Kapitel 36

Das Telefon schrillte; die nackte Frau im Bett fuhr hoch. Der Mann neben ihr war sofort hellwach; jede Störung alarmierte ihn, besonders eine Störung mitten in der Nacht, oder genauer gesagt, am frühen Morgen. Der Ausdruck, den sein weiches, rundes Asiatengesicht annahm, ließ freilich erkennen, daß solche Störungen keineswegs selten waren, ihm nur auf die Nerven gingen. Er griff nach dem Telefon auf dem Nachttisch.

»Wez?« sagte er leise.

»Macao lai dianhuas«, erwiderte der Soldat in der Vermittlung Guangdong.

»Stellen Sie eine Zerhackerverbindung her und schalten Sie alle Tonbandgeräte ab.«

»Ist bereits geschehen, Oberst Soo.«

»Das will ich selber feststellen«, sagte Soo Jiang, setzte sich auf und griff nach einem kleinen, rechteckigen Gegenstand.

»Das ist nicht nötig, Herr.«

»Das hoffe ich um Ihretwillen.« Soo legte das Suchgerät über die Sprechmuschel und drückte einen Knopf. Wäre die Leitung angezapft gewesen, hätte er jetzt ein durchdringendes Pfeifen gehört. Aber kein Laut ertönte. »Sprechen Sie, Macao«, sagte der Oberst.

»Bon souva, mon ami«, sagte die Stimme von Macao. Oberst Soo war sofort klar, wer da sprach. »Comment ga va?«

»Vous?« Erschrocken schwang Jiang die kurzen, dicken Beine unter dem Laken hervor und setzte sie auf den Boden. »Attendez!« Der Oberst wandte sich der Frau zu. »Du. Hinaus. Verschwinde«, befahl er auf kantonesisch. »Nimm deine Kleider und zieh dich draußen an. Laß die Tür offen, damit ich sehen kann, wie du gehst.«

»Sie schulden mir Geld!« flüsterte die Frau aufgebracht. »Geld für zweimal, und für das, was ich unten getan habe!«

»Ich sorge dafür, daß dein Mann nicht entlassen wird, das reicht. Und jetzt verschwinde! Noch dreißig Sekunden, oder dein Mann fliegt.«

»Die nennen Sie das Schwein«, sagte die Frau, schnappte sich ihre Kleider und rannte zur Schlafzimmertür, wo sie sich noch einmal umdrehte und Jiang anfunkelte. »Schwein!« »Hinaus.«

Sekunden später war Soo wieder am Telefon und fuhr in französischer Sprache fort. »Was ist geschehen? Die Berichte aus Beijing sind unglaublich! Und was man von dem Flugplatz in Shenzen hört, erst recht. Er hat sie gefangengenommen!«

»Er ist tot«, sagte die Stimme aus Macao.

»Tot?«

»Von seinen eigenen Leuten erschossen, mit wenigstens fünfzig Kugeln im Leib.«

»Und Sie!«

»Man hat mir meine Geschichte geglaubt. Ich war eine unschuldige Geisel, die er auf der Straße aufgegriffen hat. Sie haben mich gut behandelt, mich sogar vor der Presse geschützt. Natürlich versuchen die jetzt alles herunterzuspielen, aber sie werden keinen Erfolg haben. Die Leute von den Zeitungen und vom Fernsehen waren überall, Sie werden also in den Morgenzeitungen davon lesen.«

»Man dieu, und wo ist es passiert?«

»Am Victoria Peak. Das Anwesen gehört zum Konsulat, aber keiner weiß es. Deshalb muß ich den Chef erreichen. Ich habe etliches erfahren, was er wissen muß.«

»Sagen Sie das mir.«

Der »Meuchelmörder« lachte spöttisch »Ich verkaufe solche Informationen nur. Ich gebe sie nicht gratis ab - schon gar nicht an Schweine.«

»Das werde ich erledigen«, beharrte Soo.

»O ja, für meinen Geschmack nur zu gut.«

»Wen meinen Sie mit Chef?« fragte Oberst Soo Jiang, ohne auf die Bemerkung einzugehen.

»Ihren Häuptling, Ihre Nummer eins, den Hahn im Hühnerhof

- ganz wie Sie wollen. Er war es doch in der Schlucht, der so

viel geredet hat, oder? Der sein Schwert so schwungvoll gebraucht hat, der Korkenzieher, den ich vor der Verzögerungstaktik des Franzosen gewarnt habe -«

»Sie wagen es ...? Das waren Sie?«

»Fragen Sie ihn doch. Ich habe ihm gesagt, daß etwas nicht stimmte, daß der Franzose ihn hinhält. Herrgott, ich habe dafür bezahlt, daß er nicht auf mich gehört hat! Er hätte diesen französischen Scheißer niedermachen sollen, als ich es ihm sagte! Und jetzt werden Sie ihm sagen, daß ich ihn sprechen möchte!«

»Selbst ich habe keinen Zugang zu ihm«, sagte der Oberst. »Ich kann nur Mittelsmänner erreichen über ihre Codenamen. Ihre wirklichen Namen kenne ich nicht -«

»Sie meinen die Männer, die nach Guangdong fliegen in die Hügel, um sich mit mir zu treffen und mir Aufträge zu erteilen?« unterbrach Borowski.

»Ja.«

»Mit denen will ich nicht sprechen!« explodierte Jason, der sich jetzt als sein eigener Doppelgänger gab. »Ich will mit dem Mann sprechen. Und ich kann ihm nur raten, daß er das auch möchte.«

»Sie werden zuerst mit anderen sprechen, aber selbst dafür muß es sehr gute Gründe geben. Die bestimmen, wann geredet werden soll, nicht andere. Das sollten Sie inzwischen wissen.«

»Also schön, Sie können der Kurier sein. Ich war fast drei Stunden mit den Amerikanern zusammen und habe mich, wie noch nie zuvor in meinem Leben, um Tarnung bemüht. Sie haben mich gründlich verhört, und ich habe ihnen offen geantwortet - brauche Ihnen wohl nicht zu sagen, daß ich im ganzen Territorium Leute habe, die, wenn nötig, einen Eid darauf ablegen, daß ich geschäftlich mit ihnen zu tun habe oder zu einer bestimmten Zeit mit ihnen zusammen war, ganz gleich, wer anruft -«

»Das brauchen Sie mir wahrlich nicht zu sagen«, unterbrach ihn Soo. »Bitte, geben Sie mir jetzt die Nachricht, die ich übermitteln soll. Sie haben mit den Amerikanern gesprochen. Und weiter?«

»Ich habe auch zugehört. Diese Yankees haben die dumme Angewohnheit, in Gegenwart Fremder zu offen miteinander zu reden.«

»Jetzt höre ich wieder den Briten. Die Stimme der Überlegenheit.«

»Wir tun das nicht, und Ihr Schlitzaugen tut das, weiß Gott, auch nicht.«

»Bitte, fahren Sie fort.«

»Der, der mich gefangengenommen hat, der Mann, den die Amerikaner dann abgeknallt haben, war selbst Amerikaner.«

»Und?«

»Wenn ich jemand töte, hinterlasse ich meine Visitenkarte. Einen Namen, der weit zurückreicht, Jason Borowski.«

»Das wissen wir. Und?«

»Er war das Original! Er war Amerikaner, und die waren seit fast zwei Jahren hinter ihm her.«

»Und?«

»Die glauben, Beijing habe ihn gefunden und angeheuert. Jemand in Beijing, der ihn dafür bezahlt hat, daß er einen Mann in jenem Haus tötet, einen wichtigen Mann. Borowski arbeitet für jeden ohne Vorbehalt.«

»Bitte drücken Sie sich deutlicher aus.«

»Dort waren nicht nur Amerikaner, sondern auch noch ein paar andere. Chinesen aus Taiwan, die keinen Zweifel daran ließen, daß sie die meisten Rädelsführer der KuomintangVerschwörung ablehnen. Sie waren zornig. Und auch beunruhigt, glaube ich.« Borowski hielt inne. Schweigen.

»Und?« drängte der Oberst.

»Und dann haben sie immer wieder einen Namen genannt -Sheng.«

»Aiya!«

»Das ist die Nachricht, die Sie übermitteln sollen, und ich erwarte in drei Stunden Antwort im Casino. Ich werde jemanden schicken, der sie abholt. Machen Sie also keine Dummheiten. Ich habe Leute dort, die ebenso leicht Rabatz machen können wie eine Sieben würfeln. Beim geringsten Anlaß sind Ihre Männer tot.«

»Wir erinnern uns an das, was vor ein paar Wochen in Tsim Sha Tsui geschah«, sagte Soo Jiang. »Fünf unserer Feinde in einem Hinterzimmer umgelegt, während es vorne im Variete zu einer Prügelei kommt. Wir haben uns oft gefragt, ob der ursprüngliche Jason Borowski ebenso tüchtig wie sein Nachfolger war.«

»Das war er nicht.« Erwähnen Sie die Möglichkeit, daß es Ärger im Casino gibt, falls Shengs Leute Sie in eine Falle locken wollen. Sagen Sie, ihre Männer werden dann tot sein. Sie brauchen nicht deutlicher zu werden. Das genügt denen ... Der Analytiker hat gewußt, wovon er redet. »Eine Frage«, sagte Jason, den das wirklich interessierte. »Wann haben Sie und die anderen denn erkannt, daß ich nicht das Original war?«

»Auf den ersten Blick«, erwiderte der Oberst. »Die Jahre hinterlassen ihre Spuren, nicht wahr? Der Körper mag beweglich bleiben, ja, sogar besser werden, wenn man ihn richtig pflegt, aber das Gesicht spiegelt die Zeit; das ist unvermeidbar. Ihr Gesicht konnte unmöglich das Gesicht des Mannes von Medusa sein. Das liegt mehr als fünfzehn Jahre zurück, und Sie sind bestenfalls Anfang Dreißig. Medusa hat keine Kinder rekrutiert. Sie waren eine Reinkarnation des Franzosen.«

»Das Codewort ist >Krise<, und Sie haben drei Stunden«, sagte Borowski und legte auf.

»Das ist doch verrückt!« Jason trat aus der offenen Glaszelle in dem rund um die Uhr offenen Postamt und sah McAllister an. »Sie haben das sehr gut gemacht«, sagte der Analytiker und notierte sich etwas auf einen kleinen Block. »Ich werde jetzt zahlen.« Der Staatssekretär ging auf den Schalter zu, wo die Auslandsgespräche zu bezahlen waren.

»Sie haben nicht verstanden, worauf es mir ankommt«, fuhr Borowski fort, der neben McAllister herging. Seine Stimme klang leise, war rauh. »Das kann nicht funktionieren. Es ist zu ausgefallen. Das glaubt doch keiner.«

»Wenn Sie ein persönliches Treffen verlangt hätten, würde ich Ihnen recht geben. Aber das haben Sie ja nicht. Sie verlangen ja nur ein Telefongespräch.«

»Ich verlange von ihm, daß er sich preisgibt. Daß er selbst der Mittelpunkt des Schwindels ist!«

»Um Sie noch einmal zu zitieren«, sagte der Analytiker und griff nach seiner Rechnung und legte Geld auf die Theke, »er kann es sich nicht leisten, nicht zu reagieren. Er muß.»

»Er wird aber Bedingungen stellen, die wir nicht erfüllen können.«

»Da brauche ich natürlich Ihren Rat.« McAllister nahm sein Wechselgeld, nickte der Angestellten dankend zu und ging auf die Tür zu.

Jason ging neben ihm her. »Vielleicht kann ich Ihnen gar nichts raten.«

»Unter den gegebenen Umständen, meinen Sie«, sagte der Analytiker, als sie auf die überfüllte Straße hinaustraten.

»Was?«

»Die Strategie ist es gar nicht, die Sie so beunruhigt, Mr. Borowski, weil es ja im wesentlichen Ihre Strategie ist. Was Sie so wütend macht, ist, daß ich derjenige bin, der sie durchführt, nicht Sie. Sie glauben wie Havilland, daß ich das nicht kann.«

»Ich glaube, jetzt ist weder die Zeit noch die Gelegenheit, zu beweisen, daß Sie John Wayne oder Tom Mix sind! Wenn Ihr Plan scheitert, ist Ihr Leben meine geringste Sorge. Irgendwie ist mir China oder besser gesagt die ganze Welt wichtiger.«

»Mein Plan wird nicht scheitern. Ich habe Ihnen doch gesagt, daß ich, selbst wenn er scheitern würde, nicht verlieren kann. Sheng verliert, ganz gleich, ob er lebt oder nicht. Dafür wird in zweiundsiebzig Stunden das Konsulat in Hongkong sorgen.«

»Eine kalkulierte Selbstaufopferung kann ich nicht billigen«, sagte Jason. »Heldengehabe, das dem Helden etwas vormacht, hat nie Erfolg. Außerdem stinkt Ihre sogenannte Strategie geradezu nach Falle. Die werden das riechen!«

»Bloß, wenn Sie mit Sheng verhandeln würden und nicht ich. Sie sagen, das sei so ausgefallen, daß nur ein Amateur darauf käme. Ausgezeichnet. Wenn Sheng mich am Telefon hört, wird ihm alles sofort klar sein. Ich bin der verbitterte Amateur, der Mann, der noch nie im Feld tätig war, der erstklassige Bürokrat, den das System übergangen hat, dem er so gut dient. Ich weiß, was ich tue, Mr. Borowski. Sie brauchen mir bloß eine Waffe zu besorgen.«

Den Wunsch zu erfüllen, bereitete keine Schwierigkeiten. Am Porto Interior von Macao an der Rua das Lorchas war d'Anjous Wohnung mit einem kleinen Waffenarsenal. Man brauchte sich bloß zu dieser Wohnung Zugang zu verschaffen und Waffen auszusuchen, die sich leicht zerlegen ließen, um damit die relativ lasche Grenzkontrolle in Guangdong mit Diplomatenpässen zu passieren. Trotzdem dauerte es über zwei Stunden, die richtige Waffe zu finden. Jason gab McAllister eine Pistole nach der anderen in die Hand und beobachtete den

Analytiker dabei. Die schließlich ausgewählte Waffe war die kleinste in d'Anjous Arsenal, mit Schalldämpfer.

»Zielen Sie auf den Kopf, und wenigstens drei Kugeln in den Schädel. Alles andere wäre nicht mehr als ein Bienenstich.«

McAllister schluckte und starrte die Waffe an, während Jason die Waffen musterte und überlegte, welche wohl die größte Feuerkraft auf kleinstem Raum hatte. Schließlich wählte er für sich eine Maschinenpistole, die einen Ladestreifen mit dreißig Schuß aufnahm.

Die Waffen unter ihren Jacketts verborgen, betraten sie um 3.35 Uhr früh das nur schwach besuchte Kam-Pek-Casino und gingen ans Ende der langen Mahagonibar. Borowski nahm den Platz ein, den er auch das letztemal gehabt hatte. Der Staatssekretär setzte sich vier Hocker von ihm entfernt. Der Barkeeper erkannte den großzügigen Gast, der ihm vor ein paar Tagen fast einen Wochenlohn gegeben hatte. Er begrüßte ihn wie einen langjährigen Stammgast.

»Nei hou a!«

»Mchoh La. Mgoi«, sagte Borowski und gab damit zu verstehen, daß es ihm gutgehe und er sich guter Gesundheit erfreue.

»Der englische Whisky, nicht wahr?« fragte der Barkeeper, auf sein Gedächtnis vertrauend und in der Hoffnung, daß ihm das eine Belohnung eintragen würde.

»Ich habe Freunden im Casino des Lisboa gesagt, daß sie mit Ihnen reden sollten. Ich glaube, Sie sind der beste Barmann von ganz Macao.«

»Das Lisboa? Dort ist das große Geld! Ich danke Ihnen, Sir.« Der Barkeeper beeilte sich, Jason einen Drink einzugießen, der Cäsars Legionen umgehauen hätte. Borowski nickte wortlos, worauf der Mann sich etwas widerstrebend McAllister zuwandte. Jason registrierte, daß der Analytiker Weißwein bestellte, exakt bezahlte und sich den Betrag in sein Notizbuch aufschrieb. Der Barkeeper zuckte die Achseln, stellte dem unangenehmen Gast das Bestellte hin und ging zur Mitte der kaum frequentierten Bar, wobei er die ganze Zeit seinen Lieblingskunden im Auge behielt.

Schritt eins.

Er war da! Der gut gekleidete Chinese in dem schwarzen Schneideranzug, der Veteran der Kriegskünste, der nicht genügend schmutzige Tricks kannte, der Mann, mit dem er in einer Gasse gekämpft und der ihn in die Berge von Guangdong geführt hatte. Oberst Soo Jiang ging kein Risiko ein. Er setzte in dieser Nacht seine besten Leute ein.

Der Mann ging langsam an ein paar Spieltischen vorbei, als wolle er sich ein Bild verschaffen, die Bankhalter und die Spieler einschätzen und sich darüber klarwerden, wo er sein Glück versuchen sollte. Schließlich trat er an Tisch fünf, setzte sich und holte ein Bündel Geldscheine aus der Tasche. Zwischen den Geldscheinen steckte eine Nachricht, die Krise lautete, dachte Jason.

Zwanzig Minuten später schüttelte der makellos gekleidete Chinese den Kopf, steckte sein Geld wieder ein und stand auf. Er war die Verbindung zu Sheng! Er kannte sich sowohl in Macao als auch an der Grenze von Guangdong aus, und Borowski wußte, daß er mit diesem Mann Kontakt aufnehmen mußte, und zwar schnell! Er sah zuerst zu dem Barkeeper hinüber, der ans Ende der Bar gekommen war, um einem Kellner, der an den Tischen bediente, ein paar Cocktails herzurichten, und dann zu McAllister.

»Analytiker!« flüsterte er scharf. »Bleiben Sie hier!«

»Was machen Sie?«

»Meine Mutter besuchen, was denn sonst!« Jason glitt vom Hocker und ging zur Tür, auf den V-Mann zu. Als er an dem Barkeeper vorbeikam, sagte er auf kantonesisch: »Bin gleich wieder da.«

»Kein Problem, Sir.«

Draußen folgte Borowski dem Chinesen ein paar Straßen, bis der in eine schmale, schwach beleuchtete Seitengasse einbog und auf einen abgestellten Wagen zuging. Er würde sich mit niemandem treffen; er hatte die Botschaft überbracht und war im Begriff, zu verschwinden. Jason fing zu laufen an, und als der andere die Wagentür öffnete, tippte er ihm auf die Schulter. Der V-Mann wirbelte herum, duckte sich, und sein linker Fuß zuckte gefährlich vorwärts. Borowski sprang zurück und hob beide Hände in einer Geste des Friedens.

»Wir wollen das doch nicht ein zweites Mal aufführen«, sagte er in englischer Sprache, weil er sich erinnerte, daß der Mann in der Klosterschule Englisch gelernt hatte. »Ich habe von den Prügeln, die Sie mir vor einer Woche verpaßt haben, immer noch Schmerzen.«

»Aiya! Sie!« Der V-Mann hob die Hände, ebenfalls in einer Friedensgeste. »Sie erweisen mir Ehre, wo ich doch gar keine verdiene. In jener Nacht haben Sie mich besiegt, und aus dem Grund habe ich täglich sechs Stunden geübt, um besser zu werden ... damals haben Sie mich besiegt. Nicht jetzt.«

»Wenn man Ihr Alter bedenkt und das meine, dann gebe ich Ihnen mein Wort, daß Sie nicht besiegt worden sind. Meine Knochen haben viel weher getan als die Ihren, und ich werde Ihre neue Form ganz bestimmt nicht auf die Probe stellen. Ich werde Ihnen viel Geld geben, aber nicht mit Ihnen kämpfen. Man nennt das Feigheit.«

»Nicht Sie, Sir«, sagte der Chinese und ließ die Hände sinken und grinste. »Sie sind sehr gut.«

»Doch ich, Sir«, erwiderte Jason. »Ich habe höllische Angst vor Ihnen. Und Sie haben mir einen großen Gefallen getan.«

»Sie haben mich gut bezahlt. Sehr gut.«

»Ich werde Sie jetzt noch besser bezahlen.«

»Dann war die Nachricht für Sie?«

»Ja.«

»Dann haben Sie den Platz des Franzosen eingenommen?«

»Der ist tot. Die Leute, die die Nachricht geschickt haben, haben ihn getötet.«

Der V-Mann sah ihn erstaunt an, vielleicht sogar betrübt. »Warum?« fragte er. »Er hat denen gute Denste geleistet, und er war ein alter Mann, älter als Sie.«

»Vielen Dank.«

»Hat er seine Auftraggeber betrogen?«

»Nein, ihn hat man betrogen.«

»Die Kommunisten?«

»Kuomintang«, sagte Borowski und schüttelte den Kopf.

»Dong wu! Die sind nicht besser als die Kommunisten. Was wollen Sie von mir?«

»Wenn alles planmäßig läuft, ziemlich genau dasselbe, was Sie schon einmal getan haben. Aber diesmal möchte ich, daß Sie in der Nähe bleiben. Ich möchte ein Paar Augen anheuern.«

»Sie gehen in die Berge von Guangdong?«

»Ja.«

»Da brauchen Sie Hilfe beim Überqueren der Grenze?«

»Nicht, wenn Sie mir jemanden ausfindig machen können, der eine Fotografie aus einem Paß in einen anderen übertragen kann.«

»Das geschieht jeden Tag. Das können selbst Kinder.«

»Gut. Dann geht es nur noch darum, Ihre Augen anzuheuern. Die Sache ist etwas riskant, aber nicht sehr. Und sie ist mir zwanzigtausend amerikanische Dollar wert.«

»Aiya, ein Vermögen!« Der V-Mann hielt inne und musterte Borowskis Gesicht. »Das Risiko muß groß sein.«

»Wenn es Ärger gibt, dann erwarte ich, daß Sie durchkommen. Wir werden das Geld hier in Macao lassen, wo nur Sie Zugang dazu haben. Wollen Sie den Job oder soll ich woanders fragen?«

»Dies sind die Augen eines Falken. Sie brauchen nicht weiter zu suchen.«

»Kommen Sie mit mir zum Casino zurück! Warten Sie draußen ein Stück weiter unten an der Straße, dann lasse ich die Nachricht abholen.«

Der Barkeeper war mit größtem Vergnügen bereit, Jasons Wunsch zu erfüllen. Beim Stichwort »Krise« stutzte er, bis Borowski erklärte, daß es sich dabei um den Namen eines Rennpferdes handle. Er trug einen Drink zum Bankhalter an Tisch fünf und kehrte mit dem verschlossenen Umschlag unter seinem Tablett zurück. Jason hatte unterdessen die Spieltische in der Nähe beobachtet und nach neugierigen Blicken zwischen den dicken Rauchschwaden Ausschau gehalten, aber nichts Auffälliges gesehen. Das Tablett wurde wie vereinbart zwischen Borowski und McAllister auf die Theke gestellt. Jason klopfte eine Zigarette aus seinem Päckchen und schob dem Analytiker, der Nichtraucher war, ein Streichholzbriefchen über die Theke zu. Ehe der verblüffte Staatssekretär begriff, stand Borowski auf und ging zu ihm hinüber.

»Haben Sie Feuer, Mister?«

McAllister sah die Streichhölzer an, griff danach, riß eines heraus, strich es an und hielt ihm die Flamme hin. Als Jason zu seinem Platz zurückkehrte, hatte er den Umschlag in der Hand. Er öffnete ihn, nahm das Papier heraus und las in Schreibmaschinenschrift: Telefon Macao 3261443.

Er sah sich nach einem Telefonautomaten um, und in dem Augenblick wurde ihm klar, daß er in Macao nie ein Telefon benutzt hatte, und daß er, selbst wenn es eine Gebrauchsanweisung gab, nicht mit den Münzen der

portugiesischen Kolonie vertraut war. Es waren immer die Kleinigkeiten, die die größeren Dinge störten. Er gab dem Barkeeper ein Zeichen.

»Ja, Sir? Noch einen Whisky, Sir?«

»Die ganze nächste Woche nicht«, sagte Borowski und legte Hongkongdollar auf die Bar. »Ich muß jemanden hier in Macao anrufen. Sagen Sie mir, wo ein Telefon ist.

»Ich würde niemals zulassen, daß ein Gentleman wie Sie ein gewöhnliches Telefon benutzt, Sir. Außerdem, unter uns, glaube ich, daß viele Gäste hier ansteckende Krankheiten haben.« Der Barkeeper lächelte. »Gestatten Sie, Sir. Ich habe ein Telefon hinter meiner Bar - für besondere Gäste.«

Ehe Jason protestieren oder danken konnte, stand ein Telefon vor ihm. Er wählte, während McAllister ihn anstarrte.

»Wei?« sagte eine Frauenstimme.

»Man hat mir gesagt, daß ich diese Nummer anrufen soll«, erwiderte Borowski in englischer Sprache. Der tote Meuchelmörder hatte nicht chinesisch gesprochen.

»Wir werden uns treffen.«

»Wir werden uns nicht treffen.«

»Wir bestehen darauf.«

»Schlagen Sie sich das aus dem Kopf. So gut sollten Sie mich kennen. Ich möchte mit dem Mann sprechen, und nur mit dem Mann.«

»Sie sind anmaßend.«

»Und Sie scheißdämlich. Wie der hagere Prediger mit dem großen Schwert, wenn er nicht mit mir spricht.«

»Sie wagen es -«

»Das habe ich schon einmal gehört«, unterbrach Jason sie scharf. »Die Antwort darauf ist: ja, ich wage es. Er hat entschieden mehr zu verlieren als ich. Er ist nur ein Kunde, und

meine Liste wird länger von Tag zu Tag. Ich brauche ihn nicht, aber ich glaube, daß er im Augenblick mich braucht.«

»Nennen Sie mir einen überzeugenden Grund.«

»Ich nenne Gefreiten keine Gründe. Ich war einmal Major, wußten Sie das nicht?«

»Beleidigungen sind unnötig.«

»Dieses Gespräch auch. Ich rufe Sie in einer halben Stunde noch einmal an. Bieten Sie mir dann etwas Besseres, bieten Sie mir den Mann. Und ob er es ist, werde ich wissen, weil ich dann ein oder zwei Fragen stellen werde, die nur er beantworten kann, Ciao, Lady.« Borowski legte auf.

»Was machen Sie?« flüsterte McAllister erregt, vier Hocker von ihm entfernt.

»Ich sorge dafür, daß Sie Ihren Auftritt im Rampenlicht bekommen, und hoffe nur, daß Sie Ihren Text gelernt haben. Wir gehen jetzt hier weg. Warten Sie fünf Minuten und folgen Sie mir dann. Biegen Sie nach der Türe rechts ab und gehen Sie dann einfach geradeaus. Wir werden Sie erwarten.«

»Wir?«

»Da ist jemand, von dem ich möchte, daß Sie ihn kennenlernen. Ein alter Freund - ein junger Freund -, der Ihnen wahrscheinlich sympathisch sein wird. Er kleidet sich wie Sie.«

»Noch jemand? Sind Sie wahnsinnig?«

»Jetzt drehen Sie mir bloß nicht durch, Mr. Analytiker, vergessen Sie nicht, daß wir einander nicht kennen. Nein, ich bin nicht wahnsinnig. Ich habe mir nur gerade einen Helfer engagiert, für den Fall, daß ich ihn brauchen sollte. Vergessen Sie nicht, Sie wollten meine Unterstützung in diesen Dingen.«

Die Vorstellung war kurz, und es wurden keine Namen gebraucht, aber daß McAllister von dem breitschultrigen, gut gekleideten Chinesen beeindruckt war, war nicht zu übersehen.

»Sind Sie leitender Angestellter einer der Firmen hier?« fragte der Analytiker, während sie auf die Nebenstraße zugingen, wo der Wagen des V-Mannes parkte.

»So könnte man es ausdrücken, ja, Sir. Nur daß ich meine eigene Firma habe, einen Kurierdienst für sehr wichtige Leute.«

»Aber wie hat er Sie denn gefunden?«

»Es tut mir leid, Sir, aber Sie werden sicher verstehen, daß derartige Informationen vertraulich sind.«

»Du lieber Gott«, murmelte McAllister und sah den Mann von Medusa an.

»Bringen Sie mich in zwanzig Minuten zu einem Telefon«, sagte Jason, der auf dem Vordersitz Platz genommen hatte. Der verwirrte Staatssekretär hatte sich nach hinten gesetzt.

»Dann haben die eine Zwischenstation eingeschaltet?« fragte der V-Mann. »Das haben sie mit dem Franzosen auch oft getan.«

»Und wie ist der mit ihnen umgegangen?« fragte Borowski.

»Er hat immer gesagt: >Laß sie schwitzen.< Darf ich vorschlagen, daß Sie erst in einer Stunde telefonieren?«

»Geht in Ordnung. Gibt es hier in der Gegend ein Restaurant?«

»Gleich dort drüben in der Rua Mercadores.«

»Wir müssen etwas essen, und der Franzose hatte recht - er hatte immer recht. Laß sie schwitzen.«

»Zu mir war er sehr anständig«, sagte der V-Mann.

»Am Ende war er so etwas wie ein gesprächiger, wenn auch pervertierter Heiliger.«

»Ich verstehe nicht, Sir.«

»Das ist auch nicht notwendig. Aber ich lebe, und er ist tot, weil er eine Entscheidung getroffen hat.«

»Was für eine Entscheidung, Sir?«

»Zu sterben, damit ich leben kann.«

»Wie es in der Heiligen Schrift der Christen steht. Das haben die Nonnen uns gelehrt.«

»Kaum«, sagte Jason, den der Gedanke amüsierte. »Wenn es einen anderen Ausweg gegeben hätte, dann hätten wir den ergriffen. Aber es gab keinen. Er akzeptierte einfach die Tatsache, daß sein Tod mein Ausweg war.«

»Ich habe ihn gemocht«, sagte der V-Mann.

»Bringen Sie uns zu dem Restaurant.«

Edward McAllister hatte alle Mühe, sich zu beherrschen. Was er nicht wußte und worüber Borowski bei Tisch nicht reden wollte, ließ ihn vor Unruhe fast ersticken. Zweimal versuchte er, das Gespräch auf die »Zwischenstation« und die augenblickliche Situation zu bringen, und zweimal schnitt Jason ihm das Wort ab und bedachte den Staatssekretär dabei mit einem finsteren Blick, während der V-Mann dankbar die Augen abwandte. Es gab gewisse Fakten, die der Chinese kannte, und andere, die er um seiner eigenen Sicherheit willen nicht kennen durfte.

»Ruhe und Nahrung«, sinnierte Borowski und holte das letzte Stückchen seines tian-suan-on vom Teller. »Der Franzose hat gesagt, das wären Waffen. Er hatte natürlich recht.«

»Ich würde sagen, daß er ersteres mehr gebraucht hat als Sie, Sir«, sagte der V-Mann.

»Mag sein, aber er hat Kriegsgeschichte studiert. Er behauptete, aus Übermüdung seien mehr Schlachten verloren worden als wegen Mangel an Waffen.«

»Das ist alles sehr interessant«, unterbrach McAllister scharf, »aber wir sind jetzt schon seit einer Weile hier, und ich bin sicher, daß wir etwas unternehmen sollten.«

»Werden wir auch, Edward. Wenn Sie nervös sind, dann überlegen Sie einmal, was die jetzt durchmachen. Der Franzose pflegte auch zu sagen, daß die Nerven des Feindes unsere besten Verbündeten seien.«

»Ihr Franzose geht mir allmählich auf die Nerven«, sagte McAllister gereizt.

Jason sah den Analytiker an und meinte ruhig: »Sagen Sie das nie wieder zu mir. Sie waren nicht dabei.« Borowski sah auf die Uhr. »Jetzt ist über eine Stunde vergangen. Suchen wir uns ein Telefon.« Er wandte sich zu dem V-Mann. »Ich werde Ihre Hilfe brauchen«, fügte er hinzu. »Sie stecken das Geld hinein. Ich wähle dann.«

»Sie haben gesagt, Sie würden in einer halben Stunde zurückrufen!« stieß die Frau am anderen Ende der Leitung hervor.

»Ich hatte andere Dinge zu erledigen. Ich habe noch mehr Klienten, und von Ihnen bin ich nicht gerade begeistert. Falls sich das zu einer Zeitvergeudung entwickeln sollte, habe ich anderes zu tun, und dann können Sie sich bei dem Mann verantworten, wenn der Taifun kommt.«

»Wie wäre das möglich?«

»Schluß jetzt, Lady! Geben Sie mir einen Koffer mit mehr Geld, als Sie je gesehen haben, dann könnte ich es Ihnen vielleicht sagen. Andererseits würde ich es wahrscheinlich doch nicht tun. Ich mag es, wenn hochgestellte Männer in meiner Schuld stehen. Sie haben jetzt noch zehn Sekunden, dann lege ich auf.«

»Bitte. Sie werden einen Mann treffen, der Sie zu einem Haus auf dem Guia-Hügel bringen wird, wo es hochmoderne Kommunikationsmittel -«

»Und wo ein halbes Dutzend von euren Gangstern mir den Schädel einschlägt, mich dann in ein Zimmer steckt, wo mich ein Arzt mit Drogen vollpumpt und Sie alles umsonst kriegen!«

Borowskis Zorn war nur zum Teil gespielt; Shengs Leute benahmen sich wirklich wie die Amateure. »Jetzt will ich Ihnen einmal etwas über ein hochmodernes Kommunikationsmittel sagen. Das ist schlicht und einfach ein Telefon, und ich glaube nicht, daß es Kommunikation zwischen Macao und der Garnison von Guangdong gäbe, wenn Sie keine Zerhacker hätten. Natürlich haben Sie sie in Tokio gekauft, denn wenn Sie sie selbst gemacht hätten, würden sie wahrscheinlich nicht funktionieren! Einen solchen Zerhacker sollten Sie benutzen. Ich rufe Sie jetzt nur noch einmal an, Lady. Drnn sollten Sie eine Nummer für mich haben. Die Nummer des Mannes.« Jason legte auf.

»Interessant«, sagte McAllister, der vielleicht einen Meter von ihm gestanden war und jetzt kurz zu dem chinesischen V-Mann hinübersah, der zum Tisch zurückgekehrt war. »Sie haben den Stock benutzt, wo ich eine Mohrrübe eingesetzt hätte.«

»Was hätten Sie?«

»Ich hätte betont, was für außergewöhnliche Informationen ich zu liefern habe. Statt dessen haben Sie gedroht, so als wollten Sie mit der anderen Seite gar nichts zu tun haben.«

»Verschonen Sie mich mit diesem Stuß«, antwortete Borowski und zündete sich eine Zigarette an, dafür dankbar, daß seine Hand nicht zitterte. »Zu Ihrer Aufklärung - ich habe beides getan. Die Drohung betont die Enthüllung, und das Ultimatum verstärkt beides.«

»Von Ihnen kann man etwas lernen«, sagte der Staatssekretär, und die Andeutung eines Lächelns wanderte über sein Gesicht. »Ich danke Ihnen.«

Der Mann von Medusa sah den Mann aus Washington scharf an. »Wenn dieses verdammte Ding funktioniert, schaffen Sie es dann, Analytiker? Können Sie die Knarre herausreißen und abdrücken? Wenn Sie das nämlich nicht können, sind wir beide tot.«

»Ich kann es«, sagte McAllister ruhig. »Für den Pazifikraum. Für die Welt.«

»Und für Ihren Auftritt im Rampenlicht.« Jason ging zum Tisch zurück. »Verschwinden wir jetzt hier. Ich will dieses Telefon nicht noch einmal benutzen.«

Die hektische Aktivität in der Villa von Sheng Chou Yang strafte die erhabene Ruhe des Jadeturmbergs Lügen. Dabei war die Unruhe nicht auf die Zahl der Leute zurückzuführen, denn es waren nur fünf, sondern auf die Hektik aller Akteure. Der Minister hörte zu, während seine Berater aus dem Garten hereinkamen und wieder hinauseilten, Nachrichten über die jüngste Entwicklung brachten und furchtsam ihren Rat anboten, den sie jedesmal sofort wieder zurückzogen, wenn ihr Führer das geringste Anzeichen von Mißbehagen erkennen ließ.

»Unsere Leute haben die Geschichte bestätigt, Herr!« rief ein uniformierter Mann in mittleren Jahren, der aus dem Haus gerannt kam. »Sie haben mit den Journalisten gesprochen. Alles war so, wie der Meuchelmörder es beschrieben hat, und eine Fotografie des Toten ist an die Zeitungen verteilt worden.«

»Beschaffen«, sagte Sheng. »Sofort über Telex anfordern. Diese ganze Geschichte ist unglaublich.«

»Ist bereits veranlaßt«, sagte der Soldat. »Das Konsulat hat einen Attache zu den South China News geschickt. Das Foto müßte in wenigen Minuten hier sein.«

»Unglaublich«, wiederholte Sheng leise, und sein Blick wanderte zu den Seerosen in den vier Teichen. »Die Symmetrie ist zu perfekt, die zeitliche Abstimmung zu perfekt, und das bedeutet, daß irgend etwas nicht vollkommen ist. Jemand hat ordnend eingegriffen.«

»Der Meuchelmörder?« fragte ein anderer Adjutant.

»Was sollte er damit bezwecken? Er hat doch keine Ahnung, daß er in dem Vogelreservat noch vor Ende der Nacht gestorben wäre. Er hat sich für privilegiert gehalten, aber wir haben ihn doch nur benutzt, um seinen Vorgänger in die Falle zu locken, den unser Mann bei MI-6 ausfindig gemacht hat.«

»Wer dann?« fragte ein anderer.

»Das ist es ja, wer? Alles ist gleichzeitig verlockend und doch so ungeschickt. Das ist alles zu durchsichtig, zu unprofessionell. Der Meuchelmörder muß, wenn er die Wahrheit spricht, glauben, daß er von mir nichts zu befürchten hat. Und doch droht er, setzt einen lukrativen Kunden aufs Spiel. Das tun Profis nicht, und das ist es, was mich so beunruhigt.«

»Dann vermuten Sie, daß eine dritte Partei eingeschaltet worden ist, Herr Minister?« fragte der dritte Adjutant.

»Wenn das so ist«, sagte Sheng, dessen Blick jetzt wie gebannt an einem einzigen Seerosenteich hing, »dann ist es jemand ohne Erfahrung oder mit der Intelligenz eines Ochsen. Ich verstehe das einfach nicht.«

»Es ist da, Herr!« rief ein junger Mann und kam mit einem Funkbild in der Hand in den Garten gerannt.

»Schnell, her damit!« Sheng packte das Blatt Papier und hielt es ans Licht. »Das ist er! Das Gesicht werde ich nie vergessen, solange ich atme! Alles freigeben! Sagen Sie der Frau in Macao, sie soll unserem Mörder die Nummer geben und das Gespräch elektronisch absichern. Mißerfolg ist jetzt gleichbedeutend mit Tod.«

»Sofort, Herr Minister!« Der junge Mann rannte ins Haus.

»Meine Frau, meine Kinder«, sagte Sheng Chou Yang nachdenklich. »Diese ganze Unruhe könnte sie stören. Würde einer von Ihnen bitte hineingehen und ihnen erklären, daß die Staatsgeschäfte mich von ihnen fernhalten?«

»Das ist mir eine Ehre, Herr«, sagte ein Adjutant.

»Sie leiden so unter der Last meiner Arbeit. Sie sind alle Engel. Eines Tages werden Sie belohnt werden.«

Borowski tippte dem V-Mann auf die Schulter und wies dann auf das beleuchtete Eingangsportal eines Hotels auf der rechten Straßenseite. »Wir nehmen uns dort ein Zimmer und suchen dann eine Telefonzelle am anderen Ende der Stadt. Okay?«

»Das ist klug«, sagte der Chinese. »Das Fernamt wimmelt von denen.«

»Und wir brauchen Schlaf. Der Franzose hat mir immer wieder gesagt, daß Ruhe auch eine Waffe sei. Herrgott, warum wiederhole ich mich die ganze Zeit?«

»Weil Sie besessen sind«, sagte McAllister vom Rücksitz aus.

»Das sagen ausgerechnet Sie. Lassen Sie das bleiben.«

Jason wählte die Nummer in Macao, die ein Relais in China auslöste und die Verbindung zu einem elektronisch gesicherten Telefon am Jadeturmberg herstellte. Während er das tat, sah er den Analytiker an. »Spricht Sheng Französisch?« fragte er schnell.

»Natürlich«, sagte der Staatssekretär. »Er verhandelt mit dem Quai d'Orsay und spricht die Sprache eines jeden, mit dem er verhandelt. Das ist eine seiner Stärken. Aber warum nicht Mandarin? Sie können es doch.«

»Aber der Major hat es nicht gekonnt, und wenn ich Englisch spreche, könnte er sich fragen, was aus dem britischen Akzent geworden ist. Das Französische wird das verdecken, wie bei Soo Jiang. Und dann werde ich außerdem noch wissen, ob es wirklich Sheng ist.« Borowski hielt ein Taschentuch über die Sprechmuschel, während er aus zweieinhalbtausend Kilometer Entfernung ein Echo des Klingelzeichens hörte. Die Zerhacker waren eingeschaltet.

»Wei?«

»Comme le colonel, jeprefere le frangais.«

»Shemma?« rief die Stimme verblüfft.

»Fawen«, sagte Jason, das Wort, das auf Mandarin

französisch bedeutete.

»Fawen? Wo buhui!« erwiderte der Mann aufgeregt und erklärte, er spreche nicht französisch. Der Anruf war erwartet worden. Und dann schaltete sich eine andere Stimme ein, im

Hintergrund und zu leise, als daß man sie hätte hören können.

Und dann war sie in der Leitung.

»Pourcjuoi vous parlez frangais?« Das war Sheng! Gleichgültig, welche Sprache er gebrauchte, Borowski würde den Singsang des Redners nie vergessen. Das war der Fanatiker, der Diener eines gnadenlosen Gottes, der seine Zuhörer

verführte, ehe er sie mit Feuer und Schwefel züchtigte.

»Sagen wir mal, daß mir dabei wohler ist.«

»Also gut. Was ist das für eine unglaubliche Geschichte, die Sie mir bringen? Dieser Wahnsinn und der Name, der erwähnt wurde?«

»Man hat mir auch gesagt, daß Sie Französisch sprechen«, unterbrach Jason.

Eine kurze Pause folgte, in der nur Shengs gleichmäßiger Atem zu hören war. »Sie wissen, wer ich bin?«

»Ich kenne einen Namen, der mir nichts bedeutet. Aber jemand anderem bedeutet er etwas. Jemand, den Sie vor Jahren gekannt haben. Er möchte mit Ihnen sprechen.«

»Was?« schrie Sheng. »Verrat!«

»Nichts dergleichen, und wenn, an Ihrer Stelle würde ich ihm zuhören. Er hat sofort alles durchschaut, was ich denen gesagt habe. Die anderen nicht, wohl aber er.« Borowski sah zu McAllister hinüber, der neben ihm stand; der Analytiker nickte, als wolle er damit ausdrücken, daß Jason überzeugenden

Gebrauch von den Worten machte, die der Staatssekretär ihm geliefert hatte. »Er hat mich nur einmal angesehen und dann die richtigen Schlüsse gezogen. Aber schließlich war der Knabe, mit dem dieser Franzose früher mal gearbeitet hat, auch ganz schön zusammengeschossen; sein Kopf sah aus wie blutiger Blumenkohl.«

»Was haben Sie getan?«

»Ihnen wahrscheinlich den größten Gefallen, den Ihnen je jemand getan hat, und ich will dafür bezahlt werden. Da ist jetzt Ihr Freund. Er wird englisch sprechen.« Borowski reichte dem Analytiker das Telefon, worauf dieser sofort zu sprechen begann.

»Hier spricht Edward McAllister, Sheng.«

»Edward ...?« Sheng Chou Yang war so verblüfft, daß er den Namen nicht ganz herausbrachte.

»Dieses Gespräch ist rein privat und offiziell nicht sanktioniert. Der Ort, an dem ich mich befinde, ist nicht registriert und unbekannt. Ich spreche einzig und allein zu meinem Nutzen -und dem Ihren.«

»Sie ... verblüffen mich, mein alter Freund«, sagte der Minister langsam, hörbar um Beherrschung bemüht.

»Sie werden in den Morgenzeitungen darüber lesen, und die Nachrichten aus Hawaii berichten ohne Zweifel jetzt schon darüber. Das Konsulat wollte, daß ich auf ein paar Tage verschwinde - je weniger Fragen, desto besser -, und da wußte ich, mit wem ich gemeinsame Sache machen wollte.«

»Was ist geschehen, und wie sind Sie -«

»Die Ähnlichkeit war so offensichtlich, daß sie kein Zufall mehr sein konnte«, unterbrach ihn der Staatssekretär. »Ich nehme an, d'Anjou wollte die Legende so gründlich wie möglich ausschlachten, und da gehörte eben die äußerliche Ähnlichkeit für diejenigen dazu, die Jason Borowski in der Vergangenheit gesehen hatten. Meiner Ansicht nach eine überflüssige Ausschmückung, aber wirksam. In der Panik, die am Victoria Peak herrschte - und nachdem das Gesicht ja zur Unkenntlichkeit verstümmelt war -, hat sonst niemand die verblüffende Ähnlichkeit festgestellt. Aber andererseits hat auch keiner den anderen Borowski gekannt. Nur ich.«

»Sie?«

»Ich habe ihn aus Asien vertrieben, ich bin derjenige, den er in Hongkong umbringen wollte, und mit seinem perversen Sinn für Ironie und Rache beschloß er, das zu tun, indem er die Leiche Ihres Killers auf dem Victoria Peak liegenließ. Zu meinem Glück ließ sein Ego es nicht zu, daß er die Fähigkeiten Ihres Mannes richtig einschätzte. Als die Schießerei losging, hat ihn unser jetzt gemeinsamer Bundesgenosse überwältigt und in eine Maschinengewehrgarbe geworfen.«

»Edward, das kommt jetzt alles so schnell, ich kann das noch gar nicht fassen. Wer hat Jason Borowski zurückgebracht?«

»Offensichtlich der Franzose. Sein Schüler, der zugleich seine äußerst lukrative Einkommensquelle war, hatte sich selbständig gemacht. Er wollte Rache und wußte, wo der eine Mann zu finden war, der ihm dazu verhelfen konnte. Sein Kollege aus den Zeiten von Medusa, Jason Borowski, das Original.«

»Medusa!« flüsterte Sheng voller Abscheu.

»Trotz des schlechten Rufes, den die Leute hatten, gab es doch in gewissen Einheiten eine ungeheure Loyalität. Wenn man einem Menschen einmal das Leben gerettet hat, dann vergißt der das nicht.«

»Was hat Sie zu der lächerlichen Schlußfolgerung veranlaßt, daß ich mit dem Mann etwas zu tun haben könnte, den Sie einen Meuchelmörder nennen -«

»Bitte, Sheng«, unterbrach der Analytiker. »Für Dementis ist es jetzt zu spät. Wir reden. Aber ich will Ihre Frage beantworten. Es lag in dem Schema einiger seiner Morde. Es fing mit einem Vizepremier Chinas im Tsim Sha Tsui und vier weiteren Männern an. Alle waren Ihre Feinde. Und neulich in Kai-tak zwei Ihrer heftigsten Kritiker in der Delegation aus Peking - Ziel einer Bombe. Und dann hat es auch Gerüchte gegeben; die gibt es in der Unterwelt immer. Es wurde von Nachrichten geflüstert, die zwischen Macao und Guangdong hin und her gingen, von mächtigen Männern in Beijing - von einem Mann mit ungeheurer Macht. Und schließlich war da noch die Akte ... Wenn man das alles zusammenaddiert, wies es auf einen

- auf Sie.«

»Die Akte? Was soll das, Edward?« fragte Sheng und täuschte Stärke vor. »Warum ist das ein inoffizielles, geheimes Gespräch zwischen uns?«

»Ich glaube, das wissen Sie.«

»Sie sind ein hochintelligenter Mann. Sie wissen genau, daß ich die Frage nicht stellen würde, wenn ich es wüßte.«

»Ein hochintelligenter Bürokrat, den man in den Hintergrund gedrängt hat. Sind Sie da nicht auch meiner Meinung?«

»Ich hatte tatsächlich erwartet, daß Sie es weiter bringen würden. Sie haben den sogenannten Unterhändlern während der Handelskonferenz das ganze Material und die Strategie geliefert. Und jeder weiß, daß Sie in Hongkong beispielhafte Arbeit geleistet haben. Als Sie Hongkong schließlich verließen, hatte Washington in der Kronkolonie mehr Einfluß als je zuvor.«

»Ich habe mich dazu entschlossen, meine Stellung aufzugeben, Sheng. Ich habe meiner Regierung zwanzig Jahre meines Lebens geopfert, aber ich will nicht für sie sterben. Ich werde nicht zulassen, daß man mich aus dem Hinterhalt abschießt oder meinen Wagen in die Luft sprengt. Ich werde nicht zur Zielscheibe von Terroristen werden, sei es nun hier oder im Iran oder in Beirut. Es ist Zeit, daß ich an mich selbst denke. Die Zeiten ändern sich, die Menschen ändern sich, und das Leben ist teuer. Meine Pension und meine Aussichten sind wesentlich weniger, als ich das eigentlich verdient hätte.«

»Da bin ich völlig Ihrer Ansicht, Edward, aber was hat das mit mir zu tun? Wir mußten gemeinsam Kompromisse ausarbeiten - waren sozusagen Gegner, wie in einem Gerichtshof, aber auf keinen Fall Feinde in der Arena der Gewalt. Und was, im Namen des Himmels, soll dieser Unsinn, daß mein Name von Schakalen von der Kuomintang erwähnt würde?«

»Verschonen Sie mich mit diesem Stuß.« Der Analytiker sah zu Borowski hinüber. »Was auch immer unser gemeinsamer Kollege gesagt hat, die Worte waren die meinen, er hat sie nur ausgesprochen. Ihr Name ist auf dem Victoria Peak kein einziges Mal erwähnt worden, und beim Verhör Ihres Mannes waren auch keine Taiwanesen zugegen. Ich habe ihn das sagen lassen, weil diese Worte für Sie eine gewisse Bedeutung haben. Was Ihren Namen betrifft, so kennen den nur einige wenige - er steht in der Akte, die ich erwähnt habe, einer Akte, die in meinem Büro in Hongkong im Safe liegt. Sie trägt die Aufschrift >Geheimhaltungsstufe einsc. Es gibt nur eine Kopie dieser Akte, und die liegt in einem Safe in Washington und kann nur von mir freigegeben oder vernichtet werden. Wenn aber das Unerwartete eintreten sollte, sagen wir ein Flugzeugabsturz oder sagen wir, daß ich verschwinde - oder umgebracht werde -, dann würde diese Akte dem Nationalen Sicherheitsrat übergeben werden. Die Information in dieser Akte könnte sich, wenn sie in die falschen Hände gerät, für den ganzen Pazifikraum als katastrophal erweisen.«

»Ich muß wirklich sagen, daß mich Ihre offene, wenn auch unvollständige Information fasziniert, Edward.«

»Treffen Sie sich mit mir, Sheng. Und bringen Sie Geld mit, viel Geld - amerikanisches Geld. Unser Bundesgenosse sagt mir, daß es in Guangdong Hügel gibt, wo Ihre Leute sich mit ihm getroffen hätten. Treffen Sie sich morgen dort mit mir, zwischen zehn Uhr und Mitternacht.«

»Ich muß protestieren, mein Freund auf der Gegenseite. Sie haben mir keinen Ansporn geliefert.«

»Ich kann beide Exemplare jener Akte vernichten. Man hat mich hierher geschickt, um einer Geschichte nachzugehen, die ihren Ursprung in Taiwan hat, einer Geschichte, die für unser aller Interesse so schädlich ist, daß schon die leiseste Andeutung zu einer Folge von Ereignissen führen könnte, die allen Angst und Schrecken einjagt. Ich glaube, daß an der Geschichte etliches dran ist, und wenn ich mich nicht täusche, dann kann man sie direkt zu meinem alten Gegenspieler während der chinesisch-amerikanischen Konferenz zurückverfolgen. Ohne ihn wäre so etwas nicht möglich gewesen ... Dies ist mein letzter Auftrag, Sheng, und ein paar Worte von mir können diese Akte für immer verschwinden lassen. Ich gelange einfach zu dem Schluß, daß die Information völlig falsch ist, ein gefährliches Hetzmanöver, das Ihre Feinde in Taiwan sich ausgedacht haben. Die wenigen, die davon wissen, wollen genau das glauben, darauf gebe ich Ihnen mein Wort. Wenn ich auch nur ein Wort sage, wandert die Akte in den Reißwolf. Und ebenso die Kopie in Washington.«

»Sie haben mir immer noch nicht gesagt, warum ich Ihnen überhaupt zuhöre!«

»Der Sohn eines Taipan der Kuomintang müßte das wissen. Der Anführer einer Verschwörung in Beijing müßte es wissen. Ein Mann, der schon morgen früh in Ungnade fallen und geköpft werden könnte, wüßte es ganz bestimmt.«

Diesmal war die Pause lang, und die Atemzüge, die über die Leitung kamen, klangen unregelmäßig. Schließlich sprach Sheng.

»Die Hügel in Guangdong. Er weiß wo.«

»Nur ein Helikopter«, sagte McAllister. »Sie und der Pilot, sonst niemand.«

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