeit, eines lange aufgegebenen
Stolzes, wo es doch nichts gab, worauf man stolz sein konnte; der Preis des Überlebens war zu hoch gewesen. Und dieser Mann, diese gebeugte Gestalt, die sich zögernd eine Zeitungspapiertüte voll gebratener, bedenklicher Fischstücke kaufte, war vielen der Männer auf dem Markt nicht unähnlich -man könnte sagen, er war von ihnen nicht zu unterscheiden. Jetzt trat er auf die muskulöse Frau zu, die gerade die Eingeweide aus einer immer noch zuckenden Schlange riß.
»Wo ist ein Großer?« fragte Jason Borowski auf chinesisch, die Augen auf die reglose Kobra gerichtet. Das Fett aus dem Zeitungspapier floß über seine linke Hand.
»Sie kommen früh«, erwiderte die Frau ausdruckslos. »Es ist dunkel, aber Sie kommen früh.«
»Man hat mich schnell gerufen. Zweifeln Sie an den Anweisungen des Taipan?«
»Beschissener Geizhals! Von wegen Taipan!« stieß sie in kehligem Kantonesisch hervor. »Aber mir kann das ja egal sein. Gehen Sie die Stufen hinter mir nach unten und nehmen Sie die erste Gasse links. Fünfzehn, zwanzig Meter weiter wird eine Hure stehen. Sie wartet auf den weißen Mann und wird ihn zu dem Taipan führen ... Sind Sie der weiße Mann? Das kann ich in diesem Licht nicht sagen, und Ihr Chinesisch ist gut - aber Sie sehen nicht aus wie ein weißer Mann und tragen auch nicht die Kleidung eines weißen Mannes.«
»Wenn Sie an meiner Stelle wären, würden Sie dann wie ein weißer Mann aussehen wollen und sich wie ein weißer Mann kleiden, wenn man Ihnen sagte, Sie sollen hierherkommen?«
»Ich würde mir wie tausend Teufel Mühe geben, so auszusehen, als käme ich aus Qing Gaoyan!« sagte die Frau und ließ beim Lachen ihre fauligen Zähne sehen. »Ganz besonders, wenn Sie Geld bei sich tragen. Tragen Sie Geld bei sich ... unser Zhongguo ren?«
»Sie schmeicheln mir - nein.«
»Sie lügen. Weiße lügen mit Engelszungen, wenn es um Geld geht.«
»Also gut, dann lüge ich eben. Hoffentlich greift mich Ihre Schlange deswegen nicht an.«
»Sie Idiot! Das ist ein ganz Alter, hat keine Giftzähne mehr. Aber er ist das himmlische Abbild des männlichen Organs. Er bringt mir Geld. Werden Sie mir Geld geben?«
»Für eine Gefälligkeit, ja.«
»Aiya! Wenn Sie diesen alten Körper wollen, müssen Sie eine Axt in der Hose haben! Dann sollten Sie lieber die Hure zerhacken, nicht mich!«
»Keine Axt, nur Worte«, sagte Borowski, und seine rechte Hand glitt in die Hosentasche. Er holte eine Hundert-DollarNote heraus und hielt sie der Schlangenverkäuferin vor das Gesicht, so daß die anderen Kauflustigen sie nicht sehen konnten.
»Aiya - aiya!« flüsterte die Frau, als Jason den Geldschein wieder wegzog; die tote Schlange fiel zwischen ihre dicken Beine.
»Die Gefälligkeit, die ich von Ihnen will«, wiederholte Borowski. »Da Sie dachten, ich wäre einer von Ihnen, nehme ich an, daß andere das auch denken werden. Ich möchte von Ihnen nur, daß Sie jedem, der danach fragt, sagen, der weiße Mann sei nie erschienen. Ist das fair?«
»Fair! Her mit dem Geld!«
»Und die Gefälligkeit?«
»Sie haben Schlangen gekauft! Schlangen! Was weiß ich schon von einem weißen Mann. Er ist nicht aufgetaucht! Hier. Hier ist die Schlange. Jetzt können Sie Liebe machen!« Die Frau nahm den Geldschein und stopfte die Eingeweide, die sie in der anderen Hand hielt, in eine Plastiktüte mit dem Schriftzug eines Modeschöpfers. Christian Dior.
Immer noch gebückt, verbeugte Borowski sich schnell zweimal hintereinander und schob sich rückwärts aus der Menge heraus. Als er weit genug von der Straßenlaterne entfernt war, ließ er den Schlangenkörper in den Rinnstein fallen. Das Zeitungspapier mit dem stinkenden Fisch hielt er immer noch in der Hand, und tat wiederholt so, als würde er daraus essen, während er sich langsam auf die Treppe zu arbeitete und in die dampfenden Eingeweide der Ummauerten Stadt hinunterstieg. Er sah auf die Uhr, wobei ihm ein paar Stücke von dem Fisch aus der Tüte fielen. Es war neun Uhr fünfzehn; bald würden die Streifen des Taipan ihre Posten beziehen.
Er mußte wissen, wie gut die Sicherheitsvorkehrungen des Bankiers waren. Für ihn war wichtig, daß die Lüge, die er dem Scharfschützen in dem verlassenen Büro über dem Hafen aufgetischt hatte, zur Wahrheit wurde. Anstatt beobachtet zu werden, wollte er der Beobachter sein. Jedes Gesicht würde er in seinem Gedächtnis einprägen, jede Rolle in der Kommandostruktur, die Schnelligkeit, mit der die einzelnen Leute unter Druck reagierten, die Kommunikationsgeräte - und ganz besonders wichtig war für ihn, die Schwächen in den Sicherheitsvorkehrungen des Taipan zu entdecken. David begriff, daß Jason Borowski dabei war, die Kontrolle zu übernehmen; in dem, was er tat, war Sinn. Die Nachricht des Bankiers hatte mit den Worten begonnen: Eine Frau für eine Frau ... Daran mußte nur ein Wort verändert werden. Ein Taipan für eine Frau.
Borowski bog in die Gasse zu seiner Linken und ging achtlos an Dingen vorbei, die auch ein Bewohner der Ummauerten Stadt nicht beachtet hätte. Auf einer dunklen Treppe vollführte eine Frau kniend den Akt, für den sie bezahlt wurde, und der Mann über ihr hielt Geld über ihrem Kopf in der Hand; ein junges Paar, ganz offensichtlich zwei Drogensüchtige, der Verzweiflung nahe, bettelten einen Mann in einer teuren schwarzen Lederjacke an; ein kleiner Junge, der eine
Marihuanazigarette rauchte, urinierte gegen die Steinmauer; ein Bettler ohne Beine klapperte auf seinem Räderbett über das Kopfsteinpflaster und sang dabei Bong ngo, bong ngo! - eine Bitte um Almosen; auf einer anderen schwach beleuchteten Treppe bedrohte ein auffallend gekleideter Zuhälter eine seiner Huren, er werde ihr das Gesicht zerschneiden, wenn sie nicht mehr Geld abliefere. David Webb sinnierte, daß er sich nicht gerade in Disneyland befand, während Jason Borowski die Gasse studierte, als handle es sich um eine Kampfzone hinter den feindlichen Linien. Neun Uhr vierundzwanzig. Die Soldaten würden jetzt ihre Posten einnehmen. Der Mann an der Oberfläche und der darunter machten kehrt und gingen den Weg zurück, den sie gekommen waren.
Die Hure des Bankiers bezog gerade Position; ihre grellrote Bluse war aufgeknöpft und bedeckte kaum ihre kleinen Brüste. Und der traditionelle Schlitz in ihrem schwarzen Rock reichte weit über ihre Schenkel. Sie war eine Karikatur. Der »weiße Mann« durfte keinen Fehler machen. Punkt eins: das
Augenfällige hervorheben. Etwas, das er sich merken mußte; die Gegenseite war nicht gerade subtil. Einige Meter hinter der Hure sagte ein Mann etwas in ein tragbares Funkgerät; jetzt hatte er die Frau erreicht, schüttelte den Kopf und eilte weiter, auf das Ende der Gasse und die Treppen zu. Borowski blieb stehen, sackte noch mehr in sich zusammen und wandte sich der Wand zu. Die Schritte waren jetzt hinter ihm, wurden schneller, eindringlicher, beschleunigten sich. Ein zweiter Chinese erschien und ging an ihm vorbei, ein kleiner Mann in mittleren Jahren in einem dunklen Straßenanzug mit auf Hochglanz polierten Schuhen. Dies war kein Bürger der Ummauerten Stadt; sein Ausdruck war eine Mischung aus Unruhe und Ekel. Ohne auf die Hure zu achten, sah er auf die Uhr und eilte weiter. Der Eindruck, den er vermittelte, war der eines leitenden Angestellten, dem man Pflichten übertragen hat, die er widerlich fand. Ein Firmenangestellter, präzise, ordentlich, profitorientiert, weil Zahlen nicht lügen. Ein Bankangestellter?
Jason studierte die unregelmäßige Reihe von Treppen. Über eine dieser Treppen mußte der Mann gekommen sein. Der Klang seiner Schritte war abrupt gewesen, und er hatte ihn noch nicht lange im Ohr. Dem Tempo nach zu schließen, hatten diese Schritte höchstens zwanzig oder dreißig Meter entfernt begonnen. Auf der dritten Treppe links oder der vierten rechts. In einer der Wohnungen über einer der beiden Treppen erwartete ein Taipan seinen Besucher. Borowski mußte herausfinden, welche Wohnung es war und auf welcher Etage sie lag. Der Taipan mußte überrascht, ja erschreckt werden. Er mußte erkennen, mit wem er sich angelegt hatte und was ihn seine Handlungen kosten würden.
Jason setzte sich wieder in Bewegung, jetzt mit den Schritten eines Betrunkenen; ein altes chinesisches Volkslied kam ihm in den Sinn. »Me U hua cherng zhan lie yue«, sang er leise und stieß sich leicht von der Wand ab, als er sich der Hure näherte. »Ich habe Geld«, sagte er freundlich, mit etwas undeutlich ausgesprochenen chinesischen Worten. »Und du, schöne Frau, hast das, was ich brauche. Wo gehen wir hin?«
»Nirgends, du bekloppter Säufer. Hau ab.«
»Bong ngo! Cheng bong ngo!« kreischte der Bettler ohne Beine und klapperte die Gasse hinunter und stieß gegen die Mauer. »Cheng bong ngo!« schrie er.
»Jau!« kreischte die Frau. »Verschwinde, ehe ich deinen nutzlosen Leib von deinem Brett trete, Loo Mi! Ich hab dir gesagt, du sollst meine Geschäfte nicht stören!«
»Geschäfte? Dieser billige Säufer? Ich besorg dir etwas Besseres!«
»Mit dem hab ich nichts zu schaffen, Herzchen. Lästig ist er mir. Ich warte auf jemanden.«
»Dann hacke ich ihm die Füße ab!« schrie die groteske Gestalt und zog eine Fleischeraxt unter dem Rollbrett hervor.
»Was, zum Teufel, soll das?« brüllte Borowski auf englisch und trat dem Bettler gegen die Brust, so daß der beinlose Mann und sein Brett gegen die Wand prallten.
»Es gibt noch Gesetze!« kreischte der Bettler. »Sie haben einen Krüppel angegriffen! Sie berauben einen Krüppel!«
»Dann zeigen Sie mich doch an«, sagte Jason und wandte sich wieder der Frau zu, während der Bettler sich klappernd die Gasse hinunter entfernte.
»Sie sprechen ... englisch.« Die Hure starrte ihn an.
»Sie auch«, sagte Borowski.
»Sie sprechen chinesisch, aber Sie sind kein Chinese.«
»Im Geist vielleicht doch. Ich habe Sie gesucht.«
»Sie sind der Mann?«
»Der bin ich.«
»Ich bringe Sie zu dem Taipan.«
»Nein. Sagen Sie mir nur, welche Treppe und welche Etage.«
»Das ist gegen meine Anweisungen.«
»Das sind neue Anweisungen vom Taipan. Zweifeln Sie an seinen Anweisungen?«
»Ich muß sie von seinem Mittelsmann bekommen.«
»Dem kleinen Zhongguo ren im dunklen Anzug?«
»Der sagt uns alles. Er bezahlt uns für den Taipan.«
»Wen bezahlt er?«
»Fragen Sie ihn selbst.«
»Der Taipan will es wissen.« Borowski griff in die Tasche und holte ein Bündel zusammengefalteter Geldscheine heraus. »Er hat mir gesagt, ich soll Ihnen zusätzlich Geld geben, wenn
Sie mir helfen. Er glaubt, daß ihn sein Mittelsmann möglicherweise betrügt.«
Die Frau trat einen halben Schritt zurück und preßte sich gegen die Mauer. Ihr Blick wanderte zwischen dem Geld und Borowskis Gesicht hin und her. »Wenn Sie lügen -«
»Warum sollte ich lügen? Der Taipan will mit mir sprechen, das wissen Sie. Sie sollen mich zu ihm bringen. Er hat mir gesagt, daß ich mich so kleiden soll und mich so verhalten, Sie finden und seine Männer beobachten. Wie könnte ich über Sie Bescheid wissen, wenn er es mir nicht gesagt hätte?«
»Droben im Markt. Sie sollten jemanden aufsuchen.«
»Ich bin nicht dort gewesen. Ich bin sofort hier heruntergekommen.« Jason nahm ein paar Scheine aus dem Bündel. »Wir arbeiten beide für den Taipan. Da, er möchte, daß Sie das nehmen und weggehen, aber Sie sollen nicht zur Straße hinaufgehen.« Er hielt ihr das Geld hin.
»Der Taipan ist großzügig«, sagte die Hure und griff nach den Scheinen.
»Welche Treppe?« fragte Borowski und zog das Geld zurück. »Welche Etage? Das wußte der Taipan nicht.«
»Dort drüben«, erwiderte die Frau und wies auf die andere Seite der Gasse. »Die dritte Treppe, erste Etage. Das Geld.«
»Wer steht auf der Lohnliste des Mittelsmannes? Schnell.«
»Die alte Hexe mit den Schlangen und der Dieb, der billige Goldketten aus dem Norden verkauft, und der Mann vom Imbißstand mit dem schmutzigen Fisch.«
»Und das ist alles?«
»Wir reden. Das ist alles.«
»Der Taipan hat recht, er wird betrogen. Er wird Ihnen danken.« Borowski zog einen weiteren Schein aus dem Bündel heraus. »Aber ich möchte fair sein. Wie viele andere außer dem einen mit dem Funkgerät arbeiten noch für den Kopfmann?«
»Noch drei, die haben auch Funkgeräte«, sagte die Hure, die das Geld nicht aus den Augen ließ und deren Hand sich unwillkürlich nach vorne schob.
»Da, nehmen Sie es und gehen Sie. In die Richtung, und ja nicht auf die Straße.«
Die Frau riß die Scheine an sich und rannte die Gasse hinunter. Das Klappern ihrer hohen Absätze war noch zu hören, als ihre Gestalt bereits aus dem schwachen Lichtschein verschwunden war. Borowski wartete noch eine Weile, drehte sich dann um und ging schnell auf die Treppe zu. Er hatte jetzt wieder seine gebeugte Haltung eingenommen und kletterte zur Straße hinauf. Drei Wächter und ein Mittelsmann. Er wußte, was er zu tun hatte, und es mußte schnell geschehen. Es war neun Uhr sechsunddreißig. Ein Taipan für eine Frau.
Den ersten Wachmann fand er, wie er hektisch und mit scharfen, stechenden Handbewegungen auf den Fischhändler einredete. Der Händler schüttelte immer wieder den Kopf. Borowski suchte sich einen kräftig gebauten Mann aus, der neben dem Wächter stand; er stieß den arglosen Zuschauer gegen den Wächter und trat zur Seite, als der zurücktaumelte. In dem kurzen Handgemenge zog Jason den verwirrten Wächter zur Seite, versetzte ihm einen Handkantenschlag gegen die Kehle, stützte ihn, als er umfiel, und versetzte ihm dann einen weiteren Handkantenschlag in den Nacken, ganz oben, wo die Wirbelsäule ansetzt. Dann zerrte er den Bewußtlosen über das Pflaster und entschuldigte sich auf chinesisch bei der Menge für seinen betrunkenen Freund. Er ließ den Mann vor einem Ladeneingang fallen, nahm ihm das Funkgerät weg und zerschmetterte es.
Beim zweiten Mann des Taipan bedurfte es keiner solchen Taktik. Er hatte sich etwas von der Menge abgesetzt und schrie in sein Funkgerät. Borowski ging auf ihn zu. Wie er aussah, wirkte er nicht bedrohlich auf den Wächter. Er streckte die Hand aus, als wäre er ein Bettler. Der Wachmann wehrte ihn mit einer
Handbewegung ab; das war die letzte Geste, an die er sich erinnern würde, denn Borowski packte ihn am Handgelenk, drehte es herum und brach dem Mann den Arm. Vierzehn Sekunden später lag der zweite Wächter des Taipan hinter einem Müllhaufen, den jetzt sein kaputtes Funkgerät krönte.
Der dritte Wächter sprach gerade mit der »alten Hexe«. Borowski stellte befriedigt fest, daß sie ebenso wie der Fischhändler immer wieder den Kopf schüttelte; wenn man die Leute hier ordentlich bestach, dann gab es selbst in der Ummauerten Stadt eine gewisse Loyalität. Der Mann zog sein Funkgerät heraus, bekam aber keine Gelegenheit mehr, es zu benutzen. Jason rannte auf ihn zu, packte die alte, zahnlose Kobra und stieß dem Mann ihren flachen Kopf ins Gesicht. Der Schrei, den er ausstieß, wobei seine Augen sich entsetzt weiteten, reichte Jason Borowski als Reaktion. Er legte ihn lahm, indem er ihm die Nerven in der Kehlpartie abdrückte, und zerrte sein gelähmtes Opfer durch die Menge, immer wieder Entschuldigungen murmelnd, und ließ den bewußtlosen Wächter dann einfach auf dem Pflaster liegen. Er hielt sich das Funkgerät ans Ohr; über den Empfänger kam nichts herein. Es war jetzt neun Uhr vierzig. Blieb nur noch der Mittelsmann.
Der kleine Chinese mit dem teuren Anzug und den auf Hochglanz polierten Schuhen hätte sich am liebsten die Nase zugehalten, während er hin und her rannte und versuchte, seine Männer ausfindig zu machen; jeder körperliche Kontakt mit den Menschenscharen, die sich um die Imbißstände und Auslagen drängten, war ihm widerwärtig. Seine kleine Statur machte es ihm schwer, sich zu orientieren. Borowski beobachtete ihn einige Augenblicke, überholte ihn dann und drehte sich schnell um und trieb dem Mittelsmann des Taipan die Faust in den Unterleib. Als der Chinese zusammenklappte, griff Jason mit dem linken Arm um die Hüfte des Mannes, hob ihn auf und schleppte die schlaffe Gestalt zu einem Stück Bürgersteig, wo zwei Männer am Boden saßen und sich, leicht schwankend, abwechselnd aus einer Flasche bedienten. Er hieb dem Bankangestellten einen Wushu-Schlag über den Nacken und ließ ihn dann zwischen seine beiden neuen Gefährten fallen. Selbst in ihrem benebelten Zustand würden die Betrunkenen bestimmt dafür sorgen, daß ihr neuer Kumpan geraume Zeit nicht mehr zu Bewußtsein kam. Es gab Taschen zu leeren und einen Anzug und ein Paar Schuhe auszuziehen. Das alles würde etwas einbringen, und für Bargeld, gleich wieviel, lohnte sich jede Mühe. Neun Uhr dreiundvierzig.
Borowski hielt sich jetzt nicht länger geduckt. Das Chamäleon war verschwunden. Er hetzte über die von Menschen wimmelnde Straße, rannte die Stufen hinunter und in die Gasse. Er hatte es geschafft. Er hatte die Leibgarde beseitigt. Ein Taipan für eine Frau! Er erreichte die Treppe - die dritte Treppe an der rechten Mauer - und riß die erstaunliche Waffe heraus, die er dem Waffenhändler in Mongkok abgekauft hatte. So leise ihm das möglich war, und jede Stufe vorher mit dem Fuß erprobend, stieg er in den ersten Stock. Vor der Tür blieb er stehen, hob das linke Bein, spannte alle Muskeln an, achtete darauf, das Gleichgewicht nicht zu verlieren und trat mit aller Kraft gegen das dünne Holz.
Die Tür flog auf. Er sprang hinein und kauerte sich nieder, die Waffe ausgestreckt.
Er sah sich drei Männern gegenüber, die einen Halbkreis bildeten. Jeder der drei Männer hielt eine Waffe auf seinen Kopf gerichtet. Hinter ihnen saß ein hünenhafter Chinese im weißen Seidenanzug in einem Sessel. Der Mann nickte seinen Leibwächtern zu.
Er hatte verloren. Borowski hatte sich verrechnet, und David Webb würde sterben. Und, was viel qualvoller war, er wußte, daß Maries Tod kurz darauf folgen würde. Sollen sie doch schießen, dachte David. Sollten sie doch abdrücken und ihn aus dieser Qual erlösen! Er hatte das einzige getötet, was in seinem Leben Bedeutung hatte.
»Schießt doch, ihr Schweine! Schießt!«