Marie lag auf dem schmalen Bett und starrte zur Decke. Die Strahlen der Nachmittagssonne fielen durch die vorhanglosen Fenster und erfüllten den kleinen Raum mit blendendem Licht und zuviel Hitze. Schweiß stand ihr auf dem Gesicht, und die zerfetzte Bluse klebte an ihrer feuchten Haut. Ihre Füße schmerzten von dem morgendlichen Wahnsinn, von dem Spaziergang auf einer halb fertiggestellten Küstenstraße zu einem steinigen Streifen Strand - eigentlich eine Dummheit, aber im Augenblick das einzige, was sie hatte tun können - sie war im Begriff gewesen, den Verstand zu verlieren.
Die Straßengeräusche drangen zu ihr herauf, eine fremdartige Kakophonie aus schrillen Stimmen, Fahrradklingeln und den Hupen von Bussen und Lkws. Es war, als hätte man ein überfülltes, hektisches Stück Hongkong aus der Insel herausgerissen und an einen weit entfernten Ort verpflanzt, wo ein breiter Fluß, endlose Felder und dahinter ferne Berge die Stelle von Victoria Harbor und den zahllosen Reihen hoher Bauten aus Glas und Stein einnahmen. In gewissem Sinne hatte sogar eine solche Verpflanzung stattgefunden, überlegte sie. Die Miniaturstadt Tuen Mun war auch ein aus zu wenig Platz entstandenes Phänomen, wie sie nördlich von Kowloon in den New Territories in die Höhe geschossen waren. Vor einem Jahr war es noch eine trockene Flußebene gewesen, im nächsten eine sich schnell entwickelnde Metropole aus gepflasterten Straßen, Fabriken, Einkaufszentren und sich ausdehnenden Wohnbauten, alles Verlockungen für die Menschen aus dem Süden, ein Versprechen von Wohnung und Arbeit für Tausende, und diejenigen, die dem Ruf folgten, brachten die unverkennbare Hysterie des Lebens von Hongkong mit sich.
Marie war beim ersten Morgenschimmer erwacht, nach einem Schlaf voller quälender Alpträume - und hatte gewußt, daß sie jetzt warten mußte, so, als gäbe es keine Zeit, bis Catherine sie anrief. Catherine Staples hatte sie gestern abend angerufen, sie aus einem Schlaf gerissen, in den sie völlig erschöpft gesunken war, nur um ihr höchst geheimnisvoll mitzuteilen, daß einige ungewöhnliche Dinge geschehen seien, die zu günstigen Nachrichten führen könnten. Sie würde sich mit einem Mann treffen, der Interesse gezeigt hatte, einem bemerkenswerten Mann, der helfen konnte. Marie sollte in der Wohnung bleiben, beim Telefon, falls sich irgend etwas Neues entwickelte. Da Catherine ihr eingeschärft hatte, am Telefon keinen Namen zu gebrauchen, hatte Marie keine Fragen gestellt und war auch nicht auf die Kürze des Anrufs eingegangen. »Ich rufe dich morgen früh gleich an, meine Liebe.« Mit diesen Worten hatte Catherine Staples abrupt aufgelegt.
Sie hatte weder um halb neun noch um neun angerufen. Und jetzt war es halb zehn, und Marie konnte es nicht länger ertragen. Sie überlegte, daß Namen unnötig waren, wo doch jede die Stimme der anderen kannte, und Catherine mußte verstehen, daß David Webbs Frau ein Recht darauf hatte, irgend etwas zu erfahren. Marie hatte in Catherines Wohnung angerufen; niemand hatte sich gemeldet, und so hatte sie noch einmal gewählt, um auch ganz sicher zu sein, daß sie nicht die falsche Nummer gewählt hatte. Nichts. In ihrer Enttäuschung und ohne viel nachzudenken, hatte sie das Konsulat angerufen.
»Catherine Staples, bitte. Ich bin mit ihr befreundet, noch aus Ottawa her. Ich würde sie gern überraschen.«
»Die Verbindung ist aber sehr gut.«
»Ich bin nicht in Ottawa, ich bin hier«, sagte Marie und sah das Bild der gesprächigen Empfangssekretärin nur zu deutlich vor sich.
»Tut mit leid, meine Liebe, Mrs. Staples ist nicht im Hause und hat keine Anweisungen hinterlassen. Ehrlich gesagt, ihr Chef sucht sie auch. Wollen Sie mir nicht Ihre Nummer geben -«
Marie ließ den Hörer auf die Gabel fallen und war plötzlich von Panik erfüllt. Es war inzwischen fast zehn Uhr geworden, und Catherine stand immer früh auf. >Gleich morgen früh< konnte zwischen halb acht und halb zehn bedeuten, wahrscheinlich irgendwo in der Mitte, aber nicht zehn Uhr, nicht bei diesem Stand der Dinge. Und dann hatte zwölf Minuten später das Telefon geklingelt. Und damit war die Panik noch schlimmer geworden.
»Marie?«
»Catherine! Ist bei dir alles in Ordnung?«
»Ja, natürlich.«
»Warum hast du nicht schon früher angerufen? Ich war dabei, den Verstand zu verlieren! Kannst du reden?«
»Ja, ich bin in einer öffentlichen Telefonzelle -«
»Was ist passiert? Was passiert jetzt? Wer ist der Mann, mit dem du dich getroffen hast?«
Catherine hatte eine kurze Pause gemacht, und einen Augenblick lang war das Schweigen irgendwie peinlich, ohne daß Marie hätte sagen können, warum. »Bleib bitte ganz ruhig, meine Liebe«, sagte Catherine. »Ich habe nicht früher angerufen, weil du Ruhe gebraucht hast, soviel Ruhe wie irgend möglich. Es könnte sein, daß ich die Antworten habe, die du willst, die du brauchst. Es ist nicht so schrecklich wie du glaubst, und du mußt ruhig bleiben.«
»Verdammt, ich bin ruhig. Zumindest bin ich einigermaßen vernünftig! Wovon, zum Teufel, redest du?«
»Ich kann dir sagen, daß dein Mann am Leben ist.«
»Und ich kann dir sagen, daß er in dem, was er tut, sehr gut ist
- in dem, was er früher getan hat. Aber damit sagst du mir überhaupt nichts!«
»Ich fahre jetzt in ein paar Minuten zu dir. Der Verkehr ist natürlich schrecklich, wie immer, und all die
Sicherheitsvorkehrungen für die chinesisch-britischen Delegationen machen das noch schlimmer, weil sämtliche Straßen und der Tunnel verstopft sind. Aber es sollte nicht länger als eineinhalb Stunden, allerhöchstens zwei dauern.«
»Catherine, ich will Antworten hören!«
»Die gebe ich dir auch, wenigstens einige. Ruh dich aus, Marie, versuche dich zu entspannen. Alles wird wieder in Ordnung kommen. Ich bin bald bei dir.«
»Dieser Mann«, bettelte David Webbs Frau. »Kommt er , mit?«
»Nein, ich komme alleine. Niemand wird bei mir sein. Ich möchte mit dir reden. Du wirst ihn später sehen.«
»Also gut.«
War es nun Catherines Tonfall gewesen? Das hatte sich Marie gefragt, nachdem sie aufgelegt hatte. Oder lag es daran, daß Catherine ihr buchstäblich nichts gesagt hatte, obwohl sie erklärt hatte, sie spreche von einer öffentlichen Telefonzelle aus und könne reden? Die Catherine Staples, die sie kannte, würde versuchen, die Ängste einer verstörten Freundin zu lindern, wenn sie wirklich über konkrete Fakten verfügte, und wäre es nur ein winziges Stückchen wichtiger Information, falls das ganze Gewebe zu kompliziert war. Irgend etwas. David Webbs Frau hatte Anspruch auf irgend etwas! Statt dessen hatte sie nur Diplomatengeschwätz gehört, die Andeutung von Realität, aber keine Substanz. Irgend etwas stimmte hier nicht, aber sie konnte es nicht greifen. Catherine hatte sie beschützt und war für sie enorme Risiken eingegangen, sowohl in beruflicher Hinsicht, indem sie ihr Konsulat nicht verständigte, als auch persönlich, indem sie sich körperlicher Gefahr aussetzte. Marie wußte, daß sie eigentlich Dankbarkeit empfinden sollte, überwältigende Dankbarkeit, und doch empfand sie statt dessen nur wachsende Zweifel. Sag es noch einmal, Catherine, hatte sie lautlos hinausgeschrien, sag, daß alles in Ordnung sein wird! Ich kann nicht mehr denken. Ich muß hinaus ... ich brauche Luft!
Sie hatte in den Kleidern herumgewühlt, die sie für sie gestern abend gekauft hatten, als sie Tuen Mun erreicht hatten, nachdem Staples sie zu einem Arzt gebracht hatte, der ihre Füße behandelt, sie verbunden und ihr Krankenhauspantoffeln verpaßt hatte und ihr empfohlen hatte, Schuhe mit dicken Sohlen zu tragen, falls sie in den nächsten Tagen ängere Wege zu Fuß zurücklegen mußte. Catherine hatte die Kleider ausgesucht, während Marie im Wagen wartete, und wenn man bedachte, unter welcher Anspannung Catherine stand, so war das, was sie gewählt hatte, sowohl attraktiv als auch zweckmäßig. Ein hellgrüner Baumwollrock und eine weiße Baumwollbluse, und dazu eine kleine, bestickte weiße Handtasche. Dann noch dunkelgrüne lange Hosen - Shorts waren unpassend - und eine zweite Bluse. Bei jedem einzelnen Stück handelte es sich um Imitationen bekannter Modeschöpfer, nur daß diesmal die Etiketten fehlerfrei waren.
»Das ist alles sehr hübsch, Catherine. Vielen Dank.«
»Es paßt zu deinem Haar«, hatte Staples gesagt. »Nicht daß irgend jemand in Tuen Mun das bemerken wird - ich möchte, daß du in der Wohnung bleibst -, aber irgendwann müssen wir hier ja weg. Außerdem habe ich dir etwas Geld in die Handtasche gesteckt, für den Fall, daß ich im Büro nicht wegkann und du etwas brauchst.«
»Ich hab gedacht, ich soll die Wohnung nicht verlassen und wir würden auf dem Markt noch ein paar Sachen einkaufen.«
»Ich habe keine Ahnung, was in Hongkong zur Zeit los ist, genausowenig wie du. Lin könnte so wütend sein, daß er irgendwelche alten Gesetze aus der Kolonialzeit ausgräbt und mich unter Hausarrest stellt ... An der Blossom Soon Street gibt es ein Schuhgeschäft. Die Slipper mußt du selbst anprobieren. Ich komme natürlich mit.«
Ein paar Augenblicke waren verstrichen, und dann meinte Marie: »Catherine, wie kommt es, daß du dich hier so gut auskennst? Bis jetzt habe ich auf der Straße nur lauter Chinesen gesehen. Wem gehört die Wohnung?«
»Einem Freund«, sagte Catherine, ohne näher auf die Frage einzugehen. »Sie wird kaum benutzt, also komme ich manchmal hierher, wenn ich mich etwas entspannen möchte.« Mehr hatte Catherine nicht gesagt; das Thema schien tabu zu sein. Selbst als sie den größten Teil der Nacht miteinander geredet hatten, war es nicht möglich gewesen, irgendwelche weiteren diesbezüglichen Informationen aus Catherine herauszuholen. Es war ein Thema, auf das sie einfach nicht einging.
Marie hatte die Hose und die Bluse angezogen und sich mit den ein paar Nummern zu großen Schuhen abgemüht. Vorsichtig war sie die Treppe hinuntergegangen und auf die belebte Straße hinausgetreten, wobei ihr sofort bewußt wurde, wieviel Neugierde sie erweckte. Einen Augenblick lang hatte sie überlegt, ob sie umkehren und wieder hineingehen sollte. Aber das konnte sie nicht - die paar Minuten Freiheit von der Enge der kleinen Wohnung wirkten wie ein Labsal auf sie. Langsam, unter Schmerzen, schlenderte sie die Straße entlang, von den Farben, den hektischen Bewegungen und dem endlosen Schnattern rings um sie wie hypnotisiert. Ebenso wie in Hongkong waren an den Gebäuden überall grellbunte Tafeln angebracht, und überall feilschten Leute miteinander vor Verkaufsständen und in den Türnischen der Geschäfte. Es war wirklich, als hätte man ein Stück der Kronkolonie entwurzelt und hier draußen eingepflanzt.
Am Ende einer Nebenstraße hatte sie ein Stück nicht fertiggestellter Straße entdeckt; offenbar hatte man die Arbeiten für eine Weile eingestellt, denn am Straßenrand standen noch Bagger - unbenutzt und rostend - herum. Zwei Tafeln in chinesischen Schriftzeichen standen daneben. Vorsichtig arbeitete sie sich den steilen Abhang hinunter zu dem verlassenen Stück Strand und setzte sich auf einen Felsbrocken; die Minuten der Freiheit verschafften ihr wertvolle Augenblicke des Friedens. Sie blickte hinaus und sah auf die Boote, die von den Docks von Tuen Mun hinaussegelten, und auf jene anderen, die aus der Volksrepublik hereinkamen. So weit sie sehen konnte, handelte es sich bei ersteren um Fischerboote mit Netzen am Bug, während die Boote vom chinesischen Festland hauptsächlich kleine Lastschiffe waren, deren Decks mit Ballen überhäuft waren - aber nicht alle. Man konnte auch schlanke, graue Streifenboote mit der Fahne der Volksrepublik sehen, Boote mit unheil drohenden schwarzen Kanonen und uniformierten Männern, die reglos danebenstanden und durch Feldstecher zum Land spähten. Hin und wieder ging ein solches Marineboot an einem Fischerboot längsseits, was jedesmal zu einem erregten Gestikulieren der Fischer führte. Doch die Reaktion der Soldaten darauf war stets stoisch und ruhig, und nach einer Weile lösten sich die Streifenboote wieder und glitten davon. Das alles war ein Spiel, dachte Marie. Der Norden bestätigte hier in aller Stille die totale Kontrolle, die er über alles ausübte, und dem Süden blieben nur Proteste über die Störung seiner Fischgründe. Ersterer besaß die Stärke von hartem Stahl und einer disziplinierten Kommandokette, letzterer weiche Netze und Hartnäckigkeit. Niemand war der Sieger, nur die ungleichen Schwestern, Langeweile und Angst.
»Jing-cha!« rief eine Männerstimme aus der Ferne, hinter ihr.
»Shai!« kreischte eine zweite. »M zai zher gan shemma?«
Marie wirbelte herum. Zwei Männer kamen von der Straße her auf sie zugerannt, ihre Schreie galten ihr, waren Befehle. Sie stand schwerfällig auf, stützte sich auf die Felsen, während die beiden auf sie zugerannt kamen. Die beiden Männer trugen eine Art paramilitärischer Kleidung, und als sie sie genauer ansah, erkannte sie, daß sie jung waren - fast noch Teenager, höchstens zwanzig.
»Bu xing!« bellte der größere Junge, blickte den Hügel hinauf und bedeutete seinem Begleiter mit Gesten, er solle sie festhalten. Was auch immer es war, es sollte schnell geschehen. Der zweite Junge preßte ihr die Arme von hinten zusammen.
»Lassen Sie das!« schrie Marie und wehrte sich. »Wer sind Sie?«
»Lady spricht englisch«, stellte der erste junge Mann fest. »Ich spreche englisch«, fügte er stolz, fast salbungsvoll hinzu. »Ich habe für einen Juwelier in Kowloon gearbeitet.« Wieder blickte er die halbfertige Straße hinauf.
»Dann sagen Sie Ihrem Freund, er soll mich loslassen!«
»Die Lady sagt mir nicht, was ich tun soll. Ich sage der Lady.« Der junge Mann kam näher, und seine Augen fixierten Maries Brüste unter der Bluse. »Das ist verbotene Straße, ein verbotenes Stück Ufer. Die Lady hat die Tafeln nicht gesehen?«
»Ich kann nicht Chinesisch lesen. Es tut mir leid, ich gehe schon. Sagen Sie ihm nur, er soll mich loslassen.«
Plötzlich spürte Marie, wie der Körper des jungen Mannes sich von hinten gegen sie preßte. »Aufhören!« schrie sie und hörte leises Gelächter an ihrem Ohr, spürte warmen Atem am Hals.
»Will sich die Lady mit einem Boot mit Verbrechern aus der Volksrepublik treffen? Gibt sie Männern im Wasser ein Signal?« Der größere Chinese griff mit beiden Händen nach Maries Bluse, und seine Finger tasteten nach den Knöpfen. »Verbirgt sie vielleicht ein Radio, ein Signalgerät? Es ist unsere Pflicht, solche Dinge zu erfahren. Das erwartet die Polizei von uns.«
»Verdammt, nehmen Sie die Hände weg!« Marie wand sich im
Griff des jungen Mannes und trat zu, der Mann hinter ihr riß sie um, während der größere Junge ihre Beine packte und sie zwischen den seinen festklemmte. Jetzt konnte sie sich nicht mehr bewegen. Der erste Chinese riß ihr die Bluse und dann den Büstenhalter herunter, umfaßte ihre Brüste mit beiden Händen. Sie schrie und schlug um sich und schrie wieder, bis einer der Chinesen sie schließlich ohrfeigte und ihr mit zwei Fingern die Kehle zudrückte, so daß sie keinen Ton mehr hervorbrachte, nur halb ersticktes Husten. Und da war wieder der Alptraum von Zürich - Vergewaltigung und Tod am Guisan-Kai.
Sie schleppten sie zu einem mit hohem Gras bestandenen Streifen Land, und der Junge hinter ihr hielt ihr die Hand über den Mund gedrückt, und dann den rechten Arm, schnitt ihr die Luft ab und hinderte sie am Schreien. Jetzt wurde sie auf den Boden geworfen, und einer der Angreifer drückte ihr den nackten Bauch aufs Gesicht, während der andere an ihr die Hosen herunterzog und ihr zwischen die Beine griff. Es war wieder Zürich, nur daß sie diesmal nicht in der kalten Schweizer Finsternis am Boden lag, sondern in der feuchten Hitze Asiens; und statt der Limmat war da ein anderer Fluß, viel breiter, viel verlassener; und statt einem Tier waren da zwei. Jetzt konnte sie den Körper des großen Chinesen auf sich spüren, der in seiner Panik zustieß und wütend war, daß es ihm nicht gelang, in sie einzudringen. Sie schlug um sich, versuchte seinen Angriff abzuwehren. Einen Augenblick griff der Junge, der über ihrem Gesicht lag, unter seine Hose - einen Augenblick lang konnte Marie sich bewegen, und die Welt rings um sie wurde wahnsinnig! Sie grub die Zähne in das Fleisch über ihr, daß das Blut hervorquoll, spürte das Fleisch im Mund.
Schreie! Der Druck an ihren Armen ließ nach. Sie trat zu, als der junge Asiate sich beiseite wälzte und sich den Leib hielt; jetzt schmetterte sie ihr Knie in das freiliegende Glied über ihr und krallte nach dem schwitzenden Gesicht mit den wilden Augen über ihr, schrie jetzt selbst - brüllte, flehte, schrie, wie sie noch nie in ihrem Leben geschrien hatte. Sich noch immer die Hoden haltend, warf sich der Junge über sie, aber jetzt ging es ihm nicht mehr um Vergewaltigung, er wollte nur, daß sie still war. Erstickend hatte Marie das Gefühl, daß Dunkelheit sich um sie schloß - und dann hatte sie andere Stimmen in der Ferne gehört, erregte Stimmen, die näher kamen, und sie wußte, daß sie einen letzten Hilfeschrei ausstoßen mußte. Sie bäumte sich verzweifelt auf, grub die Nägel in das verzerrte Gesicht über ihr und schaffte es, einen Augenblick lang ihren Mund freizumachen.
»Hier! Hier unten! Hier!«
Und plötzlich wimmelte es über ihr von Körpern; sie konnte Tritte und Schläge und wütende Schreie hören, aber nichts davon galt ihr. Und dann war die Dunkelheit gekommen, und ihre letzten Gedanken galten nur teilweise ihr selbst. David! David, um Gottes willen, wo bist du! Bleib am Leben, mein Liebster!
Laß nicht zu, daß sie dich wieder um den Verstand bringen! Unter keinen Umständen darfst du das zulassen! Sie wollen mich auch in den Wahnsinn treiben, und ich werde das nicht zulassen! Warum tun die uns das an? O mein Gott, warum!
Sie war auf einer Pritsche in einem kleinen, fensterlosen Raum erwacht, und eine junge Chinesin, ein Mädchen noch, wischte ihr mit einem kühlen, parfümierten Tuch die Stirn ab. »Wo ...?« flüsterte Marie. »Wo ist das? Wo bin ich?«
Das Mädchen lächelte reizend, zuckte die Achseln und nickte einem Mann auf der anderen Seite der Pritsche zu, einem Chinesen, von dem Marie annahm, daß er Mitte der Dreißig war. Er trug Tropenkleidung und anstelle eines Hemdes ein weißes Guyabera. »Gestatten Sie mir, daß ich mich vorstelle«, sagte er in korrektem Englisch, wenn auch mit Akzent. »Mein Name ist Jitai, ich arbeite bei der Tuen-Mun-Zweigstelle der Hang-Chow-Bank. Sie befinden sich im Hinterzimmer eines Stoffgeschäftes, das einem Freund und Klienten von mir, Mr. Chang, gehört. Man hat Sie hierhergebracht und nach mir gerufen. Sie sind von zwei Halbstarken der Di-di Jing Cha überfallen worden. Das sind Hilfspolizisten. Es handelt sich dabei um eines dieser gutgemeinten Sozialprogramme, die zwar viele Vorteile haben, aber natürlich gibt es dabei gelegentlich auch faule Eier, wie ihr Amerikaner sagt.«
»Warum halten Sie mich für eine Amerikanerin?«
»Ihre Sprache. Während Sie bewußtlos waren, sprachen Sie von einem Mann namens David. Ein lieber Freund ohne Zweifel. Sie wollen ihn finden.«
»Was habe ich sonst noch gesagt?«
»Eigentlich nichts. Was Sie sagten, war nicht sehr zusammenhängend.«
»Ich kenne niemanden, der David heißt«, sagte Marie mit fester Stimme. »Nicht so gut. Das muß eines von den Delirien gewesen sein, die weit in die Vergangenheit reichen.«
»Das ist unwichtig. Es kommt nur auf Ihr Wohlbefinden an. Uns erfüllt Scham und Sorge über das, was geschehen ist.«
»Wo sind die beiden Saukerle?«
»Man hat sie festgenommen und wird sie bestrafen.«
»Ich hoffe nur, daß sie zehn Jahre Gefängnis bekommen.« Der Chinese runzelte die Stirn. »Dazu müßte man die Polizei einschalten - eine formelle Anklage, eine Anhörung vor einem Magistratsbeamten, viele Formalitäten.« Marie starrte den Bankier an. »Und wenn Sie das wollen, werde ich Sie jetzt zur Polizei begleiten und dort für Sie übersetzen, aber wir waren der Ansicht, daß wir erst hören sollten, was Ihre Wünsche diesbezüglich sind. Sie haben soviel durchgemacht- und Sie sind ganz allein hier in Tuen Mun, aus Gründen, die nur Sie kennen.«
»Nein, Mr. Jitai«, sagte Marie leise. »Ich möchte lieber keine Anklage erheben. Ich fühle mich jetzt wieder wohl, und ich bin nicht besonders rachsüchtig.«
»Wir schon, Madame.«
»Was meinen Sie?«
»Die jungen Leute, die Sie angegriffen haben, werden unsere Schande in ihr Hochzeitsbett tragen und dort weniger leisten, als von ihnen erwartet wird.«
»Ich verstehe. Sie sind jung -«
»Wie wir erfahren haben, ist das heute morgen nicht ihr erstes Vergehen dieser Art. Das ist schmutziges Pack, und sie sollen eine Lektion bekommen.«
»Heute morgen? O Gott, wie spät ist es? Wie lange bin ich schon hier?«
Der Mann sah auf die Uhr. »Fast eine Stunde.«
»Ich muß in die Wohnung zurück - und zwar sofort. Das ist wichtig.«
»Die Frauen wollen Ihre Kleidung flicken. Es sind ausgezeichnete Näherinnen, und es wird nicht lange dauern. Aber sie waren der Meinung, Sie sollten nicht ohne Kleider aufwachen.«
»Ich habe keine Zeit. Ich muß jetzt zurück. O Gott! Ich weiß nicht, wo es ist, und ich habe keine Adresse!«
»Wir kennen das Gebäude, Madame. Eine große, attraktive weiße Frau allein in Tuen Mun fällt auf. So etwas spricht sich herum. Wir werden Sie sofort hinbringen.« Der Bankangestellte drehte sich um und sagte, zu einer halb geöffneten Tür hinter sich gewandt, etwas auf chinesisch, während Marie sich aufsetzte. Plötzlich bemerkte sie die Menschenansammlung, die hereinspähte. Sie stand auf - die Füße taten ihr immer noch weh- und stand einen Augenblick schwankend da, bis sie schließlich das Gleichgewicht gefunden hatte. Sie drückte ihre zerrissene Bluse zusammen.
Die Tür ging auf, und zwei alte Frauen traten ein, jede hielt ein Kleidungsstück aus bunter Seide in der Hand. Das erste war ein kimonoähnliches Kleidungsstück, das man ihr vorsichtig über den Kopf zog, so daß es ihre zerfetzte Bluse und den größten Teil der schmutzigen grünen Hose bedeckte. Das zweite war eine lange, breite Schärpe, die man ihr um die Hüfte wand und vorsichtig festband. Trotz ihres benommenen Zustandes konnte Marie erkennen, daß es sich um ausgesucht schönes Material handelte.
»Kommen Sie, Madame«, sagte der Bankangestellte und berührte sie am Ellbogen. »Ich werde Sie begleiten.« Sie traten in das Stoffgeschäft hinaus, und Marie nickte und versuchte, den zahlreichen chinesischen Männern und Frauen zuzulächeln, die sich vor ihr verbeugten, die dunklen Augen von Trauer erfüllt.
Sie war in das kleine Appartement zurückgekehrt, hatte die schöne Schärpe und den Kimono abgelegt und sich auf das Bett gelegt und versucht, dieser Sinnlosigkeit Sinn abzugewinnen. Sie vergrub das Gesicht im Kissen und bemühte sich, die schrecklichen Bilder des Morgens aus ihrem Kopf zu verdrängen, aber all das Häßliche ließ sich nicht einfach wegschieben. Statt dessen quoll jetzt der Schweiß aus ihr heraus, und je fester sie die Augen zusammenpreßte, desto gewalttätiger wurden die Bilder und mischten sich in die schrecklichen Erinnerungen an Zürich, den Guisan-Kai, wo ihr ein Mann namens Jason Borowski das Leben gerettet hatte.
Sie unterdrückte einen Schrei und sprang vom Bett auf, stand zitternd da. Dann ging sie in die winzige Küche und drehte den Wasserhahn auf, griff nach einem Glas. Der Wasserstrahl war so schwach und dünn, und sie sah wie benommen zu, wie das Glas sich füllte. Ihre Gedanken waren anderswo.
Es gibt Zeiten, wo die Leute ihren Kopf auf >Warten< stellen sollten - ich tue das weiß Gott öfter, als das ein einigermaßen angesehener Psychiater tun sollte ... Die Dinge überwältigen uns dann ... und wir müssen uns orientieren. Morris Panov, Freund von Jason Borowski.
Sie drehte den Hahn ab, trank das lauwarme Wasser und ging in den beengenden Raum zurück. Sie stand im Türrahmen und sah sich um und wußte plötzlich, was ihr an ihrer Zuflucht so grotesk erschien. Es war eine Zelle, ebenso, als wenn sie sich irgendwo in einem fernen Gefängnis befunden hätte. Und schlimmer noch, es war eine sehr reale Form von Einzelhaft. Sie war wieder mit ihren Gedanken, mit ihren Ängsten isoliert. Sie ging ans Fenster, wie ein Gefangener das vielleicht tun würde, und spähte auf die Welt draußen hinaus. Was sie sah, war eine Verlängerung ihrer Zelle; in dieser wimmelnden Straße unten war sie ebenfalls nicht frei. Das war nicht eine Welt, die sie kannte, und diese Welt hieß sie nicht willkommen. Ganz abgesehen von dem obszönen Wahnsinn heute morgen am Strand war sie ein Eindringling, der weder verstehen noch verstanden werden konnte. Sie war allein, und die Einsamkeit trieb sie in den Wahnsinn.
Benommen starrte Marie auf die Straße hinunter. Die Straße? Dort war sie! Catherine! Sie stand mit einem Mann neben einem grauen Wagen, und beide hatten den Kopf herumgedreht und beobachteten drei weitere Männer, die zehn Meter hinter ihnen an einem zweiten Wagen standen. Alle fünf waren schreiend auffällig, weil sie anders als die anderen Leute auf der Straße waren. Sie waren Okzidentale in einem Meer von Chinesen, Fremde an einem fremden Ort. Sie waren sichtlich erregt, und irgend etwas beunruhigte sie, denn sie blickten die ganze Zeit um sich, besonders über die Straße. Auf das Appartementhaus. Köpfe? Haar! Drei der Männer hatten kurzgeschorenes Haar -militärischer Haarschnitt ... Ledernacken. Amerikanische Ledernacken!
Catherines Begleiter, dem Haarschnitt nach ein Zivilist, redete schnell auf sie ein und stach dabei die ganze Zeit mit dem Zeigefinger in die Luft ... Marie kannte ihn! Das war der Mann aus dem Außenministerium, der, der sie in Maine aufgesucht hatte! Der Staatssekretär mit den toten Augen, der sich die ganze
Zeit die Schläfen rieb und kaum protestierte, als David ihm sagte, daß er ihm nicht vertraute. Es war McAllister! Das war der Mann, von dem Catherine gesagt hatte, daß sie ihn treffen solle.
Plötzlich fügten sich einige abstrakte, schreckliche Stücke des grausigen Puzzlespiels in das Bild, während Marie die Szene unter sich betrachtete. Die zwei Ledernacken am zweiten Wagen überquerten die Straße und trennten sich. Der, der neben Catherine stand, redete kurz mit McAllister und wies dann nach rechts, zog ein kleines Funkgerät aus der Tasche. Catherine sagte etwas zu dem Staatssekretär und wies auf das Appartementhaus. Marie wirbelte vom Fenster zurück.
Ich komme allein. Niemand wird bei mir sein.
Also gut.
Es war eine Falle! Man hatte Verbindung zu Catherine Staples aufgenommen. Sie war nicht ihre Freundin, sie war der Feind! Marie wußte, daß sie fliehen mußte. Um Himmels willen, verschwinde hier! Sie griff nach der weißen Handtasche mit dem Geld und starrte den Bruchteil einer Sekunde lang die seidenen Gewänder aus dem Laden an. Sie packte sie und rannte aus der Wohnung.
Es gab zwei Korridore, einen, der vorne an dem Gebäude entlang verlief mit einer Treppe zur Rechten, die zur Straße hinunterführte, und einen zweiten Korridor, der den ersten in zwei Teile teilte und zu einer Tür im hinteren Teil des Gebäudes führte. Dort gab es eine zweite Treppe, über die man Abfälle zu den Tonnen in der hinteren Gasse trug. Catherine hatte ihr das gezeigt, als sie angekommen waren, und hatte dabei erklärt, es gebe eine Verordnung, die das Ablagern von Unrat auf der Straße verbot, weil es sich dabei um die Hauptstraße von Tuen Mun handle. Marie rannte jetzt den Korridor hinunter zu der hinteren Tür und öffnete sie. Sie stöhnte auf, als sie sich plötzlich einer gebeugten Gestalt eines alten Mannes mit einem
Strohbesen in der Hand gegenübersah. Er sah sie einen Augenblick lang aus zusammengekniffenen Augen an, schüttelte dann den Kopf und musterte sie neugierig. Sie trat auf den dunklen Treppensims hinaus, während der Chinese nach innen ging; sie hielt die Tür einen Spalt offen und wartete darauf, daß Catherine auf der Vordertreppe auftauchte. Wenn Catherine, sobald sie festgestellt hatte, daß die Wohnung leer war, schnell zur Treppe zurückeilte, um auf die Straße hinunterzurennen, zu McAllister und den Ledernacken, würde Marie in die Wohnung zurückschlüpfen und die Kleider holen, die Catherine für sie gekauft hatte. In ihrer Panik hatte sie nur flüchtig an sie gedacht und sich statt dessen die zwei seidenen Kleidungsstücke gegriffen, um nur ja keinen wertvollen Augenblick damit zu vergeuden, im Kleiderschrank, wo auch andere Kleidungsstücke hingen, nach ihnen zu suchen. Jetzt dachte sie daran. Sie konnte nicht in der zerfetzten Bluse und mit schmutzigen Hosen durch die Straßen gehen, geschweige denn laufen. Doch etwas stimmte nicht. Es war der alte Mann! Er stand einfach da und starrte den offenen Spalt in der Tür an.
»Gehen Sie weg\« flüsterte Marie.
Schritte. Das Klicken von Schuhen mit hohen Absätzen, die schnell die Stahltreppe im vorderen Teil des Gebäudes heraufkamen. Wenn es Catherine war, würde sie auf ihrem Weg zur Wohnung vorne am Ende des Korridors vorbeikommen.
»Deng yi deng!« kreischte der alte Chinese, der immer noch reglos mit seinem Besen dastand und sie anstarrte. Marie zog die Tür weiter zu und hatte jetzt höchstens noch einen zentimeterbreiten Spalt, durch den sie den Korridor beobachten konnte.
Jetzt tauchte Catherine auf, warf einen kurzen, neugierigen Blick auf den alten Mann, nachdem sie offenbar seine scharfe schrille, zornige Stimme gehört hatte. Ohne innezuhalten, setzte sie ihren Weg den Korridor hinunter fort, nur darauf bedacht, die Wohnung zu erreichen. Marie wartete; das Pochen in ihrer
Brust schien durch das ganze Haus zu hallen. Und dann kamen die Worte hysterisch.
»Nein! Marie! Marie, wo bist du?« Jetzt hämmerten die Absätze, rasten über den Beton. Catherine bog um die Ecke und rannte auf den alten Chinesen und die Tür zu - auf sie zu. »Marie, es ist nicht, was du glaubst! Um Gottes willen, halt!«
Marie fuhr herum und hetzte die dunklen Treppen hinunter. Plötzlich stach ein gelber Strahl die Treppe hinauf und war ebenso plötzlich wieder verschwunden. Die Tür im Erdgeschoß, zwei Stockwerke tiefer, war aufgegangen; eine Gestalt in einem dunklen Anzug war eingetreten, ein Ledernacken, der Position bezog. Der Mann rannte die Treppen hinauf; Marie kauerte im zweiten Geschoß am Treppenabsatz. Der Ledernacken erreichte die oberste Stufe, wollte gerade abbiegen, hielt sich am Geländer fest: Marie warf sich nach vorne, und ihre Hand - die Hand, in der sie die Seidengewänder hielt - krachte in das Gesicht des verblüfften Soldaten, nahm ihm das Gleichgewicht; jetzt schmetterte sie dem Soldaten die Schulter gegen die Brust, so daß er rückwärts die Treppe hinuntertaumelte. Marie hetzte an ihm vorbei, als sie die Schreie von oben hörte. »Marie! Marie! Ich weiß, daß du das bist! Um Gottes willen, hör mir zu!«
Sie taumelte in die Gasse hinaus, und jetzt fing ein anderer Alptraum an, ein Alptraum mitten im grellen Sonnenlicht von Tuen Mun. Mit blutenden Füßen rannte sie, so schnell sie konnte, durch die Verbindungsstraße hinter den Appartementgebäuden, warf sich dabei das kimonoähnliche Kleidungsstück über den Kopf und blieb dann vor den Mülltonnen stehen, wo sie die grüne Hose herunterzog und in die nächste Tonne stopfte. Dann wand sie sich die breite Schärpe um den Kopf, bedeckte ihr Haar und rannte in die nächste Seitengasse hinaus, die zur Hauptstraße führte. Jetzt hatte sie sie erreicht. Sekunden später hatte die Menschenmasse, die wie ein Stück von Hongkong war, sie aufgenommen. Sie überquerte die Straße.
»Dort!« schrie eine Männerstimme. »Die Große!«
Die Jagd begann, aber dann war sie plötzlich, ohne jede Warnung, ganz anders. Ein Mann rannte hinter ihr her über das Pflaster, sah sich plötzlich einem mit Rädern versehenen Verkaufsstand gegenüber, der ihm den Weg versperrte; versuchte, ihn beiseitezuschieben, geriet dabei aber mit den Händen in einen Topf mit kochendem Fett. Er schrie, kippte den Karren um und sah sich jetzt dem kreischenden Besitzer gegenüber, der offenbar Geld verlangte, während er und die anderen den Ledernacken umringten und ihn auf den Boden zurückpreßten.
»Da ist das Miststück!«
Marie hörte die Worte; sie sah sich einer ganzen Phalanx von Chinesinnen gegenüber. Sie wirbelte nach rechts, rannte in die nächste Gasse, die von der Straße wegführte, um plötzlich zu entdecken, daß es sich um eine Sackgasse handelte, die an der Mauer eines chinesischen Tempels endete. Und da geschah es wieder! Fünf junge Männer - Teenager in paramilitärischer Kleidung - tauchten plötzlich aus einer Türnische auf und winkten sie mit Handbewegungen weiter.
»Yankee-Verbrecher! Yankee-Dieb!« Die jungen Männer hakten die Arme ein und hielten den Mann mit dem kurzgestutzten Haar auf, ohne dabei gewalttätig zu werden, preßten ihn gegen eine Mauer.
»Aus dem Weg, ihr Arschlöcher!« schrie der Ledernacken. »Geht mir aus dem Weg, oder es ergeht euch schlecht, ihr Flegel!«
»Wenn Sie die Arme heben ... oder eine Waffe -« rief eine Stimme im Hintergrund.
»Von einer Waffe habe ich nichts gesagt!« rief der Soldat vom Victoria Peak.
»Aber wenn Sie es tun«, fuhr die Stimme fort, »werden die die Arme lösen und fünf Di-di Jing Cha - von denen viele von unseren amerikanischen Freunden ausgebildet sind - werden ganz sicher einen Mann festhalten können.«
»Verdammt noch mal, Sir! Ich versuch doch nur, meine Arbeit zu tun! Sie geht das doch nichts an!«
»Ich fürchte doch, Sir. Aus Gründen, die Sie nicht kennen!«
»Scheiße!« Der Ledernacken lehnte sich atemlos gegen die Wand und musterte die lächelnden jungen Gesichter vor sich
»Lfli!« sagte eine Frau zu Marie und wies auf eine breite, seltsam geformte Tür ohne sichtbaren Griff in einer sonst scheinbar undurchdringlichen Mauer. »Xiao xin. Voh-sikt.«
»Vorsicht? Ich verstehe.«
Eine mit einer Schürze bekleidete Gestalt öffnete die Tür, und Marie rannte hinein, spürte im gleichen Augenblick einen Schwall eiskalter Luft. Sie stand in einem großen, begehbaren Kühlraum, in dem ganze Rinder- und Schweineseiten im Schein von drahtnetzummantelten Glühbirnen an Haken von der Decke hingen. Der Mann mit der Schürze wartete ab, das Ohr an der Tür. Marie schlang sich die breite Seidenschärpe um den Hals und preßte die Arme an sich, um sich vor der plötzlichen bitteren Kälte zu schützen, die der Kontrast zu der drückenden Hitze draußen noch schlimmer machte. Schließlich winkte ihr der Metzger zu, ihm zu folgen; das tat sie, schlängelte sich an den Fleischteilen vorbei, bis sie den Eingang des mächtigen Kühlgewölbes erreichte. Der Chinese zog einen Hebel aus Metall herunter, stieß die schwere Tür auf und bedeutete dabei der fröstelnden Marie mit einer Kopfbewegung, sie solle durchgehen. Jetzt fand sie sich in einem langen, schmalen, verlassenen Fleischerladen; Bambusjalousien an den Fenstern filterten die grelle Mittagssonne. Ein weißhaariger Mann stand hinter der Theke und spähte durch die Lamellen der Jalousie auf die Straße hinaus. Er winkte Marie zu, neben ihn zu treten.
Wieder tat sie, wie man ihr geheißen hatte, dabei fiel ihr ein seltsam geformter Blumenkranz hinter dem Glas der Eingangstür auf, die anscheinend versperrt war.
Der ältere Mann bedeutete Marie, daß sie zum Fenster hinaussehen sollte. Sie schob zwei Bambuslamellen auseinander und hielt den Atem an, verblüfft über die Szene, die sich ihr draußen darbot. Die Suchaktion war auf ihrem Höhepunkt angelangt. Der Ledernacken mit den verbrühten Händen fuchtelte damit immer noch in der Luft herum, während er auf der anderen Straßenseite von Laden zu Laden ging. Sie sah Catherine Staples und McAllister im hitzigen Gespräch mit einer Anzahl Chinesen, die offenbar nicht damit einverstanden waren, daß die Ausländer das hektische und doch friedliche Leben in Tuen Mun störten.
McAllister hatte allem Anschein nach in seiner Erregung irgend etwas Anstößiges gerufen und wurde jetzt von einem Mann beschimpft, der doppelt so alt war wie er, ein uralter Chinese in einem langen Umhang, den jetzt jüngere, kühlere Köpfe zurückhalten mußten. Der Staatssekretär war mit erhobenen Händen auf dem Rückzug und beteuerte immer wieder seine Unschuld, während Catherine sich rufend und schreiend Mühe gab, sie beide aus dem zornigen Mob herauszulösen.
Plötzlich kam der Ledernacken mit den verwundeten Händen aus einer Tür auf der anderen Straßenseite herausgeflogen; Glassplitter spritzten nach allen Seiten davon, während er über das Pflaster rollte und vor Schmerz aufschrie, als seine Hände den Beton berührten. Ein junger Chinese in der weißen Tunika, den knielangen Hosen und der Schärpe eines Lehrers der Kriegskunst verfolgte ihn. Jetzt sprang der junge Amerikaner auf, und als sein asiatischer Widersacher ihn angriff, hieb er dem jungen Mann einen kurzen linken Haken in die Nieren und setzte mit einem wohlgezielten rechten Schwinger nach, der den Asiaten ins Gesicht traf, trieb seinen Gegner in den Laden zurück, dabei die ganze Zeit vor Schmerz schreiend, weil er mit den verbrühten Händen zugeschlagen hatte.
Ein letzter Ledernacken vom Victoria Peak kam jetzt die Straße heruntergerannt- auf einem Bein humpelnd, die Schultern nach vorne gezogen, als hätte er sie sich bei einem Sturz verletzt; einem Sturz über eine Treppe, dachte Marie, während sie erstaunt nach draußen blickte. Jetzt kam er seinem schreienden Kameraden zu Hilfe und erwies sich als sehr kampfstark. Die amateurhaften Nahkampfversuche der Studenten des bewußtlosen Kriegskunstlehrers sahen sich jetzt einem Wirbel von Beinen und Handkantenschlägen eines Karateexperten gegenüber.
Und dann schwoll plötzlich auf der Straße ohne jede Warnung asiatische Musik an; der Klang der Zimbeln und der primitiven Holzinstrumente hallte von den Wänden und wurde mit jedem Schritt der zusammengewürfelten Musikantenschar lauter, die jetzt die Straße heruntermarschierte, hinter ihnen Menschen, die blumenumkränzte Spruchbänder trugen. Der Kampf hörte auf, und Schweigen legte sich über die Hauptstraße von Tuen Mun. Die Amerikaner waren verwirrt; Catherine Staples schluckte ihre Enttäuschung hinunter und Edward McAllister rang verzweifelt die Hände.
Marie sah zu, von der Veränderung, die sich draußen vollzog, buchstäblich hypnotisiert. Alles kam zum Stillstand, als hätte irgendein höheres Wesen Einhalt geboten. Sie trat etwas zur Seite, um besser durch die Bambusjalousie sehen zu können, und musterte die sich nähernde Gruppe. Sie wurde von dem Bankangestellten Jitai angeführt und sie kam auf den Fleischerladen zu!
Jetzt sah Marie, wie Catherine Staples und McAllister an der seltsamen Versammlung vor dem Laden vorbeirannten. Dann nahmen auf der anderen Straßenseite die beiden Ledernacken die Verfolgung wieder auf. Alle verschwanden im blendenden Sonnenlicht.
Ein Klopfen ertönte an der vorderen Tür des Fleischerladens. Der alte weißhaarige Mann entfernte den Kranz und öffnete.
Jitai trat ein und verbeugte sich vor Marie.
»Hat Ihnen die Parade gefallen, Madame?« fragte er.
»Ich weiß nicht, was das war.«
»Ein Begräbnismarsch für die Toten. In diesem Fall ohne Zweifel für die toten Tiere in Mr. Wus Eiskammer.«
»Sie ...? Das war alles geplant?«
»In Bereitschaft, könnte man sagen«, erklärte Jitai. »Unsere Vettern aus dem Norden schaffen es oft, über die Grenze zu gelangen - nicht die Diebe, sondern Familienangehörige, die zu den ihren wollen -, und die Soldaten wollen sie nur einfangen und sie zurückschicken. Wir müssen darauf vorbereitet sein, die Unseren zu schützen.«
»Aber ich ...? Sie wußten -«
»Wir haben beobachtet; wir haben gewartet. Sie hatten sich versteckt, waren vor jemandem auf der Flucht. Soviel wußten wir. Das haben Sie uns klargemacht, als Sie sagten, Sie wollten nicht zum Magistrat gehen, um Anklage zu erheben. Man hat Sie in die Gasse draußen gewiesen.«
»Die Frauen mit den Einkaufstaschen -«
»Ja. Sie haben die Straße mit Ihnen überquert. Wir müssen Ihnen helfen.«
Marie blickte auf die besorgten Gesichter der Menschenschar vor der Bambusjalousie hinaus und sah dann den Bankier an. »Woher wissen Sie denn, daß ich keine Kriminelle bin?«
»Das ist unwichtig. Wichtig ist die empörende Untat von unseren Leuten an Ihnen. Außerdem, Madame, Sie sehen weder aus noch sprechen Sie wie jemand, der vor der Gerechtigkeit flieht.«
»Das tue ich auch nicht. Und ich brauche wirklich Hilfe. Ich muß nach Hongkong zurück, in ein Hotel, wo man mich nicht finden kann, wo es ein Telefon gibt, das ich benutzen kann. Ich muß Leute erreichen, die mir helfen können ... uns helfen können, ich weiß nur nicht, wen.« Marie hielt inne, und ihre Augen bohrten sich in die Jitais. »Der Mann namens David ist mein Mann.«
»Das kann ich verstehen«, sagte der Bankier. »Aber zuerst müssen Sie zu einem Arzt.«
»Was?«
»Ihre Füße bluten.«
Marie sah an sich herab. Blut war durch den Verband gequollen und hatte den Segeltuchstoff ihrer Schuhe rot gefärbt. Bei dem Anblick wurde ihr übel. »Wahrscheinlich haben Sie recht«, pflichtete sie ihm bei.
»Und dann Kleider, Transportmittel - ich werde mich selbst um ein Hotel für Sie kümmern, unter jedem Namen, den Sie wollen. Und dann ist da noch die Frage von Geld. Haben Sie welches?«
»Ich weiß nicht«, sagte Marie und legte die seidene Schärpe auf die Theke und klappte ihre Handtasche auf. »Das heißt, ich habe nicht nachgesehen. Eine Freundin - jemand, den ich für eine Freundin hielt - hat mir Geld dagelassen.« Sie zog die Scheine heraus, die Catherine in die Handtasche gelegt hatte.
»Wir sind hier in Tuen Mun nicht wohlhabend, aber vielleicht können wir helfen. Es war davon die Rede, für Sie zu sammeln.«
»Ich bin keine arme Frau, Mr. Jitai«, unterbrach Marie. »Falls das nötig ist, und offen gestanden, wenn ich dann noch am Leben bin, zahle ich jeden Cent zurück, mit Zinsen weit über dem Satz.«
»Wie Sie wünschen. Ich bin Bankier. Wie kommt es, daß eine so reizende Dame wie Sie etwas von Zinssätzen weiß?« Jitai lächelte.
»Sie sind Bankier und ich bin Volkswirtin. Was wissen Bankiers schon von schwankenden Wechselkursen und dem Einfluß überhöhter Zinssätze.« Marie lächelte zum erstenmal seit langer Zeit wieder.
Sie hatte mehr als eine Stunde Zeit zum Nachdenken, als das Taxi sie über Land nach Kowloon brachte. Sie hatte noch weitere fünfundvierzig Minuten der Stille vor sich, bis sie die weniger ruhigen Vorstädte erreichten, insbesondere den überfüllten Distrikt, der sich Mongkok nannte. Die Leute von Tuen Mun waren nicht nur großzügig und hilfsbereit, sondern auch erfinderisch gewesen. Der Bankangestellte Jitai hatte offenbar bestätigt, daß das Opfer der zwei Halbstarken tatsächlich eine weiße Frau war, die sich auf der Flucht befand und um ihr Leben rannte, und deshalb würde es vielleicht zweckmäßig sein, ihr Aussehen zu verändern, solange sie dabei war, Leute zu suchen, die ihr vielleicht helfen würden. Man brachte westliche Kleider aus einigen Läden, Kleider, die Marie seltsam vorkamen; sie schienen ihr fad und zweckmäßig, sauber, aber langweilig. Nicht billig, aber die Art von Kleidern, wie sie eine Frau auswählen würde, die entweder keinen Sinn für Eleganz oder das Gefühl hatte, darüberzustehen. Und dann, nachdem sie eine Stunde im Hinterzimmer eines Kosmetiksalons verbracht hatte, begriff sie, weshalb man gerade solche Kleidung für sie gewählt hatte. Die Frauen machten sich an ihr zu schaffen; ihr Haar wurde gewaschen und trockengefönt, und als der ganze Vorgang vorbei war, hatte sie in den Spiegel gesehen und dabei kaum zu atmen gewagt. Ihr Gesicht - blaß, müde und abgehärmt - war von einem Haarkranz umrahmt, der nicht länger von auffälligem Kastanienbraun war, sondern mausgrau, mit ein paar weißen Strähnen. Sie war um mehr als ein Jahrzehnt gealtert; das war die Weiterführung dessen, was sie nach ihrer Flucht aus dem Krankenhaus versucht hatte, aber viel, viel perfekter. Sie entsprach der chinesischen
Vorstellung von der oberen Mittelschicht, seriös, keine leichtsinnige Touristin - vielleicht eine Witwe, die selbstbewußt Anweisungen erteilte, ihr Geld zählte und nirgends ohne ihren kleinen, ledergebundenen Reiseführer hinging, in dem sie beständig jede Sehenswürdigkeit auf ihrem gut organisierten Reiseplan abhakte. Die Leute von Tuen Mun kannten solche Touristen gut, und das Abbild, das sie in ihr von einer solchen Touristin geschaffen hatten, war perfekt.
Da waren aber auch noch andere Gedanken, die sie auf der Fahrt nach Kowloon beschäftigten, verzweifelte Gedanken, die sie unter Kontrolle und im Gleichgewicht zu halten versuchte, indem sie die Panik von sich schob, die sie so leicht überwältigen und sie dazu veranlassen konnte, das Falsche zu tun, einen falschen Schritt zu tun, der David Schaden zufügen könnte - David töten. O Gott, wo bist du? Wie kann ich dich finden. Wie?
Sie suchte ihr Gedächtnis nach Leuten ab, die ihr helfen konnten, lehnte aber jeden Namen und jedes Gesicht ab, die aus ihrer Erinnerung auftauchten, weil jeder auf die eine oder andere Weise Teil jener schrecklichen Strategie gewesen war, die sich auf so unheilverkündende Weise Abschußliste nannte -eine Strategie, bei der der Tod eines Individuums die einzig akzeptable Lösung war. Ausgenommen natürlich Morris Panov, aber Mo war in den Augen der Regierung ein Paria; er hatte die amtlichen Killer mit dem richtigen Namen bezeichnet: inkompetente Mörder. Er hatte keine Chance.
Abschußliste ... Ein Gesicht tauchte vor ihr auf, ein Gesicht, dem Tränen über die Wange rannen, mit zitternder Stimme, die stumm um Barmherzigkeit bat, ein Mann, der einmal enger Freund eines jungen Beamten im Auswärtigen Dienst und seiner Frau und seiner Kinder gewesen war, damals in einem fernen Außenposten, der Phnom Penh hieß. Conklin! Sein Name war Alexander Conklin! Während Davids langer Genesungszeit hatte er wiederholt versucht, ihren Mann zu besuchen, aber David wollte das nicht zulassen und hatte gesagt, er werde den CIA-Mann umbringen, wenn er den Fuß auf seine Schwelle setze. Der verkrüppelte Conklin hatte irrigerweise und dumm Anklagen gegen David vorgebracht, hatte nicht auf die flehentlichen Bitten eines Mannes gehört, der das Gedächtnis verloren hatte, und statt dessen angenommen, er sei ein Verräter, sei umgedreht worden, und hatte schließlich sogar selbst versucht, David außerhalb von Paris zu töten. Und am Ende hatte er in der 71. Straße von New York in einem abgeschotteten Haus, das Treadstone 71 genannt wurde, einen letzten Versuch unternommen, der beinahe Erfolg gehabt hätte. Als dann die Wahrheit über David bekannt wurde, war Conklin von Schuldgefühlen aufgefressen worden; er war zerbrochen an dem, was er getan hatte. Ihr hatte er tatsächlich leid getan; seine Besorgnis war so echt, seine Schuld für ihn so vernichtend. Sie hatte mit Alex beim Kaffee auf der Veranda geredet, aber David war nie bereit gewesen, ihn zu empfangen. Von all den Leuten, an die sie dachte, war er der einzige, der einen Sinn ergab -überhaupt einen Sinn!
Das Hotel hieß The Empress und lag an der Chatham Road in Kowloon. Es war ein kleines Hotel im überfüllten Tsim Sha Tsui und wurde von einem Gemisch von Kulturen besucht, weder reich noch arm, im großen und ganzen Handelsvertreter aus Ost und West, die in Kowloon etwas zu erledigen hatten, aber nicht über die Spesenkonten der höheren Ränge verfügten. Mr. Jitai hatte das Seine getan; ein Einzelzimmer war dort für eine Mrs. Austin, Penelope Austin, reserviert worden. >Penelope< war Jitais Idee gewesen, er hatte viele englische Romane gelesen, und >Penelope< schien ihm einfach passend. Gut so, wie Jason Borowski gesagt hätte, dachte Marie.
Jetzt saß sie auf dem Bettrand, griff nach dem Telefon, wußte noch nicht, was sie sagen sollte, wußte aber, daß sie es sagen mußte. »Ich brauche eine Nummer in Washington, D. C., in den
Vereinigten Staaten«, sagte sie zu der Vermittlung. »Es ist sehr wichtig.«
»Übersee-Auskünfte kosten Gebühren -«
»Setzen Sie es auf die Zimmerrechnung«, unterbrach Marie. »Es ist dringend. Ich bleibe in der Leitung.«
»Ja?« sagte die schläfrige Stimme. »Hella?«
»Alex, hier spricht Marie Webb.«
»Verdammt, wo sind Sie? Wo sind Sie beide? Er hat Sie gefunden?«
»Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen. Ich habe ihn nicht gefunden und er hat mich nicht gefunden. Sie wissen über all das Bescheid?«
»Wer, zum Teufel, glauben Sie wohl, hat mir letzte Woche beinahe das Genick gebrochen, als er nach Washington kam. David! Wo sind Sie?«
»In Hongkong - in Kowloon. Im Empress-Hotel, unter dem Namen Austin. David hat Sie erreicht?«
»Und Mo! Er und ich haben jeden Trick ausprobiert, den wir kannten, um herauszufinden, was, zum Teufel, hier los ist, aber man blockiert uns! Nein, das nehme ich zurück - blockieren ist das falsche Wort. Sonst weiß auch keiner, was vorgeht! Und wenn sie es wüßten, wüßte ich das auch! Du großer Gott, Marie, ich hab seit dem letzten Donnerstag keinen Schluck mehr getrunken!«
»Ich wußte gar nicht, daß Ihnen das etwas ausmacht.«
»Und ob es mir etwas ausmacht! Was ist los?«
Marie sagte es ihm und versäumte auch nicht, den unverkennbaren Stempel »Bürokratie« zu erwähnen, der denen anhaftete, die sie entführt hatten, berichtete von ihrer Flucht und der Hilfe, die Catherine Staples ihr geleistet hatte, und die sich in eine Falle verwandelt hatte, aufgestellt von einem Mann namens McAllister, den sie mit Catherine Staples auf der Straße gesehen hatte.
»McAllister? Sie haben ihn gesehen?«
»Er ist hier, Alex. Er will mich zurückholen. Mit mir kontrolliert er David, und er wird ihn umbringen! Das haben sie schon einmal versucht!«
Am anderen Ende der Leitung herrschte Stille, eine Stille, die von Seelenqual erfüllt war. »Wir haben das schon einmal versucht«, sagte Conklin leise. »Aber das war damals, nicht jetzt.«
»Was kann ich tun?«
»Bleiben Sie, wo Sie sind«, befahl Alex. »Ich nehme die nächste Maschine nach Hongkong. Verlassen Sie Ihr Zimmer nicht. Führen Sie keine weiteren Gespräche. Die suchen Sie, das müssen sie.«
»Aber David ist dort draußen, Alex! Die haben ihn meinetwegen gezwungen, irgend etwas zu tun, und ich weiß nicht, was. Ich habe schreckliche Angst!«
»Delta war der beste Mann, den Medusa je hatte. Es hat nie einen besseren als ihn gegeben. Das weiß ich. Ich habe es selbst gesehen.«
»Das ist ein Aspekt, und ich habe mir beigebracht, damit zu leben. Aber nicht der andere, Alex! Sein Verstand, sein Bewußtsein! Was wird daraus werden?«
Wieder machte Conklin eine Pause, und als er dann sprach, klang seine Stimme nachdenklich. »Ich bringe einen Freund mit, einen, der für uns alle ein Freund ist. Mo wird nicht nein sagen. Bleiben Sie, wo Sie sind, Marie. Die Zeit für die Abrechnung ist gekommen. Und bei Gott, es wird eine Abrechnung geben!«