Kapitel 15

Vierzig Meilen südwestlich von Hongkong, jenseits der Inseln im Südchinesischen Meer, liegt die Halbinsel Macao, eine portugiesische Kolonie, wenn auch nur dem Namen nach. Ihre historischen Ursprünge liegen in Portugal, aber der Reiz, der für den internationalen Jet-set von ihr ausgeht, der jährlich veranstaltete Grand Prix, die Spielhöllen, die Jachten, beruht auf dem Luxus und einem Lebensstil, wie die Reichen Europas ihn fordern. Doch der Schein trügt. Macao ist chinesisch, und die Fäden werden in Peking gezogen.

Niemals! Auf keinen Fall in Macao! Dann wird schnell ein Befehl erteilt und noch schneller ausgeführt werden! Dann stirbt Ihre Frau!

Aber der Meuchelmörder war in Macao, das Chamäleon mußte sich Zugang zu einem weiteren Dschungel verschaffen.

Jedes Gesicht musternd und in die von Schatten verhüllten Winkel des engen, vollgepackten Terminals spähend, ließ Borowski sich von der Menschenmenge auf den Pier des Tragflügelbootes nach Macao schieben, eine Fahrt, die etwas über eine Stunde dauerte. Die Passagiere teilten sich in drei ganz deutliche Kategorien: Bewohner der portugiesischen Kolonie, die zurückkehrten - vorwiegend Chinesen, die schwiegen; berufsmäßige Spieler verschiedener Rassen, die sich leise unterhielten, wenn sie überhaupt redeten, und sich dabei dauernd umsahen, um die Konkurrenz einzuschätzen; und außerdem lärmende Touristen, ausschließlich Weiße, viele von ihnen betrunken, mit merkwürdigen Hüten und grellbunten Tropenhemden.

Er hatte Shenzen verlassen und den Drei-Uhr-Zug von Lo Wu nach Kowloon genommen. Die Fahrt war anstrengend, er war gefühlsmäßig wie ausgepumpt und sein Denkvermögen irgendwie gelähmt. Er war dem Killer so nahe gewesen. Wenn er den Mann aus Macao auch nur den Bruchteil einer Minute hätte isolieren können, dann hätte er ihn gehabt! Es gab Mittel und Wege. Sie hatten beide Visa, die in Ordnung waren; ein Mann, der sich vor Schmerz zusammenkrümmte, weil seine Kehle so verletzt war, daß er kein Wort herausbrachte, ließ sich leicht als Kranker ausgeben, ein nicht willkommener Besuch, den sie mit Freuden würden gehenlassen. Aber es hatte nicht sein sollen, nicht diesmal. Wenn er ihn nur wenigstens hätte sehen können!

Und dann die verblüffende Entdeckung, daß dieser neue Meuchelmörder, diese Legende, die gar keine Legende war, sondern ein brutaler Killer, Kontakte zur Volksrepublik hatte. Das war ungeheuer beunruhigend, denn wenn die chinesische Regierung zu einem solchen Mann Verbindungen hatte, dann nur, um ihn zu benutzen. Das war eine Komplikation, die David gar nicht recht war. Das hatte überhaupt nichts mit Marie und ihm zu tun, und sie beide waren das einzige, was ihm wichtig war. Alles, was ihm wichtig war! Jason Borowski: Du mußt den Mann aus Macao holen!

Er war zum Peninsula zurückgegangen und hatte unterwegs kurz im New World Centre haltgemacht, um sich eine dunkle, hüftlange Nylonjacke und ein Paar dicksohlige Turnschuhe zu kaufen. David Webbs Furcht nahm überhand. Jason Borowski plante, ohne bewußt einen Plan zu haben. Er bestellte sich eine leichte Mahlzeit auf das Zimmer und stocherte in dem Essen herum, während er auf der Bettkante saß und sich, ohne etwas aufzunehmen, eine Nachrichtensendung im Fernsehen ansah. Dann legte David sich zurück, schloß kurz die Augen und überlegte, woher die Worte kamen. Ruhe ist eine Waffe. Vergiß das nie. Borowski wachte fünfzehn Minuten später auf.

Jason hatte sich während des Berufsverkehrs an einer Verkaufsstelle in Tsim Sha Tsui ein Ticket für das Boot um acht Uhr dreißig gekauft. Um sicherzugehen, daß man ihm nicht folgte - und er mußte absolut sicher sein -, hatte er dreimal das Taxi gewechselt und sich bis auf fünfhundert Meter an den Pier der Macao-Fähre bringen lassen, und zwar eine Stunde vor der Abfahrt. Den Rest des Weges war er zu Fuß gegangen. Dann hatte er ein Ritual praktiziert, das man ihm in seiner Ausbildungszeit beigebracht hatte. Die Erinnerung an jene Ausbildung war nur schemenhaft, nicht aber das Ritual. Er war vor dem Terminal in den Menschenscharen untergetaucht, hatte sich im Zickzack bewegt, von einem Punkt zum anderen, und war dann ganz plötzlich reglos am Rand stehengeblieben, hatte sich auf die Bewegungsmuster hinter ihm konzentriert und sich umgesehen, ob da jemand war, den er Augenblicke vorher gesehen hatte, ein Gesicht oder ein Paar ängstlicher Augen, die auf ihn gerichtet waren. Da war niemand gewesen. Und doch hing Maries Leben davon ab, daß er ganz sicher war, und so hatte er das Ritual noch zweimal wiederholt, ehe er schließlich den schwach beleuchteten Warteraum betreten hatte. Er sah sich immer noch nach einem angespannten Gesicht um, einem Kopf, der sich drehte, einer Person, die unruhig dasaß und jemanden suchte. Doch auch diesmal war da niemand gewesen. Er war frei und konnte nach Macao fahren. Und nach dort war er jetzt unterwegs.

Er saß auf einem der hinteren Sitze am Fenster und sah zu, wie die Lichter von Hongkong und Kowloon am Himmel zu einem schwachen Leuchten verblaßten. Neue Lichter tauchten auf und verschwanden wieder, als das Tragflügelboot schneller wurde und die zu China gehörenden äußeren Inseln passierte.

Jetzt türmten sich drohend die Berge der New Territories auf; das Mondlicht beleuchtete die Schönheit ihrer Gipfel, die aber auch eine Warnung war: Bis hierher und nicht weiter. Dahinter sind wir anders. Aber in Wirklichkeit war das gar nicht so. Auch auf den Plätzen von Shenzen priesen Leute ihre Waren an, wurden Handwerker wohlhabend, schlachteten Bauern ihre Tiere und lebten ebenso gut wie die gebildeten Klassen in Beijing und Shanghai - nur daß sie besser wohnten. China war im Begriff, sich zu verändern, zwar nicht schnell genug für westliche Vorstellungen, und zweifellos war China noch immer ein paranoider Riese, aber trotz alledem, dachte David Webb, die aufgedunsenen Bäuche von Kindern, wie man sie im China der Vergangenheit so häufig gesehen hatte, verschwanden. Viele, die auf der politischen Leiter ganz oben standen, waren fett, aber auf den Feldern verhungerten nur wenige. Der Fortschritt war unleugbar, sinnierte David, ob nun die Welt die Methoden billigte oder nicht.

Das Tragflügelboot wurde langsamer, und der Rumpf tauchte ins Wasser ein. Sie passierten jetzt eine Fahrrinne zwischen den aufgetürmten Felsen eines künstlichen Riffs, das von Scheinwerfern beleuchtet wurde. Sie waren in Macao, und Borowski wußte, was er zu tun hatte. Er stand auf, schob sich mit einer Entschuldigung an seinem Sitznachbarn vorbei und ging den Mittelgang hinauf, wo eine Gruppe von Amerikanern, einige im Stehen, die übrigen im Sitzen, Mr. Sandman sang. Sie hatten das Lied offenbar eingeübt.

Sie waren angeheitert, aber nicht betrunken, machten keinen Krach. Eine andere Touristengruppe, der Sprache nach Deutsche, ermunterte die Amerikaner und applaudierte am Ende des Liedes.

»Gut!«

»Sehr gut!«

»Wunderbar!«

»Danke, meine Herren.« Der Amerikaner, der neben Jason stand, verbeugte sich zu den Deutschen hin. Dann schloß sich ein kurzes, freundliches Gespräch an, wobei die Deutschen englisch sprachen und der Amerikaner auf deutsch antwortete.

»Da fühlt man sich richtig zu Hause«, sagte Borowski zu dem Amerikaner.

»Hey, ein Landsmann! So ein richtiger Oldie, wie? Aber die waren die besten. Sagen Sie, gehören Sie zu unserer Gruppe?«

»Welche Gruppe ist das?«

»Honeywell-Porter«, antwortete der Mann. Das war eine Werbeagentur in New York, von der Jason wußte, daß sie auf der ganzen Welt Niederlassungen hatte.

»Nein, leider nicht.«

»Hab mir's schon gedacht. Wir sind nur etwa dreißig, wenn man die Australier mitzählt, und ich denke, daß ich so gut wie jeden kenne. Wo kommen Sie her? Ich heiße Ted Mather. Ich bin vom Büro von H. P. in Los Angeles.«

»Mein Name ist Jim Cruett. Kein Büro, ich bin Dozent und komme aus Boston.«

»Aus Boston, was Sie nicht sagen - Beantown! Aus der schönen Stadt gibt's hier noch jemanden. Jim, ich darf Ihnen >Beantown Bernie< vorstellen.« Wieder verbeugte sich Mather, diesmal zu einem Mann hin, der ganz hinten am Fenster in seinem Sitz zusammengesackt war, mit halboffenem Mund und geschlossenen Augen. Er war offensichtlich betrunken und trug eine Baseballmütze mit der Aufschrift >Red Sox<. »Sie brauchen nichts zu ihm zu sagen, der hört jetzt kein Wort. Bernard, das Superhirn, kommt aus unserem Büro in Boston. Sie hätten ihn vor drei Stunden sehen sollen. Nadelstreifenanzug, Seidenkrawatte, Zeigestab in der Hand, und ein Dutzend Diagramme, die außer ihm keiner verstand. Aber das muß man ihm lassen - er hat dafür gesorgt, daß wir nicht einschliefen. Ich glaube, deshalb haben wir alle ein paar gehoben ... und er ein paar zuviel. Aber was soll's, ist ja schließlich unsere letzte Nacht.«

»Geht's morgen zurück?«

»Mit dem Abendflug. Auf die Weise haben wir noch Zeit, uns ein wenig zu erholen.«

»Warum Macao?«

»Weil es uns nach den Spieltischen gejuckt hat. Sie auch?«

»Ich will sie mir wenigstens mal ansehen. Herrgott, beim Anblick dieser Mütze krieg ich richtig Heimweh! Die Red Sox könnten die Meisterschaft schaffen, und bis zu dieser Reise habe ich mir kein Spiel entgehen lassen!«

»Und Bernie wird seine Mütze ganz bestimmt nicht fehlen!« Der Werbemann lachte und zog dem Superhirn Bernard die Baseballmütze vom Kopf. »Hier, Jim. Nehmen Sie sie. Sie haben sie verdient!«

Das Boot legte an. Borowski stieg aus und ging mit den Jungs von Honeywell-Porter durch die Paßkontrolle, als gehörte er zu ihnen. Als sie die steilen Betonstufen in die Ankunftshalle hinuntergingen, deren Wände mit Plakaten bedeckt waren, Jason mit tief in die Stirn gezogener Red-Sox-Mütze und etwas unsicher auf den Beinen, entdeckte er an der linken Wand einen Mann, der die Neuankömmlinge studierte. Der Mann hielt eine Fotografie in der Hand, und Borowski wußte, daß das Gesicht auf der Fotografie das seine war. Er lachte über eine von Ted Mathers Bemerkungen und hielt sich dabei am Arm von Beantown Bernie fest.

Gelegenheiten werden sich bieten. Du mußt sie erkennen und nutzen.

Die Straßen von Macao sind fast so grell beleuchtet wie die Hongkongs; nur fehlt hier der Eindruck, daß zu viele Menschen auf zu engem Raum zusammenleben. Und noch etwas ist anders

- anders und ein Stilbruch: die vielen Gebäude mit ihren flimmernden, modernen Neonreklamen und den pulsierenden chinesischen Schriftzeichen. Diese Gebäude sind im altspanischen Stil gehalten - portugiesisch, genaugenommen -, aber so, wie man sich spanische Architektur im Bilderbuch vorstellt, von mediterranem Charakter. Es ist, als hätte eine alte Kultur sich der Invasion einer neuen gebeugt, sich ihr aber widersetzt und mit der Kraft ihrer steinernen Bauten über die grelle Kurzlebigkeit bunter Glasröhren triumphiert. Die Geschichte wird bewußt verleugnet; die leeren Kirchen und die Ruinen der ausgebrannten Kathedrale existieren in einer seltsamen Harmonie mit den überfüllten Casinos, wo die Croupiers und die Spieler kantonesisch sprechen, und die Nachkommen der Eroberer sich selten sehen lassen. Das alles ist faszinierend, ist Macao.

Jason stahl sich weg von der Honeywell-Porter-Gruppe und fand ein Taxi, dessen Chauffeur das Autofahren offenbar dadurch gelernt hatte, daß er beim Grand Prix von Macao zuschaute. Er fuhr ihn - unter Protest - zum Kam-Pek-Casino.

»Das Lisboa ist für Sie richtig, nicht Kam Pek! Kam Pek für Chinesen! Dai Sui! Fan Tan!«

»Kam Pek, Cheng nei«, sagte Borowski - bitte auf kantonesisch. Sonst sagte er nichts.

Im Casino war es dunkel. Die Luft war feucht und stickig, und der Rauch, der sich über den Tischen und den Lampen emporkringelte, süß und voll und würzig. Etwas abseits von den Spieltischen gab es eine Bar; dort setzte er sich auf einen Hocker, vornübergebeugt, um nicht so groß zu wirken. Er sprach chinesisch, die Baseballmütze warf einen Schatten über sein Gesicht, was vermutlich unnötig war, da er kaum die Etiketten der Flaschen hinter der Theke lesen konnte. Er bestellte sich einen Drink und gab dem Barkeeper, als der ihm sein Glas hinstellte, ein reichliches Trinkgeld in HongkongDollars.

»Mgoi«, sagte der Mann in der Schürze und dankte ihm.

»Hou«, sagte Jason mit großzügiger Geste.

Sorge für freundliche Kontakte, sobald das möglich ist. Besonders an einem fremden Ort, wo es Feindseligkeit geben könnte. Solche Kontakte können dir zu der Chance oder der Zeit, die du brauchst, verhelfen. War das Medusa oder war es Treadstone? Es tat nichts zur Sache, daß er sich daran nicht erinnern konnte.

Er drehte sich langsam auf dem Hocker herum und blickte zu den Spieltischen hinüber; jetzt entdeckte er die von der Decke hängende Tafel mit dem chinesischen Schriftzeichen, das >fünf< bedeutete. Er drehte sich wieder zur Bar herum und holte sein Notizbuch und einen Kugelschreiber heraus. Dann riß er ein Blatt heraus und schrieb die Telefonnummer eines Hotels in Macao darauf, die er sich aus dem Voyager-Magazin gemerkt hatte, das man an die Passagiere auf dem Tragflügelboot verteilt hatte. Er setzte in Druckschrift einen Namen dahinter, an den er sich nur wenn unbedingt nötig erinnern würde, und fügte hinzu: Kein Freund von Carlos.

Er hielt das Glas unter die Bartheke, vergoß den Drink und hob die Hand, um sich einen neuen zu bestellen. Als er gebracht wurde, fiel das Trinkgeld noch reichlicher aus.

»Mgoi saai«, sagte der Barkeeper und verbeugte sich.

»Msa«, sagte Borowski wieder mit einer großzügigen Geste, winkte dann aber dem Barkeeper, er solle da bleiben. »Würden Sie mir einen kleinen Gefallen tun?« fuhr er in der Sprache des Mannes fort. »Es kostet Sie höchstens zehn Sekunden.«

»Was soll ich tun, Sir?«

»Geben Sie dem Bankhalter an Tisch fünf diesen Zettel. Er ist ein alter Freund von mir, und ich möchte, daß er erfährt, daß ich hier bin.« Jason faltete den Zettel zusammen. »Ich bezahle Sie für die Gefälligkeit.«

»Es ist mir eine Ehre, Sir.«

Borowski beobachtete das Geschehen am Spieltisch. Der Bankhalter nahm den Zettel, faltete ihn schnell auseinander, als der Barkeeper kehrtmachte, und schob ihn unter den Tisch. Jetzt begann das Warten.

Es dauerte endlos, so lange, daß der Barkeeper in der Zwischenzeit abgelöst wurde. Der Bankhalter wurde an einen anderen Tisch versetzt, und zwei Stunden später wurde auch er abgelöst, und nach wiederum zwei Stunden übernahm ein neuer Bankhalter Tisch fünf. Auf dem Boden unter ihm war jetzt eine Whiskylache; Jason bestellte jetzt Kaffee und gab sich dann mit Tee zufrieden; es war zehn Minuten nach zwei Uhr morgens. Eine Stunde noch, dann würde er in das Hotel gehen, dessen Nummer er aufgeschrieben hatte, und sich dort ein Zimmer nehmen, und selbst wenn das bedeuten sollte, daß er dafür Hotelaktien kaufen mußte. Er war todmüde.

Und dann war er plötzlich hellwach. Jetzt passierte es! Eine Chinesin im geschlitzten Kleid einer Prostituierten ging auf Tisch fünf zu. Sie zwängte sich an den Spielern vorbei in die rechte Ecke und sagte schnell etwas zu dem Bankhalter, der unter die Theke griff und ihr unauffällig den Zettel gab. Sie nickte und strebte der Tür des Casinos zu.

Er erscheint natürlich nicht selbst. Er benutzt Straßenmädchen.

Borowski verließ die Bar und folgte der Frau. Auf der dunklen Straße angelangt, auf der zwar noch etliche Passanten waren, die aber nach den Maßstäben von Hongkong geradezu menschenleer war, hielt er sich etwa fünfzehn Meter hinter der Frau und blieb immer wieder stehen, um sich beleuchtete Schaufenster anzusehen. Dann ging er wieder schneller, um sie nicht zu verlieren.

Du darfst nicht gleich auf das Signal reagieren. Die können genausogut denken wie du. Der erste kann ein harmloser Bettler sein, der auf ein paar Dollar aus ist und nichts weiß. Auch der zweite oder der dritte. Du wirst die Kontaktperson erkennen. Sie wird anders sein.

Ein gebeugter alter Mann ging auf die Hure zu. Sie stießen zusammen, und sie kreischte ihn an, während sie ihm den Zettel reichte. Jason spielte den Betrunkenen und drehte sich halb herum, folgte der zweiten Spur.

Vier Straßen weiter geschah es. Und der Mann war anders. Ein kleiner, gut gekleideter Chinese, sein kompakter Körper mit den breiten Schultern und den schmalen Hüften strahlte Stärke aus. Die schnellen Gesten, mit denen er den heruntergekommenen alten Mann bezahlte, und die Art und Weise, wie er dann mit schnellen Schritten über die Straße ging, waren eine Warnung für jeden Feind. Für Borowski war das eine unwiderstehliche Einladung; dies war eine Kontaktperson mit Autorität, eine Verbindung zu dem Franzosen.

Jason huschte auf die andere Straßenseite; er war knapp fünfzig Meter hinter dem Mann, verlor aber Boden. Doch jetzt bestand keine Notwendigkeit mehr zur Vorsicht. Er fing zu laufen an. Sekunden später war er unmittelbar hinter dem Chinesen; die weichen Kreppsohlen seiner Turnschuhe hatten jeden Laut verschluckt. Vor ihnen war eine Passage zwischen zwei Bürogebäuden mit dunklen Fenstern. Er mußte sich schnell bewegen, aber in der Art und Weise, die nicht auffiel, die den nächtlichen Passanten keinen Anlaß gab, die Polizei zu rufen. Die Chancen standen günstig für ihn; die meisten Leute, die jetzt noch unterwegs waren, waren eher betrunken als nüchtern oder standen unter Drogen, und der Rest waren müde Arbeiter, die nach Hause wollten. Der Kontaktmann näherte sich dem Eingang zur Passage. Jetzt.

Borowski rannte los, auf die rechte Seite des Mannes zu. »Der Franzose!« sagte er auf chinesisch. »Ich habe Nachrichten von dem Franzosen! Schnell!« Er bog in die Passage ein und der andere hatte keine Wahl, als wie benommen mitzugehen. Jetzt!

Jason machte einen Satz nach vorne, packte den Mann am linken Ohr, drehte es herum, trieb ihn weiter, drückte dem Mann das Knie gegen die Wirbelsäule und hielt ihn mit der anderen Hand am Hals fest. Er schleuderte ihn mitten in die dunkle Passage hinein, rannte ihm nach, trat ihm mit dem Turnschuh in die Kniekehle; der Mann stürzte, drehte sich dabei halb herum und starrte zu Borowski herauf.

»Sie! Sie sind das!« Dann zuckte der Chinese in dem schwachen Licht zusammen. »Nein«, sagte er plötzlich ganz ruhig. »Sie sind es nicht!«

Ohne eine warnende Bewegung zuckte das rechte Bein des Chinesen vor und katapultierte Borowski vom Pflaster. Er traf Jason am linken Schenkel und setzte mit dem linken Fuß nach, schmetterte ihn Borowski in den Leib, und dann stand er mit ausgestreckten, starren Händen da, und sein muskulöser Körper bewegte sich fließend, ja elegant, im Halbkreis.

Was dann folgte, war ein Kampf von Tieren, von zwei trainierten Killern, jede Bewegung war wohl überlegt, jeder Schlag tödlich, wenn er sein Ziel voll traf. Der eine kämpfte um sein Leben, der andere um das Überleben und die Erlösung ... und um die Frau, ohne die er nicht leben konnte, nicht leben wollte! Schließlich gaben Größe und Gewicht und ein Motiv, das über das bloße Überleben hinausging, den Ausschlag.

Gegen die Wand gepreßt, schwitzend und angeschlagen, mit Blutfäden in den Mundwinkeln, hielt Borowski den Hals des Chinesen von hinten umfaßt. Das linke Knie hatte er dem Mann ins Kreuz gepreßt, und das rechte Bein um die Fesseln des Chinesen geschlungen.

»Sie wissen, was als nächstes kommt!« flüsterte er auf chinesisch, die Worte sorgfältig voneinander absetzend, um ihnen noch mehr Nachdruck zu verleihen. »Ich brauche nur zuzudrücken, dann bricht Ihnen das Rückgrat durch. Keine angenehme Art zu sterben. Und Sie brauchen nicht zu sterben.

Sie können leben. Sie können leben mit mehr Geld, als der Franzose Ihnen je zahlen würde. Ich gebe Ihnen mein Wort, der Franzose und sein Killer werden verschwinden. Wählen Sie. Jetzt!« Jason drückte fester zu; die Adern am Hals des Mannes drohten zu bersten.

»Ja, ja!« schrie der Chinese. »Ich will leben, nicht sterben!«

Sie saßen in der dunklen Passage, die Rücken an die Wand gelehnt, und rauchten. Der Mann sprach fließend englisch, er hatte es von den Schwestern in einer portugiesischen katholischen Schule gelernt.

»Sie sind sehr gut, das wissen Sie«, sagte Borowski und wischte sich das Blut von den Lippen.

»Ich bin der Champion von Macao, deshalb bezahlt mich der Franzose. Aber Sie haben mich besiegt. Ich bin entehrt, ganz gleich, was geschieht.«

»Das sind Sie nicht. Ich kenne nur ein paar schmutzige Tricks mehr als Sie. Dort, wo man Sie ausgebildet hat, werden die nicht gelehrt, und das ist auch richtig so. Außerdem wird es nie jemand erfahren.«

»Aber ich bin jung! Sie sind alt.«

»So weit würde ich nicht gehen. Außerdem halte ich mich recht gut in Form, das verdanke ich einem verrückten Arzt, der mir sagt, was ich tun muß. Wie alt glauben Sie denn, daß ich bin?«

»Sie sind über dreißig!«

»Zugegeben.«

»Alt!«

»Danke.«

»Sie sind auch sehr stark, sehr schwer - aber es kommt noch etwas hinzu. Ich bin geistig gesund. Das sind Sie nicht!«

»Vielleicht.« Jason drückte seine Zigarette auf dem Pflaster aus. »Wir wollen vernünftig miteinander reden«, sagte er und zog Geld aus der Tasche. »Mir war das ernst, was ich gesagt habe. Ich werde Sie gut bezahlen ... Wo ist der Franzose?«

»Es ist nicht alles im Gleichgewicht.«

»Was meinen Sie?«

»Gleichgewicht ist wichtig.«

»Das weiß ich, aber ich verstehe Sie nicht.«

»Die Harmonie ist gestört, und der Franzose ist zornig. Wieviel werden Sie mir bezahlen?«

»Wieviel können Sie mir sagen?«

»Wo der Franzose und sein Meuchelmörder morgen abend sein werden.«

»Zehntausend amerikanische Dollar.«

»Aiya!«

»Aber nur, wenn Sie mich dort hinbringen.«

»Es ist jenseits der Grenze!«

»Ich habe ein Visum für Shenzen. Es gilt noch drei Tage.«

»Das könnte helfen, aber es gilt nicht für den Übergang bei Guandong.«

»Dann müssen Sie sich etwas einfallen lassen. Zehntausend amerikanische Dollar.«

»Ich werde mir etwas einfallen lassen.« Der Chinese hielt inne, und seine Augen musterten das Geld, das der Amerikaner ihm hinhielt.

»Kann ich einen - ich glaube, Sie nennen das Vorschuß -haben?«

»Fünfhundert Dollar, mehr nicht.«

»Die Verhandlungen an der Grenze werden viel mehr kosten.«

»Dann rufen Sie mich an. Ich bringe Ihnen das Geld.«

»Wo soll ich anrufen?«

»Besorgen Sie mir ein Hotelzimmer hier in Macao. Ich lege mein Geld dort in den Safe.«

»Das Lisboa.«

»Nein, nicht das Lisboa. Dort kann ich nicht hin. Irgendwo anders.«

»Kein Problem. Helfen Sie mir aufstehen ... Nein! Es ist besser für meine Würde, wenn ich keine Hilfe brauche.«

»Wie Sie wollen«, sagte Jason Borowski.

Catherine Staples saß an ihrem Schreibtisch, den stummen Telefonhörer immer noch in der Hand. Sie sah ihn geistesabwesend an und legte auf. Das Gespräch, das sie gerade beendet hatte, hatte sie verblüfft. Da der kanadische Geheimdienst im Augenblick nicht in Hongkong tätig war, hielten sich die Beamten des Auswärtigen Dienstes an Informanten von der Hongkonger Polizei, wenn sie Auskünfte brauchten. Es ging dabei immer um die Interessen kanadischer Bürger, die entweder in der Kronkolonie wohnten oder auf der Durchreise waren. Die Probleme reichten von Verhaftungen bis zu Raubüberfällen, von betrogenen Kanadiern zu Kanadiern, die selber Gauner waren. Dann gab es natürlich auch wichtigere Fälle, bei denen es um Sicherheit und Spionage ging, erstere, wenn hohe Regierungsbeamte die Stadt besuchten, letztere, wenn es darum ging, sich gegen elektronische Abhörmethoden zu schützen oder zu verhindern, daß Konsulatsbeamte erpreßt wurden, Geheiminformationen weiterzugeben. Es war allgemein bekannt, daß Agenten aus dem Ostblock und den religiös fanatischen Regimes der arabischen Welt in ihren ewigen Bemühungen um Geheimdaten feindlicher Regierungen Drogen und Prostituierte beider Geschlechter einsetzten. Und in diesem Bereich hatte Catherine Staples gute Arbeit geleistet. Sie hatte die Karriere von zwei Attaches im eigenen Konsulat und darüber hinaus die eines Amerikaners und dreier Briten gerettet.

Fotografien der Betroffenen in kompromittierenden Situationen waren mitsamt den Negativen vernichtet worden; man hatte die Erpresser aus der Kolonie ausgewiesen und sie nicht nur mit Anzeige, sondern auch mit körperlicher Gewalt bedroht. Einmal hatte sie ein iranischer Konsulatsbeamter beschuldigt, sie mische sich in Angelegenheiten, die sie überhaupt nichts angingen. Er hatte sie auf die übelste Weise beschimpft. Sie hatte sich den Esel so lange angehört, wie sie die nasale Stimme ertragen konnte, und hatte das Telefongespräch dann lakonisch beendet: »Wußten Sie das nicht? Khomeini mag kleine Jungen.«

Alles das war ihr durch ihre Beziehung zu einem englischen Witwer Ende der Sechzig möglich, der sich bei Scotland Yard hatte pensionieren lassen, um Leiter des Sicherheitsbüros der Kronkolonie zu werden. Mit siebenundsechzig hatte Ian Ballantyne sich mit der Tatsache abgefunden, daß zwar seine Laufbahn beim Yard beendet war, daß aber seine professionellen Fähigkeiten und Erfahrungen durchaus noch genutzt werden konnten. So ließ er sich bereitwillig im Fernen Osten stationieren, wo er die Sicherheitsabteilung der Polizei der Kronkolonie auf Vordermann brachte und auf seine ruhige Art eine wirkungsvolle Behörde aufbaute, die mehr über die Schattenwelt Hongkongs wußte als irgendeine andere Organisation im Territorium, nicht einmal MI-6. Catherine und Ian waren sich bei einem jener bürokratisch langweiligen Abendessen begegnet, wie sie das konsularische Protokoll vorschrieb, und nach einem längeren Gespräch mit viel Witz, bei dem er Gefallen an seiner Tischdame fand, hatte Ballantyne zu ihr gesagt: »Meinen Sie, wir können es noch, altes Mädchen?«

»Versuchen wir's«, hatte sie geantwortet.

Und das hatten sie. Sie hatten Spaß daran, und Ian war zu einem Fixpunkt in Catherines Leben geworden, ohne irgendwelche Verpflichtungen. Sie mochten einander, das war genug.

Und Ian Ballantyne hatte ihr gerade erklärt, daß alles, was Staatssekretär Edward McAllister Marie Webb und ihrem Mann in Maine erzählt hatte, gelogen gewesen sei. Es gab in Hongkong keinen Taipan namens Yao Ming, und seine verläßlichen - sprich gut bezahlten - Informanten in Macao versicherten ihm, es habe im Lisboa-Hotel keinen Doppelmord an der Frau eines Taipan und einem Drogenschmuggler gegeben. Solche Morde hatte es seit 1945 nicht mehr gegeben, als die japanischen Besatzungstruppen abgezogen waren. Rings um die Casinotische hatte es zahlreiche Messerstechereien und Schußwunden gegeben, und in den Nebenzimmern etliche Todesfälle, die auf Überdosis von Narkotika zurückzuführen waren, aber jedenfalls keinen Zwischenfall, wie Catherines Informantin ihn geschildert hatte.

»Das Ganze ist ein Lügengespinst, Cathy, altes Mädchen«, hatte Ian gesagt. »Was das für einen Zweck haben soll, dahinter bin ich noch nicht gekommen!«

»Meine Quelle ist authentisch, alter Liebling. Was witterst du?«

»Das stinkt, meine Liebe. Jemand geht da ein großes Risiko ein, also muß es um etwas Wichtiges gehen. Er schützt sich natürlich - hier drüben kann man alles kaufen, inklusive Schweigen -, aber die ganze verdammte Geschichte ist durch und durch erlogen. Willst du mir noch mehr sagen?«

»Wenn ich dir jetzt sage, daß alles auf Washington hindeutet, nicht auf Großbritannien?«

»Dann muß ich dir widersprechen. Bei einer Geschichte in dieser Größenordnung läuft ohne London nichts.«

»Das gibt aber doch keinen Sinn!«

»Von deinem Standpunkt aus, Cathy. Den ihren kennst du nicht. Und das eine kann ich dir sagen - dieser Wahnsinnige, dieser Borowski, hat uns ganz schön am Wickel. Eines seiner

Opfer ist ein Mann, über den keiner reden will. Nicht einmal dir werde ich seinen Namen sagen, Mädchen.«

»Tust du das, wenn ich dir mehr Informationen bringe?«

»Wahrscheinlich nicht, aber du kannst es ja versuchen.«

Catherine Staples saß an ihrem Schreibtisch und filterte die Worte noch einmal durch.

Eines seiner Opfer ist ein Mann, über den keiner reden will.

Was meinte Ballantyne damit? Was ging da vor? Und warum war eine kanadische Wirtschaftswissenschaftlerin mitten in diesen Wirbelsturm geraten?

Wenigstens war Marie in Sicherheit.

Botschafter Havilland betrat mit dem Aktenkoffer in der Hand das Büro am Victoria Peak, und McAllister sprang aus seinem Sessel hoch, um ihn seinem Vorgesetzten freizumachen.

»Bleiben Sie, wo Sie sind, Edward. Was gibt es Neues?«

»Leider nichts.«

»Herrgott, das will ich nicht hören!«

»Tut mir leid.«

»Wo steckt der beschissene Kretin, der das zugelassen hat?«

McAllister wurde bleich, als Major Lin Wenzu, den Havilland nicht gesehen hatte, sich von der Couch an der hinteren Zimmerwand erhob. »Ich bin der beschissene Kretin, das Schlitzauge, dem das passiert ist, Herr Botschafter.«

»Ich werde mich nicht entschuldigen«, sagte Havilland schroff und wandte sich ihm zu. »Schließlich wollen wir euren Hals retten. Wir werden das überleben. Ihr nicht.«

»Ich habe nicht die Ehre, Sie zu verstehen.«

»Es ist nicht seine Schuld«, protestierte der Staatssekretär.

»Ist es dann die Ihre!« schrie der Botschafter. »Waren Sie für ihre Bewachung verantwortlich?« »Ich bin hier für alles verantwortlich.«

»Das ist sehr christlich gedacht, Mr. McAllister, aber im Augenblick sind wir nicht in der Sonntagsschule und lesen auch nicht die Heilige Schrift.«

»Ich war dafür verantwortlich«, schaltete Lin sich ein. »Ich habe den Auftrag übernommen und versagt. Um es einfach auszudrücken, die Frau hat uns ausgetrickst.«

»Sie sind Lin vom MI-6?«

»Ja, Herr Botschafter.«

»Ich habe viel Gutes über Sie gehört.«

»Das hat jetzt sicher nichts mehr zu sagen.«

»Ich habe gehört, daß sie auch einen ausgesprochen tüchtigen Arzt ausgetrickst haben soll.«

»Das hat sie«, bestätigte McAllister. »Einen der besten Internisten im Territorium.«

»Ein Engländer«, fügte Lin hinzu.

»Das war nicht nötig, Major. Ebensowenig wie es nötig war, das Wort Schlitzauge in bezug auf Ihre Person zu verwenden. Ich bin kein Rassist. Die Welt weiß das nicht, aber für solchen Scheißdreck hat sie keine Zeit.« Havilland trat an den Schreibtisch, legte den Aktenkoffer darauf, klappte ihn auf und entnahm ihm einen dicken, schwarz geränderten Umschlag. »Sie haben die Treadstone-Akte verlangt. Hier ist sie. Ich brauche wohl nicht ausdrücklich zu sagen, daß die Akte diesen Raum nicht verlassen darf. Wenn Sie nicht darin lesen, sperren Sie sie im Safe ein.«

»Ich möchte so schnell wie möglich anfangen.«

»Sie glauben, Sie werden dort etwas finden?«

»Ich weiß nicht, wo ich sonst nachsehen soll. Übrigens, ich bin in ein Büro weiter unten am Flur umgezogen. Der Safe ist hier.«

»Sie können kommen und gehen, wie Sie wollen«, sagte der Diplomat. »Wieviel haben Sie dem Major gesagt?«

»Nur das, wozu man mich angewiesen hat.« McAllister sah Lin Wenzu an. »Er hat sich häufig beschwert und mehr wissen wollen. Vielleicht hat er recht.«

»Ich bin nicht in der Lage, mich zu beschweren, Edward. London hat sich unmißverständlich ausgedrückt, Herr Botschafter. Natürlich akzeptiere ich die Bedingungen.«

»Ich möchte nicht, daß Sie irgend etwas >akzeptieren<, Major. Ich möchte, daß Sie mehr Angst haben, als Sie in Ihrem ganzen Leben je gehabt haben. Wir werden jetzt Mr. McAllister seiner Lektüre überlassen und einen kleinen Spaziergang machen. Ich habe, als man mich hierher fuhr, einen großen, sehr hübschen Garten gesehen. Kommen Sie mit?«

»Es wäre mir eine Ehre, Sir.«

»Das möchte ich bezweifeln, aber es ist notwendig. Sie müssen das alles von Grund auf verstehen. Sie müssen diese Frau finden!«

Marie stand am Fenster in Catherines Wohnung und blickte auf das rege Treiben auf der Straße hinab. Die Straßen waren wie stets überfüllt, und sie empfand den überwältigenden Drang, das Appartement zu verlassen und sich anonym unter die Menge zu mischen und durch die Straßen zu laufen, in das Asian House zu gehen, in der Hoffnung, David zu finden. Dann würde sie sich wenigstens bewegen, Leute anstarren, hören, hoffen - und nicht immer nur stumm vor sich hingrübeln und dabei fast den Verstand verlieren. Aber sie konnte nicht weg; sie hatte Catherine ihr Wort gegeben. Sie hatte ihr versprochen, in der Wohnung zu bleiben, niemanden einzulassen und sich nur dann am Telefon zu melden, wenn es zuerst zweimal klingelte, dann wieder aufgelegt wurde und das Telefon gleich darauf noch mal läutete. Dann würde Catherine am Apparat sein.

Liebe Catherine, tüchtige Catherine - verängstigte Catherine. Sie versuchte, ihre Angst zu verbergen, aber man konnte diese Angst aus ihren tastenden Fragen heraushören, die zu schnell, zu eindringlich gestellt wurden, aus ihren viel zu fassungslosen Reaktionen auf Antworten, wenn sie schneller atmen mußte, während ihr Blick abschweifte und ihre Gedanken sich ganz offensichtlich überschlugen. Marie hatte das alles nicht verstanden, aber sie verstand sehr wohl, daß Catherine die Unterwelt des Fernen Ostens recht gut kannte, und wenn jemand mit solchem Wissen die Furcht vor dem Gehörten zu verbergen suchte, dann war an der Geschichte viel mehr dran, als die Erzählerin wußte.

Das Telefon. Es klingelte zweimal. Dann Stille. Dann ein drittes Klingeln. Marie rannte zum Couchtisch und hob den Hörer mitten im dritten Klingeln ab.

»Ja?«

»Marie, als dieser Lügner McAllister mit dir und deinem Mann sprach, hat er doch ein Variete in Tsim Sha Tsui erwähnt, wenn ich mich richtig erinnere. Habe ich recht?«

»Ja, das hat er. Er hat gesagt, eine Uzi - das ist eine Waffe -«

»Ich weiß, was eine Uzi ist. Angeblich sind die Frau des Taipan und ihr Liebhaber in Macao mit derselben Waffe umgebracht worden. War es nicht so?«

»So war es.«

»Aber hat er etwas über die Männer gesagt, die in dem Variete drüben in Kowloon getötet worden sind? Irgend etwas?«

Marie dachte nach. »Nein, ich glaube nicht. Nur die Waffe hat er erwähnt.«

»Und das weißt du ganz genau?«

»Ja. Sonst würde ich mich daran erinnern.«

»Bestimmt«, gab Catherine ihr recht.

»Ich bin dieses Gespräch tausendmal durchgegangen. Hast du etwas herausbekommen?«

»Ja. Im Lisboa-Hotel in Macao hat sich nie ein solcher Mord abgespielt, wie McAllister ihn euch geschildert hat.«

»Das ist vertuscht worden. Der Bankier hat dafür bezahlt.«

»Soviel wie mein verläßlicher Informant kann er gar nicht bezahlt haben - und mein Informant hat nicht nur in Geld, sondern mit dem begehrten makellosen Stempel seines Amtes bezahlt. Auf lange Sicht bringt das mehr ein. Vor allem beim Austausch von Informationen.«

»Catherine, was willst du damit sagen?«

»Daß das entweder die ungeschickteste Operation ist, von der ich je gehört habe, oder ein brillant ausgeheckter Plan, um deinen Mann in Machenschaften hineinzuziehen, die er nie in Betracht gezogen hätte, an denen er sich ganz bestimmt nie beteiligt hätte. Ich fürchte letzteres.«

»Warum sagst du das?«

»Ein Mann ist heute nachmittag auf dem Kai-tak-Flughafen angekommen, ein Staatsmann, der stets viel mehr als ein bloßer Diplomat war. Wir alle wissen das, nur die Welt weiß es nicht. Seine Ankunft ist uns über Computer gemeldet worden. Als die Medien ihn interviewen wollten, hat er abgelehnt und erklärt, er mache lediglich Urlaub in seinem geliebten Hongkong.«

»Und?«

»Er hat in seinem ganzen Leben noch nie Urlaub genommen.«

McAllister rannte in den von einer Mauer umgebenen Garten mit seinen Spalieren und weißen Schmiedeeisenmöbeln und den Rosenbeeten und den kleinen Teichen hinaus. Er hatte die Treadstone-Akte in den Safe gelegt, aber was er gelesen hatte, war seinem Bewußtsein unauslöschlich eingeprägt. Wo waren sie? Wo war er?

Dort waren sie! Sie saßen auf zwei Betonbänken unter einem Kirschbaum. Lin beugte sich vor und war, seinem Ausdruck nach zu schließen, völlig gebannt. McAllister konnte einfach nicht anders; er fing zu rennen an und war außer Atem, als er den Baum erreichte. Er starrte den Major von MI-6 an.

»Lin! Als Webbs Frau mit ihrem Mann telefonierte - das Gespräch, das Sie dann unterbrochen haben -, was hat sie da genau gesagt?«

»Sie fing an, über eine Straße in Paris zu reden, mit einer Baumreihe, ihren Lieblingsbäumen, hat sie, glaube ich, gesagt«, erwiderte Lin verwirrt. »Sie versuchte offenbar, ihm zu sagen, wo sie war, aber das war völlig falsch.«

»Das war völlig richtig'. Als ich Sie ausgefragt habe, haben Sie auch erwähnt, sie habe Webb gesagt, auf dieser Straße in Paris sei es >schrecklich< gewesen, oder so etwas Ähnliches -«

»Ja, das hat sie gesagt.«

»In Paris ist ein Mann in der Botschaft getötet worden, ein Mann, der versucht hat, den beiden zu helfen!«

»Was wollen Sie damit sagen, McAllister?« unterbrach Havilland.

»Die Baumreihe ist ohne Belang, Herr Botschafter, aber nicht ihr Lieblingsbaum. Der Ahornbaum, das Ahomblatt. Das Symbol Kanadas! Es gibt in Hongkong keine kanadische Botschaft, wohl aber ein Konsulat. Das ist ihr Treffpunkt. Dasselbe Schema! Es ist wieder wie in Paris!«

»Sie haben keine befreundeten Botschaften - Konsulate -alarmiert?«

»Verdammt!« brach es aus dem Staatssekretär heraus. »Was, zum Teufel, hätte ich denn sagen sollen? Ich bin eidesstattlich zum Schweigen verpflichtet, haben Sie das vergessen, Sir?«

»Sie haben völlig recht. Den Tadel habe ich verdient.« »Sie können uns nicht ganz die Hände binden, Herr Botschafter«, sagte Lin. »Ich habe den allerhöchsten Respekt für Sie, aber einigen von uns gebührt auch ein gewisses Maß an Respekt, wenn wir unsere Arbeit tun sollen. Derselbe Respekt, den Sie mir gerade erwiesen haben, indem Sie mir von dieser schrecklichen Geschichte erzählt haben. Sheng Chou Yang. Unglaublich!«

»Ich muß mich auf absolute Diskretion verlassen.«

»Das können Sie«, sagte der Major.

»Das kanadische Konsulat«, sagte Havilland. »Ich brauche eine vollständige Liste des gesamten Konsulatspersonals.«

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