Der schwarze Kaffee half Conklin dabei, nüchtern zu werden, war aber bei weitem nicht so wirkungsvoll wie Davids Vertrauen zu ihm. Der ehemalige Jason Borowski respektierte die Talente seines gefährlichsten Feindes von früher und ließ ihn das auch merken. Sie redeten bis vier Uhr früh und arbeiteten in der Zeit aus den verschwommenen Umrissen einer Strategie Einzelheiten heraus, die auf der Realität beruhten, aber viel weiter gingen. Und in dem Maße, wie die Wirkung des Alkohols nachließ, arbeitete Conklin immer besser. Was David nur vage formuliert hatte, konkretisierte er. Er erkannte jetzt, daß Webbs Überlegungen im Prinzip berechtigt waren, fand auch die Worte dafür.
»Zunächst beschreibst du die Krisensituation, die auf der Tatsache von Maries Entführung beruht. Und dann läßt du eine Lüge als Versuchsballon los. Aber du hast recht, der Ballon muß blitzschnell hochgehen, wir müssen sie hart und rasch erwischen und dürfen sie keinen Augenblick in Ruhe lassen.«
»Versuch's als erstes mit der ganzen Wahrheit«, unterbrach ihn Webb. »Ich bin hier eingebrochen und habe gedroht, dich umzubringen. Ich habe Anklagen erhoben, die auf allem beruhten, was wirklich geschehen ist - angefangen bei McAllisters Drehbuch bis zu Babcocks Erklärung, daß sie ein Exekutionskommando nach mir ausschicken würden ... bis zu dieser britisch klingenden Stimme wie trockenes Eis, die mir sagte, ich solle Medusa vergessen, sonst würden sie behaupten, ich sei geistesgestört, und mich in eine Anstalt stecken. Nichts davon läßt sich abstreiten. Es ist so geschehen, und ich drohe, alles - auch Medusa - auffliegen zu lassen.«
»Und dann steigt die Lüge, damit das miese Stück abgesetzt wird«, sagte Conklin und schenkte sich Kaffee nach. »Und zwar eine so unerhörte Lüge, daß sie schon fast wieder wahr sein könnte.«
»Was, zum Beispiel?«
»Das weiß ich noch nicht. Das müssen wir uns überlegen. Es muß etwas völlig Unerwartetes sein, etwas, das die Strategen aus dem Gleichgewicht bringt, wer auch immer sie sind - weil mir nämlich mein Instinkt sagt, daß sie die Situation nicht mehr in der Hand haben. Wenn ich recht habe, wird einer von ihnen Kontakt aufnehmen müssen.«
»Dann hol jetzt deine Notizbücher heraus«, drängte David. »Dort findest du ganz bestimmt fünf oder sechs Leute, die dafür in Frage kommen.«
»Das könnte Stunden, ja sogar Tage in Anspruch nehmen«, wandte der CIA-Beamte ein. »Die haben ihre Barrikaden errichtet, und ich müßte mich zuerst um sie herumarbeiten. Soviel Zeit haben wir nicht - du hast nicht soviel Zeit.«
»Die müssen wir einfach haben! Du mußt anfangen.«
»Es gibt eine bessere Methode«, widersprach Alex. »Panov hat sie dir geliefert.«
»Mo?«
»Ja. Die Akten im Außenministerium, die offiziellen Aufzeichnungen.«
»Die Akten ...?« Webb hatte das einen Augenblick lang vergessen gehabt, nicht aber Conklin. »In welcher Hinsicht?«
»Dort haben sie angefangen, diese neue Akte über dich aufzubauen. Ich mache mich inzwischen an die Sicherheitsabteilung heran und tische denen eine andere Version auf, zumindest eine Version, die erfordert, daß irgend jemand Antworten liefert - wenn ich recht habe, wenn das mit dem Versuchsballon klappt. Diese Akten sind nur ein Mittel zum Zweck; die Sicherheitsbeamten, die dafür zuständig sind, werden Raketen hochgehen lassen, wenn sie meinen, daß sich jemand daran zu schaffen gemacht hat. Die werden unsere Arbeit für uns tun ... Aber erst brauchen wir die Lüge.«
»Alex«, sagte David und beugte sich im Sessel weit nach vorne, »vor ein paar Augenblicken hast du etwas von absetzen gesagt -«
»Ich habe nur gemeint, daß wir ihnen das Handwerk legen müssen.«
»Das weiß ich, aber wie wäre es, wenn wir es hier in einem anderen Sinn verwenden würden? Die sagen doch immer, ich sei pathologisch schizophren - das bedeutet doch, daß ich phantasiere, manchmal die Wahrheit sage und manchmal nicht, und daß ich das eine nicht vom anderen unterscheiden kann.«
»Ja, das sagen die«, räumte Conklin ein. »Einige von denen glauben es vielleicht sogar. Und?«
»Warum machen wir uns diese Ansicht dann nicht zunutze? Wir sagen denen, daß Marie sich abgesetzt hat. Sie hat mit mir Verbindung aufgenommen, und ich bin zu ihr unterwegs.«
Alex runzelte die Stirn, dann machte er große Augen, und die Runzeln auf seiner Stirn glätteten sich. »Das ist perfekt«, sagte er leise. »Mein Gott, wirklich perfekt! Die Verwirrung wird sich ausbreiten wie ein Buschfeuer. Bei einer Operation wie dieser kennen nur zwei oder drei Männer sämtliche Einzelheiten. Die anderen sind nicht in alles eingeweiht. Herrgott, kannst du dir das vorstellen? Eine amtlich sanktionierte Entführung! Ein paar Leute im innersten Zirkel könnten tatsächlich in Panik geraten und übereinander herfallen, weil sie an nichts anderes denken, als ihre Ärsche zu retten. Sehr gut, Mr. Borowski.«
Eigenartigerweise störte Webb die Anrede überhaupt nicht, er akzeptierte sie einfach, ohne nachzudenken. »Hör zu«, sagte er und stand auf, »wir sind beide erschöpft. Wir wissen jetzt, was wir wollen, also sollten wir ein paar Stunden schlafen und am Morgen noch einmal alles durchgehen. Wir beide haben schließlich schon vor Jahren gelernt, wie wichtig wenigstens ein paar Stunden Schlaf sind.«
»Gehst du ins Hotel zurück?« fragte Conklin.
»Auf keinen Fall«, erwiderte David und sah den müde wirkenden CIA-Mann an. »Bring mir einfach eine Decke. Ich schlafe hier, vor der Bar.«
»Du hättest auch lernen sollen, wann man sich um manche Dinge keine Sorgen zu machen braucht«, sagte Alex. Er stand auf und humpelte zu einem Schrank in der Nähe der kleinen Diele. »Wenn das meine letzte Schlacht sein soll - so oder so -, dann werde ich sie mit ganzer Kraft durchfechten. Vielleicht bringt das sogar etwas Ordnung in mein Leben.« Conklin drehte sich um. Er hatte jetzt eine Decke und ein Kopfkissen in der Hand, die er aus dem Schrank geholt hatte. »Man könnte das vielleicht eine Art Vorahnung nennen. Aber weißt du, was ich gestern abend nach der Arbeit gemacht habe?«
»Natürlich. Schließlich gibt es neben einigen anderen Hinweisen ein zerbrochenes Glas auf dem Boden.«
»Nein, ich meine vorher.«
»Was?«
»Ich war im Supermarkt und hab tonnenweise Lebensmittel gekauft. Steaks, Eier, Milch - sogar den Pamps, den die Hafermehl nennen. Ich meine, das tu ich sonst nie.«
»Du hast eben tonnenweise Lebensmittel gebraucht. Das kommt manchmal vor.«
»Dann gehe ich in ein Restaurant.«
»Worauf willst du hinaus?«
»Leg du dich schlafen; die Couch ist groß genug. Ich mache mir etwas zu essen. Ich möchte noch nachdenken. Ich brate mir ein Steak und vielleicht ein paar Eier.«
»Du brauchst Schlaf.«
»Zwei, zweieinhalb Stunden reichen. Und dann esse ich etwas von dem verdammten Hafermehl.«
Alexander Conklin ging durch den Korridor im dritten Stock des Außenministeriums. Er war bemüht, sein Humpeln zu unterdrücken, was es nur um so schmerzhafter machte. Er wußte, was mit ihm vorging: Da war eine Aufgabe, die ihm gestellt war und die er gut erledigen wollte - sogar brillant, falls dieser Begriff für ihn noch irgendeine Bedeutung hatte. Alex war zwar bewußt, daß er die monatelange Vergiftung seines Körpers und seines Blutes nicht in wenigen Stunden ungeschehen machen konnte, aber dafür war etwas in ihm, das er zu Hilfe rufen konnte, und dieses Etwas war seine ganz besondere Kompetenz, in die sich rechtschaffener Zorn mischte. Herrgott, was für eine Ironie! Vor einem Jahr hatte er den Mann zerstören wollen, den sie Jason Borowski nannten; und jetzt war er plötzlich wie besessen davon, David Webb zu helfen - weil es unrecht gewesen war, Jason Borowski umbringen zu wollen. Das konnte bedeuten, daß er dabei selbst in Todesgefahr geriet, auf die Abschußliste, das war ihm klar. Aber dieses Risiko ging er aus freien Stücken ein. Vielleicht erzeugte das Gewissen nicht immer nur Feiglinge. Manchmal führte es dazu, daß ein Mann sich wohler in seiner Haut fühlte.
Und besser aussah, überlegte er. Er hatte sich dazu gezwungen, eine größere Strecke zu Fuß zu gehen, als seinem Fuß guttat, und so hatte der kalte Herbstwind, der durch die Straßen wehte, seinem Gesicht eine Farbe verliehen, die es seit Jahren nicht mehr gekannt hatte. Frisch rasiert und in einem gebügelten Nadelstreifenanzug, den er schon monatelang nicht mehr getragen hatte, hatte er nur noch wenig Ähnlichkeit mit dem Mann, den Webb letzte Nacht vorgefunden hatte. Alles andere hing von seiner Leistung ab, auch das wußte er, während er jetzt auf die geheiligte Doppeltür zum Büro des Leiters der Inneren Sicherheit im Außenministerium zuging.
Mit Formalitäten wurde wenig Zeit vergeudet und noch weniger mit formloser Konversation. Auf Conklins Bitte - also auf Ersuchen der CIA - mußte ein Adjutant den Raum verlassen, und dann sah er sich dem ehemaligen Brigadegeneral aus der Abteilung G-2 der Army gegenüber, der jetzt für die Innere Sicherheit des Außenministeriums zuständig war. Alex hatte sich vorgenommen, mit seinen ersten Worten klarzustellen, wer hier das Sagen hatte.
»Ich bin nicht in diplomatischer Mission von Behörde zu Behörde hier, Herr General - General ist doch richtig?«
»So werde ich immer noch angeredet, ja.«
»Ich scher mich also nicht die Bohne um diplomatische Ausdrucksweise, verstehen Sie?«
»Sie fangen an, mir nicht besonders sympathisch zu sein, das verstehe ich.«
»Das«, sagte Conklin betont, »ist meine geringste Sorge. Meine Sorge gilt einem Mann namens David Webb.«
»Was ist mit ihm?«
»Sie scheinen zu wissen, wen ich meine. Das ist nicht besonders tröstlich. Was geht hier vor, Herr General?«
»Wollen Sie ein Megaphon, Sie Spion?« brauste der ehemalige Soldat auf.
»Antworten will ich, Sie Feldwebel - mehr sind Sie und Ihr Laden für uns nicht.«
»Jetzt mal langsam, Conklin! Als Sie mich wegen dieses sogenannten Notfalls und mit Verifizierung durch Ihre Zentrale anriefen, hab ich mir noch was verifizieren lassen. Dieser sagenhafte Ruf, den Sie genießen, ist heutzutage ziemlich wacklig, und ich weiß, warum ich wacklig sage. Sie sind ein Säufer, Sie Spion, und daraus macht keiner ein Geheimnis. Sie haben also jetzt eine Minute Zeit, das zu sagen, wis Sie sagen wollen, und dann werfe ich Sie hinaus. Sie können es sich aussuchen - Aufzug oder Fenster.«
Alex hatte damit gerechnet, daß die Zentrale seine Trinkerei erwähnen würde. Er starrte den Leiter der Inneren Sicherheit an und sagte mit fester, fast freundlicher Stimme: »Herr General, ich werde mit einem Satz auf diesen Vorwurf antworten, und wenn das, was ich sage, je an ein anderes Ohr dringt, werde ich wissen, woher es kommt, und die CIA wird es auch wissen.« Conklin machte eine Pause und sah den anderen mit durchdringendem Blick an. »Unser Profil ist genauso, wie wir es haben wollen, und zwar aus Gründen, über die wir nicht sprechen können. Ich bin sicher, Sie verstehen, was ich damit meine.«
Im Blick des Generals war jetzt eine Andeutung von Mitgefühl zu lesen, wenn auch wider Willen. »Du liebe Güte«, sagte er leise. »Wir haben früher Leuten, die wir nach Berlin schickten, auch ehrenrührige Geschichten angehängt.«
»Häufig auf unsere Empfehlung«, nickte Conklin. »Und mehr wollen wir über das Thema nicht sagen.«
»Okay, okay. Ich muß mich entschuldigen, aber ich kann Ihnen sagen, daß das mit Ihrem Profil bestens klappt. Einer Ihrer Direktoren hat mir gesagt, ich würde wahrscheinlich schon bewußtlos werden, wenn Sie das erstemal ausatmen.«
»Ich will nicht einmal wissen, wer es war, sonst lache ich ihm noch ins Gesicht. Tatsächlich trinke ich nicht.«
Alex hätte am liebsten wie als Kind bei dieser Lüge die Finger oder die Beine gekreuzt, ohne daß man das sehen konnte, aber im Augenblick ging das nicht. »Wenden wir uns wieder David Webb zu«, sagte er scharf und fast unfreundlich.
»Was juckt Sie denn?«
»Was mich juckt? Es geht hier um mein gottverdammtes Leben, Soldat. Irgend etwas ist hier im Gange, und ich möchte wissen, was! Dieser Scheißkerl ist gestern bei mir eingebrochen und hat gedroht, mich umzubringen. Er hat sich ganz schön aufgeblasen und ein paar happige Anklagen gegen Männer aus Ihrer Abteilung, wie Henry Babcock, Samuel Teasdale und William Lanier vorgebracht. Wir haben das überprüft - die sind in Ihrer Geheimabteilung beschäftigt. Was, zum Teufel, haben diese Burschen gemacht? Einer hat ihm gegenüber eindeutig erklärt, daß Sie ein Exekutionskommando schicken! Was für eine Sprache ist das! Ein anderer hat ihm gesagt, er gehöre wieder ins Krankenhaus - er ist in zwei Krankenhäusern und in unserer Privatklinik in Virginia gewesen - wir alle haben ihn dort hingeschafft -, und die haben erklärt, er sei gesund! Außerdem hat er ein paar Geheimnisse im Kopf, von denen keiner von uns will, daß sie an die Öffentlichkeit gelangen. Aber dieser Mann steht kurz vor der Explosion wegen irgend etwas, was ihr Idioten gemacht habt oder zugelassen habt oder in eurer beschissenen Blödheit nicht wahrhaben wolltet! Er behauptet, Beweise dafür zu haben, daß ihr euch wieder in sein Leben eingemischt und es durcheinandergebracht hättet. Daß ihr ihm eine Falle gestellt und ihm mehr als nur ein Pfund Fleisch weggenommen hättet!«
»Was für Beweise?« fragte der General verblüfft.
»Er hat mit seiner Frau gesprochen«, sagte Conklin, und seine Stimme wurde plötzlich monoton.
»Und?«
»Zwei Männer haben sie aus ihrem Haus weggeholt, sie unter Drogen gesetzt und in einen Privatjet verfrachtet. Man hat sie zur Westküste geflogen.«
»Sie meinen, man hat sie entführt?«
»Sie haben's erfaßt. Und was Ihnen jetzt wahrscheinlich im Hals steckenbleiben wird, ist, daß sie zugehört hat, wie die beiden mit dem Piloten redeten. Sie hat dabei herausbekommen, daß die ganze schmutzige Geschichte etwas mit dem Außenministerium zu tun hat - Gründe hat sie nicht erfahren, aber der Name McAllister ist erwähnt worden. Zu Ihrer Information, das ist einer Ihrer Staatssekretäre aus der FernostAbteilung.«
»Das ist doch verrückt!«
»Ich will Ihnen etwas anderes sagen, und dann können Sie wieder sagen, daß es verrückt ist. Sie konnte in San Francisco, als die Maschine aufgetankt wurde, weglaufen, und hat Webb in Maine angerufen. Er ist unterwegs, um sich mit ihr zu treffen -keine Ahnung, wo, aber ich gebe Ihnen den guten Rat, daß Sie sich um ein paar vernünftige Antworten kümmern, es sei denn, Sie könnten beweisen, daß er wirklich geisteskrank ist und seine Frau umgebracht hat - und ich kann nur hoffen, daß Sie solche Beweise finden - und daß überhaupt keine Entführung stattgefunden hat - und auch das hoffe ich von ganzem Herzen.«
»Aber er ist doch unzurechnungsfähig!« schrie der Leiter der Inneren Sicherheit. »Ich habe die Akten gelesen! Das mußte ich- jemand hat gestern abend wegen diesem Webb angerufen. Fragen Sie mich nicht, wer es war, ich darf es Ihnen nicht sagen.«
»Was, zum Teufel, geht hier vor?« fragte Conklin und lehnte sich über den Schreibtisch, wobei er sich mit den Händen auf der Tischplatte aufstützte, sowohl um die Wirkung zu verstärken, als auch um sich zu stützen.
»Weil er paranoid ist, was soll ch dazu sagen? Er erfindet solche Dinge und glaubt sie dann!«
»Die Amtsärzte sind zu einem anderen Befund gelangt«, sagte Conklin mit eisiger Stimme. »Zufälligerweise ist mir darüber einiges bekannt.«
»Mir nicht, verdammt!«
»Sie werden wahrscheinlich auch nie etwas Näheres erfahren«, nickte Alex. »Aber als ehemaliges Mitglied der Operation Treadstone können Sie mit jemandem Verbindung aufnehmen, der mich beruhigen könnte. Jemand in diesem Ministerium hat da etwas ins Rollen gebracht, was wir lieber vergessen wollten.« Conklin holte ein kleines Notizbuch und einen Kugelschreiber heraus; er schrieb eine Nummer auf, riß das Blatt heraus und legte es auf den Schreibtisch. »Dieses Telefon ist abhörsicher; wenn Sie nachfragen lassen, bekommen Sie nur eine falsche Adresse«, fuhr er fort. Seine Augen waren jetzt hart und seine Stimme fest, und das leichte Zittern in ihr wirkte eher drohend. »Sie können die Nummer heute nachmittag zwischen drei und vier anrufen, sonst nicht. Sorgen Sie dafür, daß mich dann jemand anruft. Wer das ist oder wie Sie das anstellen, ist mir egal. Vielleicht müssen Sie eine Ihrer grandiosen Strategiekonferenzen einberufen, aber jedenfalls will ich Antworten hören - wir wollen Antworten hören!«
»Sie wissen ganz genau, daß das Ganze sich als Hirngespinst erweisen könnte!«
»Hoffentlich tut es das. Aber wenn nicht, dann kriegt ihr Wind um die Ohren - jede Menge Wind -, weil Sie sich nämlich auf ein Gebiet vorgewagt haben, wo Betreten verboten ist.«
David war froh, daß es so viel zu erledigen gab, denn ohne die Beschäftigung hätte es sein können, daß er in den Abgrund stürzte und daß ihn der Druck lahmte, gleichzeitig zu viel und zu wenig zu wissen. Nachdem Conklin nach Langley abgefahren war, war er ins Hotel zurückgekehrt und hatte angefangen, eine Liste zu machen. Listen beruhigten ihn; sie waren für ihn das Vorspiel zu notwendigen Aktivitäten, und zwangen ihn, sich auf bestimmte Dinge zu konzentrieren und nicht auf die Gründe, die ihn dazu veranlaßten, sich mit diesen Dingen zu beschäftigen. Wenn er anfing, über diese Gründe nachzugrübeln, so würde das seinen Verstand ebenso verkrüppeln wie eine Landmine Conklins rechten Fuß verkrüppelt hatte. Er konnte auch nicht über Alex nachdenken - da gab es zu viele Möglichkeiten und Unmöglichkeiten. Ebensowenig konnte er seinen ehemaligen Feind anrufen. Conklin war gründlich; er war der beste Mann, den es in seinem Fach gab. Er hatte mit ihm jeden einzelnen Schritt durchgesprochen und ihm die Reaktionen geschildert, die daraus erwachsen würden, und seine allererste Erkenntnis war gewesen, daß wenige Minuten nach seinem Anruf beim Leiter der Inneren Sicherheit des State Department andere Telefonate folgen würden, und daß dann mit absoluter Sicherheit zwei Telefone angezapft werden würden. Seine Telefone, in seiner Wohnung und in Langley. Deshalb hatte er nicht vor, in sein Büro zurückzukehren. Er wollte sich mit David am Flughafen treffen, kurz vor Webbs Abflug nach Hongkong.
»Du denkst, daß dir niemand hierher gefolgt ist?« hatte er zu Webb gesagt. »Ich bin mir dessen nicht so sicher. Die programmieren dich, und wenn jemand einen Knopf auf einer Tastatur drückt, läßt er die konstante Nummer nicht aus den Augen.«
»Würdest du bitte englisch mit mir sprechen? Oder Mandarin? Dann verstehe ich nämlich, was du meinst.«
»Die könnten ein Mikrofon unter deinem Bett haben.«
Also würde es keinen Kontakt zwischen ihnen geben, bis sie sich in der Bar am Dulles Airport treffen würden, und deshalb stand David jetzt vor einer Kasse in einem Lederwarengeschäft an der Wyoming Avenue. Er war dabei, sich eine große Flugtasche zu kaufen, die an die Stelle seines Koffers treten sollte; er hatte den größten Teil seiner Kleidung ausgemustert. Viele Dinge - Vorsichtsmaßregeln - wurden ihm jetzt wieder bewußt, darunter auch das unnötige Risiko, das im Warten in der Gepäckausgabe eines Flughafens bestand, und da er vorhatte, in der Touristenklasse zu reisen, weil sie anonymer war, würde man ihm wahrscheinlich nicht gestatten, den Koffer mit in die Kabine zu nehmen. Er würde sich das, was er brauchte, unterwegs kaufen, und das bedeutete, daß er sich mit viel Geld auf eine Vielzahl von Eventualitäten vorbereiten mußte. Und daraus ergab sich die nächste Station, eine Bank an der 14. Straße.
Vor einem Jahr, als die Spürhunde der Regierung die Überreste seines Erinnerungsvermögens durchforschten, hatte Marie in aller Stille, aber schnell, Davids Konto bei der Gemeinschaftsbank in Zürich aufgelöst und auch die Beträge eingezogen, die er als Jason Borowski nach Paris überwiesen hatte. Sie hatte das Geld telegraphisch auf die Cayman Islands überwiesen, wo sie einen kanadischen Bankier kannte, und hatte ein Geheimkonto eingerichtet. In Anbetracht dessen, was Washington ihrem Mann angetan hatte - sein gestörtes Bewußtsein, die körperlichen Leiden, der Mordversuch an ihm, weil Hilferufe überhört worden waren -, kam die Regierung dabei noch billig weg. Wenn David sich dazu entschlossen hätte, gegen die Regierung zu prozessieren, und die Chancen dafür hätten durchaus nicht schlecht gestanden, hätte jeder üchtige Anwalt vor Gericht Schadenersatz von mindestens zehn Millionen verlangt, und nicht nur reichliche fünf.
Sie hatte im Gespräch mit einem äußerst nervösen Direktor der CIA laut über mögliche gerichtliche Maßnahmen spekuliert.
Ihr einziger Hinweis auf die fehlenden Gelder bestand darin, daß sie meinte, angesichts ihrer Fachkenntnisse auf wirtschaftlichem Gebiet sei sie erschüttert darüber, wie leichtsinnig doch mit den hartverdienten Dollars der amerikanischen Steuerzahler umgegangen werde. Sie hatte diese Kritik mit schockierter, wenn auch sanfter Miene vorgebracht, aber ihre Augen sagten dabei etwas anderes. Diese Dame war eine Tigerin - und dazu hochintelligent und höchst motiviert -, und die Botschaft erreichte den Empfänger. Und so kam es, daß erfahrene, vorsichtige Männer die Angelegenheit auf sich beruhen ließen. Die an Jason Borowski geflossenen Gelder wurden im Geheimetat versteckt.
Jedesmal, wenn sie Geld brauchten - eine Reise, ein Wagen, das Haus - riefen Marie oder David ihren Bankier auf den Cayman-Inseln an, und der überwies das Geld dann telegrafisch auf irgendeine Verbindungsbank in Europa, den Vereinigten Staaten, den Pazifischen Inseln oder dem Fernen Osten. Webb führte aus einer Telefonzelle an der Wyoming-Avenue ein R-Gespräch und verblüffte seinen Bankier mit dem Betrag, den er sofort brauchte, und dem weiteren, den er nach Hongkong dirigierte. Das R-Gespräch kostete keine acht Dollar, der Betrag, den er anforderte, belief sich auf eine halbe Million.
»Ich nehme an, meine liebe Freundin, die kluge, hinreißende Marie, ist einverstanden, David?«
»Sie hat mir aufgetragen, Sie anzurufen. Sie hat gesagt, sie könne sich nicht um jede Kleinigkeit kümmern.«
»Das paßt zu ihr! Gehen Sie zu folgenden Banken ...«
Webb trat durch die dicken Glastüren der Bank an der 14. Straße, verbrachte zwanzig lästige Minuten mit einem Vizepräsidenten, der sich zu große Mühe gab, in diesen zwanzig Minuten freundschaftliche Gefühle für ihn zu entwickeln, und ging dann mit fünfzigtausend Dollar hinaus, vierzig in Fünfhunderterscheinen, der Rest gemischt.
Dann rief er ein Taxi und ließ sich zu einer Wohnung im Nordwesten der Stadt fahren, wo ein Mann lebte, den er in seinen Tagen als Jason Borowski gekannt hatte, ein Mann, der für die Operation Treadstone 71 Sonderaufträge erledigt hatte. Es handelte sich um einen Neger mit silbergrauem Haar, der so lange Taxifahrer gewesen war, bis eines Tages ein Fahrgast eine Hasselblad-Kamera im Wagen vergessen und sie nie zurückverlangt hatte. Das lag Jahre zurück, und der Taxifahrer hatte in diesen Jahren unzählige Experimente mit der Kamera angestellt und schließlich seinen wahren Beruf gefunden. Um es ganz einfach auszudrücken, er war so etwas wie ein Genie der >Änderung< - wobei seine Spezialität Fotos für Pässe und Führerscheine und sonstige Ausweispapiere für Leute waren, die mit dem Gesetz in Konflikt geraten waren. David hatte sich nicht an den Mann erinnert, hatte aber unter Panovs Hypnose den Namen erwähnt - der Mann trug den unwahrscheinlichen Namen Cactus -, und Mo hatte den Fotografen nach Virginia geholt, damit er mithelfe, einen Teil von Webbs Erinnerungsvermögen in Gang zu setzen. In den Augen des alten Negers war viel Wärme und Mitgefühl gewesen, und am Ende der Sitzung hatte er Panov gebeten, David einmal die Woche besuchen zu dürfen, obwohl das für ihn sehr umständlich war.
»Warum, Cactus?«
»Weil man ihn so gequält hat, Sir. Ich hab das schon vor ein paar Jahren durch das Objektiv gesehen. Irgend etwas fehlt in ihm, aber trotzdem ist er ein guter Mensch. Ich kann mit ihm reden. Ich mag ihn, Sir.«
»Sie können kommen, wann Sie wollen, Cactus. Und hören Sie bitte mit diesem unsinnigen >Sir< auf. Das ist eine Ehre, die ich Ihnen antun möchte ... Sir.«
»Ach, wie die Zeiten sich ändern. Wenn ich einen meiner Enkel einen guten Nigger nenne, dann würde er mir am liebsten den Schädel einschlagen.«
»Das sollte er auch ... Sir.«
Webb verließ das Taxi und bat den Fahrer, auf ihn zu warten, was dieser aber ablehnte. David gab ihm kein Trinkgeld und ging den mit Natursteinplatten belegten Weg zu dem alten Haus. In mancher Hinsicht erinnerte es ihn an das Haus in Maine - zu groß und an zu vielen Stellen reparaturbedürftig. Er und Marie hatten beschlossen, nach einem Jahr ein Haus am Strand zu kaufen. Für einen erst vor kurzer Zeit berufenen Dozenten ziemte es sich nicht, gleich bei der Ankunft ein solches Haus zu kaufen. Er klingelte.
Die Tür öffnete sich, und Cactus, der einen grünen Augenschutz trug, unter dem er hervorblinzelte, begrüßte ihn ebenso beiläufig, als hätten sie einander erst vor wenigen Tagen gesehen.
»Haben Sie Radkappen an Ihrem Wagen, David?«
»Ich habe keinen Wagen und auch kein Taxi; der Fahrer wollte nicht warten.«
»Der hat wahrscheinlich all die grundlosen Gerüchte gehört, die von der faschistischen Presse in Umlauf gesetzt werden. Dabei habe ich drei Maschinengewehre hinter den Fenstern. Kommen Sie, kommen Sie rein, Sie haben mir gefehlt. Warum haben Sie nicht mal angerufen?«
»Weil Ihre Nummer nicht im Telefonbuch steht, Cactus.«
»Muß ich vergessen haben.«
Sie plauderten ein paar Minuten in der Küche, dann begriff der Fotograf, daß Webb es eilig hatte. Der alte Mann führte David in sein Studio, legte Webbs drei Pässe unter eine Tischlampe, um sie genauer zu inspizieren, und wies dann seinen Kunden an, vor einer Kamera Platz zu nehmen.
»Wir werden das Haar aschblond machen, aber nicht so hell, wie es in der Zeit nach Paris war. Der aschblonde Ton verändert sich je nach Beleuchtung, und auf die Weise können wir dasselbe Bild verwenden - ohne das Gesicht zu verändern. Und an den Augenbrauen brauchen wir auch nichts zu machen, das erledige ich hier mit dem Retuschestift.«
»Und was machen wir mit den Augen?« fragte David.
»Für Kontaktlinsen haben wir diesmal keine Zeit, aber das kriegen wir schon hin. Dafür gibt es auch Brillen - Sie können blaue Augen kriegen oder braune oder schwarz wie die spanische Armada, wenn Sie wollen.«
»Am besten alle drei«, sagte Webb.
»Die sind teuer, David, und es gibt sie nur gegen Bargeld.«
»Das habe ich.«
»Dann sagen Sie es nur nicht weiter.«
»So, und jetzt das Haar. Wer?«
»Hier in der Straße. Meine Teilhaberin. Früher hatte sie einen eigenen Kosmetiksalon, bis die Bullen sich einmal die Zimmer im Obergeschoß angesehen haben. Sie macht gute Arbeit. Kommen Sie, ich bring Sie zu ihr.« Eine Stunde später schlüpfte Webb unter der Trockenhaube hervor und musterte sich in dem großen Spiegel. Die Kosmetikerin, eine kleine Negerin mit gepflegtem grauem Haar und geübtem Blick, stand neben ihm.
»Sie sind es, und doch sind Sie es nicht«, sagte sie und nickte zuerst und schüttelte dann den Kopf. »Gute Arbeit, das muß ich wirklich sagen.«
Das stimmte, dachte David nach einem Blick auf sein neues Ebenbild. Sein dunkles Haar war nicht nur viel, viel heller geworden, sondern paßte auch zur Hautfarbe seines Gesichts. Außerdem wirkte das Haar irgendwie lockerer, gepflegt und doch leger - eine Windstoßfrisur, hätte man dazu wohl früher gesagt. Der Mann, den er im Spiegel musterte, war zwar er und doch auch jemand anderer, der ihm verblüffend ähnelte - aber nicht er selbst.
»Ich muß Ihnen zustimmen«, sagte Webb. »Sehr gut. Was schulde ich Ihnen?«
»Dreihundert Dollar«, erwiderte die Frau. »Inklusive fünf Päckchen Spezialspülung mit Gebrauchsanweisung und die verschlossensten Lippen von ganz Washington. Das Waschpulver sollte zwei Monate halten, die Lippen den Rest Ihres Lebens.«
»Sie sind ein Schatz.« David griff nach seiner ledernen Geldspange, zählte die Scheine ab und gab sie ihr. »Cactus hat gesagt, Sie würden ihn anrufen, wenn wir fertig sind.«
»Nicht nötig; der ist schon hier. Er wartet im Salon.«
»Dem Salon?«
»Oh, eigentlich ist es ein Gang mit einer Couch und einer Stehlampe, aber ich nenne es so gerne einen Salon. Klingt doch nett, oder?«
Die Fotositzung war schnell beendet, obwohl Cactus sie ein paarmal unterbrach, um den Augenbrauen mit Hilfe einer Zahnbürste und von Spray eine andere Form zu geben und ihm Hemden und Jacketts zum Wechseln zu bringen - Cactus verfügte über eine Garderobe, die einem Kostümverleiher alle Ehre gemacht hätte -, und dann setzte er sich am Ende noch zwei verschiedene Brillen auf - eine Nickel- und eine Schildpattbrille -, die seine hellbraunen Augen für zwei der Pässe blau und dunkelbraun erscheinen ließen. Dann machte sich der Spezialist daran, die Fotos mit dem Geschick eines Chirurgen in die Pässe einzufügen und unter einem großen, starken Vergrößerungsglas mit einem selbst konstruierten Apparat die Lochstempel des Außenministeriums anzubringen. Als er fertig war, reichte er David die drei Pässe, damit dieser sie begutachten konnte.
»Den Typen vom Zoll möchte ich sehen, der da was merkt«, sagte Cactus zuversichtlich.
»Die sehen ja echter aus als vorher.«
»Ich hab sie frisiert, das heißt, ich hab ein paar Kniffe und Falten dazu gemacht und sie etwas gealtert.«
»Großartige Arbeit, alter Freund. Was bin ich Ihnen schuldig?«
»Ach, zum Teufel, das weiß ich nicht. War ja nur wenig zu tun, und das ganze Jahr hat mir schon so viel eingebracht, mit all den Schikanen -«
»Wie viel, Cactus?«
»Was wäre Ihnen denn recht? Ich stell mir vor, daß Uncle Sam diesmal die Rechnung nicht bezahlt.«
»Mir geht's recht gut, vielen Dank.«
»Fünfhundert?«
»Rufen Sie mir ein Taxi, ja?«
»Das dauert viel zu lang, falls Sie hier draußen überhaupt eines kriegen. Mein Enkel wartet auf Sie, er bringt Sie hin, wo Sie wollen. Er ist wie ich, er stellt keine Fragen. Und Sie haben es eilig, David, das spüre ich. Kommen Sie, ich bring Sie zur Tür.«
»Danke. Ich leg das Geld auf den Tisch.«
»Schon recht.«
Webb drehte Cactus den Rücken zu und zählte sechs Fünfhundert-Dollar-Noten ab, die er an der dunkelsten Stelle der Studiotheke ablegte. Für tausend Dollar das Stück waren die Pässe immer noch geschenkt, aber mit mehr Geld hätte er vielleicht seinen alten Freund beleidigt.
Er kehrte zum Hotel zurück und stieg ein paar Straßen davon entfernt aus, damit Cactus' Enkel ohne zu lügen sagen konnte, er kenne die Adresse nicht, falls er gefragt werden sollte. Der junge Mann war Student und bewunderte zwar seinen Großvater sehr, fühlte sich aber ganz offensichtlich nicht besonders wohl dabei, in die Aktivitäten des alten Mannes hineingezogen zu werden.
»Ich steige hier aus«, sagte David, als der Verkehr zum Stocken kam.
»Danke«, erwiderte der junge Neger mit angenehm ruhiger Stimme. Seine intelligent blickenden Augen ließen die Erleichterung erkennen, die er empfand. »Ich bin Ihnen sehr dankbar.«
Webb sah ihn an. »Warum haben Sie das gemacht? Ich meine, nachdem Sie einmal Rechtsanwalt werden wollen, könnte ich mir vorstellen, daß Ihre Antennen Überstunden machen, wenn Sie Cactus auch nur in die Nähe kommen.«
»Genauso ist es auch. Aber er ist ein feiner Kerl und hat schon sehr viel für mich getan. Und dann hat er noch etwas zu mir gesagt. Er sagte, es sei eine Ehre für mich, Sie kennenzulernen, und er werde mir in ein paar Jahren vielleicht einmal erzählen, wer der Fremde in meinem Wagen war.«
»Ich hoffe, ich werde sehr viel früher zurückkommen und es Ihnen selbst erzählen können. Eine Ehre ist das zwar nicht, aber es könnte dann eine Geschichte geben, die im Jurastudium behandelt wird. Wiedersehn.«
Als er wieder in seinem Hotelzimmer war, sah sich David einer letzten Liste gegenüber, die er nicht niederzuschreiben brauchte; diesmal wußte er alles auswendig. Er mußte die paar Kleidungsstücke aussuchen, die er in die Flugtasche packen würde, und den Rest seiner Besitztümer loswerden, darunter auch die zwei Waffen, die er in seinem Zorn aus Maine mitgebracht hatte. Es war eine Sache, eine Waffe auseinanderzunehmen, in Folie zu verpacken und sie in einen Koffer zu legen, eine völlig andere, Waffen durch eine Sicherheitskontrolle zu tragen. Sie würden auffallen - und dann würde man ihn festnehmen. Er mußte sie sauber wischen, die Zündnadeln und die Abzugsgehäuse vernichten und sie in einen Abflußschacht werfen. Er würde sich in Hongkong eine Waffe kaufen; das dürfte keine Schwierigkeiten bereiten.
Dann gab es noch eines zu erledigen, und das war schwierig und schmerzlich. Er mußte sich dazu zwingen, sich hinzusetzen und noch einmal alles zu durchdenken, was Edward McAllister an jenem Abend in Maine gesagt hatte - alles, was sie gesagt hatten, ganz besonders Maries Worte. Irgend etwas war in dieser Stunde der Enthüllungen und der Konfrontation verborgen, und David wußte, daß es ihm entgangen war - daß er es immer noch nicht erkannt hatte.
Er sah auf die Uhr. Es war 15.37 Uhr; der Tag verstrich schnell, viel zu schnell. Aber er mußte durchhalten! O Gott! Marie! Wo bist du?
Conklin stellte das Glas mit schal gewordenem Ginger Ale auf die zerkratzte, schmutzige Bar des heruntergekommenen Lokals an der 9. Straße. Er war hier Stammgast, aus dem einfachen Grund, daß niemand, mit dem er beruflich zu tun hatte - und private Freunde hatte er kaum noch -, je durch diese schmutzige Glastüre treten würde. Dieses Wissen vermittelte ihm eine gewisse Freiheit, und die anderen Gäste akzeptierten ihn, das >Hinkebein<, das stets in dem Augenblick, in dem er durch die Tür trat, die Krawatte abnahm und zu dem Spielautomaten am Ende der Bar humpelte. Und jedesmal erwartete ihn dort schon ein Glas voll Bourbon.
Außerdem machte es dem Barkeeper nichts aus, wenn Alex in der uralten Telefonzelle an der Wand Gespräche entgegennahm. Das war sein abhörsicheres Telefon, und jetzt klingelte es.
Conklin humpelte auf die Zelle zu, trat ein und zog die Tür hinter sich zu. Er nahm den Hörer ab. »Ja?« sagte er.
»Ist dort Treadstone?« fragte eine eigenartig klingende Männerstimme.
»Ich war dort. Sie auch?«
»Nein, ich nicht, aber ich habe Zugang zu der Akte, zu der ganzen Bescherung.«
Die Stimme! dachte Alex. Wie hatte Webb sie beschrieben? Britisch? Eine kultivierte Aussprache jedenfalls, alles andere als gewöhnlich. Es war derselbe Mann. Die Gartenzwerge hatten ihre Arbeit getan; sie hatten Fortschritte gemacht. Jemand hatte Angst.
»Dann bin ich sicher, daß das, woran Sie sich erinnern, mit allem übereinstimmt, was ich niedergeschrieben habe, denn ich war dort und habe es niedergeschrieben. Alles niedergeschrieben. Fakten, Namen, Ereignisse, Bestätigungen ... alles, auch die Geschichte, die Webb mir gestern nacht erzählt hat.«
»Dann kann ich davon ausgehen, daß diese voluminöse Reportage ihren Weg in einen Senatsunterausschuß oder zumindest zu einem Rudel von Wachhunden des Kongresses findet, falls etwas Häßliches passiert. Habe ich recht?«
»Freut mich, daß wir einander verstehen.«
»Es würde nichts nützen«, sagte der Mann herablassend.
»Falls etwas Häßliches passiert, könnte mir das ja egal sein, oder etwa nicht?«
»Sie werden sowieso bald pensioniert. Sie trinken sehr viel.«
»Das habe ich aber nicht immer. Für einen Mann meines Alters und meiner Kompetenz gibt es gewöhnlich Gründe für beides. Könnten diese Gründe vielleicht mit einer bestimmten Akte zu tun haben?«
»Vergessen Sie es. Wir wollen reden.«
»Nicht, solange Sie nicht etwas deutlicher geworden sind. Über Treadstone ist hier und dort gesprochen worden; der Name allein reicht mir nicht.«
»Also gut. Medusa.«
»Schon besser«, sagte Alex. »Aber das reicht auch noch nicht.«
»Also gut. Die Erschaffung von Jason Borowski. Der Mönch.«
»Jetzt wird's wärmer.«
»Verschwundene Gelder - nie abgerechnet und nie wieder aufgefunden - auf rund fünf Millionen Dollar geschätzt. Zürich, Paris und andere Orte.«
»Es hat Gerüchte gegeben. Sie müssen konkreter werden.«
»Also gut. Die Exekution von Jason Borowski. Das Datum war der dreiundzwanzigste Mai in Tarn Quan ... und derselbe Tag in New York vier Jahre später. An der Einundsiebzigsten Straße. Treadstone einundsiebzig.«
Conklin schloß die Augen und atmete tief durch. Er spürte den Kloß in seiner Kehle. »Also gut«, sagte er. »Jetzt haben Sie ins Schwarze getroffen.«
»Meinen Namen kann ich Ihnen nicht nennen.«
»Was können Sie mir sagen?«
»Zwei Worte: Finger weg.«
»Und Sie glauben, daß ich das akzeptieren werde?«
»Das müssen Sie«, sagte die Stimme klar und deutlich. »Man braucht Borowski dort, wo er hingeht.«
»Borowski?« Alex starrte das Telefon an.
»Ja, Jason Borowski. Man kann ihn nicht auf normalem Wege rekrutieren. Wir beide wissen das.«
»Also stehlt ihr ihm seine Frau? Ihr seid gottverfluchte
Bestien!«
»Es wird ihr kein Leid geschehen.«
»Das können Sie nicht garantieren! Sie können das doch gar nicht kontrollieren. Sie müssen jetzt schon über Dritte arbeiten, und wenn ich mich auf mein Geschäft verstehe - und das tue ich -, dann sind das wahrscheinlich bezahlte Strohmänner, damit man die Sache nicht zu Ihnen zurückverfolgen kann; Sie wissen nicht einmal, wer sie sind ... Mein Gott, wenn Sie das wüßten, hätten Sie mich nicht angerufen! Wenn Sie an sie herantreten könnten und sich von denen die Bestätigungen verschaffen könnten, die Sie haben wollen, würden Sie jetzt nicht mit mir sprechen!«
Die kultivierte Stimme hielt inne. »Dann haben wir beide gelogen, nicht wahr, Mr. Conklin? Die Frau ist also nicht geflohen und hat Webb auch nicht angerufen. Gar nichts davon ist wahr. Sie haben die Angel ausgeworfen und ich auch, und beide haben wir nichts gefangen.«
»Sie sind ein Barrakuda, Mr. Namenlos.«
»Sie kommen aus dem gleichen Metier wie ich, Mr. Conklin ... also, was können Sie mir sagen?«
Wieder spürte Alex den Kloß in seiner Kehle, nur daß jetzt noch ein stechender Schmerz in seiner Brust dazugekommen war. »Sie haben sie aus den Augen verloren, nicht wahr?« flüsterte er. »Sie haben die Frau verloren.«
»Achtundvierzig Stunden sind keine Ewigkeit«, sagte die Stimme vorsichtig.
»Aber Sie haben sich verdammte Mühe gegeben, den Kontakt herzustellen!« bohrte Conklin. »Sie haben Ihre Verbindungsleute angerufen, die Leute, die die Strohmänner angeheuert haben. Plötzlich sind sie nicht mehr da - Sie können sie nicht finden. Herrgott, Sie haben die Situation wirklich nicht mehr im Griff! Jemand hat sich in Ihre Strategie eingeschaltet. Sie haben keine Ahnung, wer das ist. Er hat in Ihrem Drehbuch mitgespielt und es Ihnen abgenommen!«
»Unsere Sicherheitsvorkehrungen gehen sehr weit«, wandte der Mann ein, aber ohne dieselbe Überzeugungskraft wie vorher. »Unsere besten Außenleute sind in sämtlichen Regionen tätig.«
»Und das schließt McAllister ein? In Kowloon? Hongkong?«
»Das wissen Sie?«
»Das weiß ich.«
»McAllister ist ein verfluchter Vollidiot, aber er versteht sich auf sein Geschäft. Ja, er ist dort. Wir sind nicht in Panik. Wir rappeln uns schon wieder -«
»Ach, Sie rappeln sich?« fragte Alex voll Zorn. »Und die Ware? Ihre Strategie ist geplatzt! Jemand anderes hat jetzt das Heft in der Hand. Warum sollte er Ihnen die Ware zurückgeben? Sie haben Webbs Frau getötet, Mr. Namenlos! Worauf, zum Teufel, haben Sie eigentlich gedacht, daß Sie sich da einlassen?«
»Wir wollten nur, daß er nach Hongkong geht«, erwiderte die Stimme defensiv. »Wir wollten ihm alles erklären und es ihm zeigen. Wir brauchen ihn.« Und dann wirkte der Mann plötzlich wieder ruhig. »Und nach allem, was uns bekannt ist, läuft auch noch alles richtig. In jenem Teil der Welt ist die Verbindung notorisch schlecht.«
»Das ist in diesem Geschäft eine uralte Ausrede.«
»In den meisten Geschäften, Mr. Conklin ... Was schließen Sie daraus? Jetzt bin ich derjenige, der die Fragen stellt, in aller Offenheit. Sie haben einen gewissen Ruf.«
»Den hatte ich mal, Namenlos.«
»Man kann einen Ruf nicht wegnehmen oder ihm widersprechen, man kann ihm nur etwas hinzufügen. Etwas Positives genauso wie etwas Negatives natürlich.«
»Sie sprudeln richtig vor Informationen über, das wissen Sie doch.«
»Aber recht habe ich auch. Es heißt, Sie seien einmal einer der Besten gewesen. Was lesen Sie aus all dem heraus?«
Alex schüttelte den Kopf in der engen Zelle. Die Luft fing an, stickig zu werden, der Lärm draußen vor seinem abhörsicherem Telefon in der heruntergekommenen Bar an der 9. Straße wurde lauter. »Was ich schon vorher gesagt habe, jemand hat entdeckt, was Sie mit Webb vorhatten - und beschlossen einzusteigen.«
»Warum, um Himmels willen?«
»Weil der Betreffende, wer auch immer er ist, Borowski noch dringender haben möchte als Sie«, sagte Alex und legte auf.
Als Conklin die Bar am Dulles Airport betrat, war es 18.28 Uhr. Er hatte in einem Taxi vor Webbs Hotel gewartet und war David dann gefolgt, nachdem er dem Fahrer genaue Anweisungen gegeben hatte. Er hatte recht gehabt, aber es brachte nichts ein, Webb mit dem Wissen zu belasten. Zwei graue Plymouths hatten die Verfolgung von Davids Taxi aufgenommen und sich dabei beständig abgewechselt. Die Leute im Außenministerium benahmen sich ziemlich albern, dachte er sich, während er die Zulassungsnummern aufschrieb. Jetzt entdeckte er Webb in einer düsteren Nische im hinteren Teil des Lokals.
»Das bist du doch, oder?« sagte Alex und setzte sich etwas schwerfällig auf die schmale Bank, wobei ihn sein verletztes Bein behinderte. »Haben Blonde wirklich mehr Spaß?«
»In Paris hat es funktioniert. Was hast du herausgefunden?«
»Würmer unter Steinen, Würmer, die nicht ans Tageslicht können. Aber dann wüßten die ja auch nicht, was sie mit der Sonne anfangen sollen, nicht wahr?«
»Die Sonne erleuchtet einen, du tust das nicht. Spar dir den Quatsch, Alex. Ich muß in ein paar Minuten am Flugsteig sein.«
»Um es kurz zu sagen, die haben eine Strategie entwickelt, um dafür zu sorgen, daß du nach Kowloon gehst. Sie beruhte auf früheren Erfahrungen -«
»Das kannst du dir sparen«, sagte David. »Warum das alles?«
»Der Mann hat gesagt, sie würden dich brauchen. Nicht dich -Webb -, sie brauchen Borowski.«
»Weil sie sagen, daß Borowski bereits dort ist. Ich hab dir doch erzählt, was McAllister mir gesagt hat. Ist er darauf eingegangen?«
»Nein, er wollte nicht so viel sagen, aber vielleicht kann ich mein Wissen dazu benutzen, um ihn unter Druck zu setzen. Aber etwas anderes hat er mir gesagt, David, und das mußt du wissen. Sie können ihre Verbindungsleute nicht mehr erreichen und wissen nicht, wer die Strohmänner sind oder was im Augenblick passiert. Sie glauben, das sei nur kurzfristig, aber sie haben Marie aus den Augen verloren.«
Webb fuhr sich mit der Hand an die Stirn und schloß die Augen. Plötzlich rollten ihm Tränen über die Wangen. »Jetzt ist es wieder wie damals, Alex. Und da ist so vieles, woran ich mich nicht erinnern kann. Ich liebe sie doch so sehr, ich brauche sie doch so sehr!«
»Hör damit auf!« befahl Conklin. »Du hast mir gestern abend klargemacht, daß ich noch einen Verstand habe, wenn auch mit meinem Körper nicht mehr allzuviel los ist. Du hast beides. Bring sie zum Schwitzen!«
»Wie denn?«
»Sei das, was sie wollen, daß du bist- sei das Chamäleon! Sei Jason Borowski.«
»Das ist doch so lang her ...«
»Du kannst es immer noch. Halte dich an ihr Drehbuch.« »Ich hab wohl auch gar keine andere Wahl, nicht wahr?« Und in dem Augenblick kam über die Lautsprecher der letzte Aufruf für Flug 26 nach Hongkong.
Der grauhaarige Havilland legte den Telefonhörer auf, lehnte sich im Sessel zurück und sah McAllister an. Der Staatssekretär stand neben einer riesigen Weltkugel, die vor einem Bücherregal auf einem verschnörkelten Dreifuß stand. Sein Zeigefinger lag auf der Südspitze von China, aber seine Augen ließen den Botschafter nicht los.
»Jetzt sitzt er in der Maschine nach Hongkong.«
»Schrecklich«, erwiderte McAllister.
»Sicher muß Ihnen das so vorkommen, aber ehe Sie ein Urteil fällen, sollten Sie auch den Vorteil abwägen, den das Ganze hat. Wir sind nicht länger für die Ereignisse verantwortlich. Sie werden von einem Unbekannten manipuliert.«
»Aber das sind doch wir! Ich wiederhole, es ist schrecklich, weiß Gott!«
»Hat Ihr Gott auch die Konsequenzen für den Fall in Betracht gezogen, daß unser Vorhaben scheitert?«
»Wir verfügen über freien Willen, aber es gibt auch so etwas wie Ethik.«
»Das ist eine Banalität, Herr Staatssekretär. Es gibt da so etwas wie ein höheres Gut.«
»Es gibt aber auch einen Menschen, einen Mann, den wir manipulieren und in seine Alpträume zurücktreiben. Haben wir das Recht dazu?«
»Wir haben keine Wahl. Er ist zu Dingen fähig, zu denen sonst keiner fähig ist - wenn wir ihm das Motiv dafür liefern.«
McAllister drehte den Globus, er kreiste auf seiner Achse, während er auf den Schreibtisch zuging. »Vielleicht sollte ich das nicht sagen, aber ich werde es doch tun«, sagte er, als er vor Raymond Havilland stand. »Ich glaube, Sie sind der unmoralischste Mensch, dem ich je begegnet bin.«
»Der Schein trügt, Herr Staatssekretär. Eines spricht mich los von allen Sünden, die ich je begangen habe. Ich werde alles tun, vor keiner Gemeinheit zurückschrecken, wenn ich nur verhindern kann, daß dieser Planet sich selbst in die Luft jagt. Und das schließt auch das Leben eines gewissen David Webb ein - den man dort, wo ich ihn haben will, als Jason Borowski kennt.«