Kapitel 4

Plötzlich erfüllten Schreie die Dunkelheit, eine näherkommende, anschwellende Kakophonie brüllender Stimmen. Und dann waren sie von rennenden, stampfenden Gestalten mit verzerrten Gesichtern umgeben. Webb ließ sich auf die Knie fallen, schützte, so gut er konnte, Gesicht und Hals mit den Händen, zuckte hin und her, um kein festes Ziel zu bieten. Er trug einen dunklen Anzug, das war im Schatten ein Vorteil, würde aber nichts nützen, wenn jemand einen Feuerstoß auf ihn abgab und dabei wenigstens einen der Leibwächter mitnahm. Aber ein Killer entschied sich nicht immer für Kugeln. Es gab Bolzen - tödliche Giftnadeln, die aus Luftdruckwaffen abgefeuert wurden und binnen Minuten den Tod brachten, wenn nicht in Sekunden.

Eine Hand packte ihn an der Schulter. Er fuhr herum, hob den Arm, entzog sich der Hand, indem er einen Schritt zur Seite tat, und kauerte sich nieder wie ein Tier.

»Alles in Ordnung?« fragte der Leibwächter zu seiner Rechten und grinste im Widerschein seiner Taschenlampe.

»Was? Was ist passiert?«

»Ist es nicht großartig!« rief der Leibwächter zu seiner Linken und kam jetzt näher, während David sich erhob.

»Was?«

»Daß junge Leute sich so begeistern können. Man fühlt sich dabei richtig wohl, wenn man das sieht!«

Es war vorbei. Auf dem Universitätsgelände war wieder Stille eingetreten, und in der Ferne, zwischen den Gebäuden, die an die Übungsplätze und das Stadion grenzten, konnte man zwischen den Ehrentribünen die zuckenden Flammen eines Freudenfeuers sehen. Die Siegesfeier war voll im Gang, und seine Leibwächter lachten.

»Und wie steht's mit Ihnen, Herr Professor?« fuhr der Mann zu seiner Linken fort. »Fühlen Sie sich jetzt wohler, wo wir hier sind, und so?«

Es war vorbei. Der Wahnsinn war vorbei. Aber warum pochte dann sein Herz so schnell? Warum war er so verwirrt, so verängstigt? Irgend etwas stimmte nicht.

»Warum stört mich diese ganze Parade?« sagte David beim Frühstückskaffee in der Nische ihres alten viktorianischen Mietshauses.

»Deine Spaziergänge am Strand fehlen dir«, sagte Marie und legte ihrem Mann das pochierte Ei auf die Scheibe Toast. »Iß das, bevor du deine Zigarette rauchst.«

»Nein, wirklich. Mich stört das. Die ganze letzte Woche war ich wie eine Ente auf dem Schießstand. Gestern nachmittag ist mir das aufgegangen.«

»Wie meinst du das?« Marie goß das Wasser aus und legte die Pfanne in den Ausguß, ohne dabei Webb aus den Augen zu lassen. »Sechs Männer sind um dich herum, vier an deinen >Flanken<, wie du gesagt hast, und zwei, die sich vor und hinter dir alles genau ansehen.«

»Eine Parade.«

»Warum Parade?«

»Ich weiß nicht. Jeder an seinem Platz, und alle marschieren im Takt, den die Trommeln schlagen. Ich weiß nicht.«

»Aber du hast eine Ahnung?«

»Ich glaube schon.«

»Dann sag es mir. Die Ahnungen, die du manchmal hast, haben mir am Guisan Quai in Zürich das Leben gerettet. Ich würde es gerne hören - nun, vielleicht auch nicht, aber es ist wahrscheinlich besser.«

Webb stach den Eidotter auf dem Toast auf. »Weißt du, wie leicht es für jemanden wäre - jemanden, der so jung wie ein Student aussieht-, irgendwo an mir vorbeizugehen und mit einer Luftdruckpistole einen Bolzen auf mich abzuschießen? Das Geräusch könnte er mit einem Husten überdecken oder einem Lachen, und schon hätte ich hundert Kubikzentimeter Strychnin im Blut.«

»Du weißt über solche Dinge viel mehr als ich.«

»Natürlich. Weil ich es so machen würde.«

»Nein. Weil Jason Borowski es so machen würde, nicht du.«

»Na schön, dann projiziere ich das eben auf ihn. Aber das ändert nichts an dem Gedanken.«

»Was ist denn gestern nachmittag passiert?«

Webb spielte mit dem Ei und dem Toast auf seinem Teller. »Das Seminar hat sich in die Länge gezogen. Es wurde schon dunkel, und meine Wachen schlössen sich mir an. Wir gingen über das Feld zum Parkplatz. Es war eine Siegesfeier für ein Footballspiel - unser harmloses Team gegen irgendein anderes harmloses Team. Die Menge rannte an uns vier vorbei, junge Leute, die zu einem Freudenfeuer hinter den Tribünen wollten. Sie schrien und brüllten und putschten sich gegenseitig auf. Und ich dachte, jetzt ist es soweit. Jetzt passiert es, wenn es überhaupt passiert. Glaub mir, in jenen paar Augenblicken war ich Borowski. Ich kauerte mich nieder und beobachtete jeden, den ich sehen konnte - ich war dabei durchzudrehen.«

»Und?« sagte Marie, vom abrupten Schweigen ihres Mannes beunruhigt.

»Meine sogenannten Leibwächter lachten und taten, als ginge sie das Ganze nichts an, und die zwei vorne hatte einen Riesen spaß an der ganzen Sache.«

»Und das hat dich beunruhigt?«

»Ganz instinktiv. Ich war ein ungeschütztes Zielobjekt, mitten in einer aufgeputschten Menge. Meine Nerven sagten mir das; mein Verstand brauchte das gar nicht.«

»Wer redet denn jetzt?«

»Das weiß ich nicht genau. Ich weiß nur, daß in diesen paar Augenblicken für mich nichts einen Sinn ergab. Und dann, nur Sekunden später, kam der Mann von links hinter mir und sagte, als wolle er die Gedanken lesen, die ich gar nicht hatte, sagte so etwas wie >Ist das nicht großartig - oder herrlich -, daß junge Leute sich so begeistern können? Man fühlt sich dabei richtig wohl, oder?< ... Ich murmelte irgend etwas, und dann sagte er -und diesmal sind es genau seine Worte - >Und wie steht's mit Ihnen, Professor? Fühlen Sie sich jetzt wohler, wo wir hier sind, und so?<« David blickte auf und sah seine Frau an. »Ob ich mich wohler fühlte ... und jetzt? Ich.«

»Er kannte doch ihren Job«, unterbrach ihn Marie. »Sie sollen dich schützen. Er wollte bestimmt bloß fragen, ob du dich sicherer fühlst.«

»Wirklich? Meinen sie das? Diese schreienden Jugendlichen, die schwache Beleuchtung, die vorbeihuschenden Schemen, die Gesichter, die man nicht erkennen kann ... und er macht mit und lacht, alle lachen sie. Sind sie wirklich hier, um mich zu schützen?«

»Was denn sonst?«

»Ich weiß es nicht. Vielleicht habe ich einfach Erfahrungen gemacht, die ihnen abgehen. Vielleicht denke ich einfach zuviel. Ich denke über McAllister nach und seine Augen. Wenn man von seinem gelegentlichen Blinzeln absieht, waren das die

Augen eines toten Fisches. Man konnte alles in sie hineinlesen, was man wollte - je nachdem, wie einem zumute ist.«

»Was er dir erzählt hat, war ein Schock für dich«, sagte Marie, die jetzt mit verschränkten Armen am Ausguß lehnte und ihren Mann musterte. »Das muß schrecklich für dich gewesen sein. Für mich jedenfalls war es das.«

»Wahrscheinlich«, nickte Webb. »Eigentlich ist es seltsam, aber wie es so viele Dinge gibt, an die ich mich erinnern möchte, gibt es auch eine ganze Menge, die ich gern vergessen möchte.«

»Warum rufst du McAllister nicht an und sagst ihm, was du empfindest, was du denkst? Du hast seine Durchwahl im Büro und auch seine Nummer zu Hause. Mo Panov würde sagen, daß du das tun sollst.«

»Ja, das würde Mo.« David stocherte in seinem Ei herum. >»Wenn es eine Möglichkeit gibt, eine ganz bestimmte Angst loszuwerden, dann sollten Sie das so schnell Sie können tun.< Das würde er sagen.«

»Dann tu es.«

Webb lächelte, und sein Lächeln wirkte ebenso begeistert wie die Art, sein Ei zu essen. »Vielleicht tue ich es, vielleicht auch nicht. Ich würde eigentlich lieber eine latente oder passive oder wiederkehrende Paranoia oder wie zum Teufel sie das nennen würden nicht gerade ankündigen. Mo würde sofort herfliegen und mir das Gehirn durchkneten.«

»Wenn er das nicht tut, könnte ich das ja.«

»Ni shi nühaizi«, sagte David und tupfte sich mit der Papierserviette den Mund ab, während er aufstand und auf sie zuging.

»Und was heißt das, mein unergründlicher Ehemann und Liebhaber Nummer siebenundachtzig?«

»Launische Göttin. Das soll heißen, daß du ein kleines Mädchen bist - und zwar gar nicht so klein -, und daß ich dich immer noch in drei von fünf Fällen im Bett schaffe, wo man eine ganze Menge anderer Dinge tun kann, nicht nur dich verprügeln.«

»Und das alles in einem so kurzen Satz?«

»Die Chinesen vergeuden keine Worte. Sie malen Bilder ... Ich muß jetzt gehen. Die Vorlesung heute morgen befaßt sich mit Rama II. von Siam und den Ansprüchen, die er Anfang des neunzehnten Jahrhunderts auf die Malaienstaaten erhoben hat. Stinklangweilig, aber wichtig. Und was noch schlimmer ist, wir haben einen Austauschstudenten aus Moulmein in Burma, der, wie ich glaube, mehr über dieses Thema weiß als ich.«

»Siam?« fragte Marie und umarmte ihn. »Das ist Thailand.«

»Ja, heute ist das Thailand.«

»Deine Frau, deine Kinder? Tut es weh, David?«

Er sah sie an und erkannte wieder einmal, wie sehr er diese Frau liebte. »So weh kann es mir gar nicht tun, wo ich es doch nicht klar sehen kann. Manchmal hoffe ich, daß ich mich nie mehr daran erinnere.«

»Ich denke da anders. Ich möchte, daß du sie siehst, sie hörst und sie fühlst. Und ich weiß, daß ich sie auch liebe.«

»O Gott!« Er hielt sie in den Armen, und die Wärme ihrer beiden Körper gehörte nur ihnen allein.

Die Leitung war schon zum zweitenmal besetzt, und Webb legte den Hörer auf und wandte sich wieder W. F. Verllas Siam unter Rama III. zu, um nachzusehen, ob der burmesische Austauschstudent mit dem, was er über Ramas II. Konflikt mit dem Sultan von Kedah über die Insel Penang sagte, recht gehabt hatte. Eine Auseinandersetzung in den erhabenen Gefilden der Wissenschaft; an die Stelle der Pagoden von Moulmein, über die Kipling geschrieben hatte, war ein neunmalkluger

Austauschstudent getreten, der ohne jeden Respekt für Ältere und Erfahrenere war. Kipling hätte etwas dagegen unternommen.

Es klopfte, und dann öffnete sich die Tür, ehe David »Herein« sagen konnte. Es war der Leibwächter, der am Nachmittag auf dem Sportplatz mit ihm gesprochen hatte - inmitten der Menschenmenge, des Lärms und seiner Ängste.

»Herr Professor?«

»Sie sind Jim, nicht wahr?«

»Nein, ich bin Johnny. Aber das macht nichts. Kein Mensch erwartet von Ihnen, daß Sie sich unsere Namen merken.«

»Ist etwas?«

»Ganz im Gegenteil, Sir. Ich bin nur vorbeigekommen, um mich zu verabschieden - für uns alle, die ganze Gruppe. Die Luft ist sauber, und Sie sind wieder auf Normalstatus zurückgestuft. Befehl, nach B-l-L zurückzukehren.«

»Nach was?«

»Klingt albern, wie? Statt zu sagen >Kommen Sie zurück ins Hauptquartier< nennen sie es B-l-L, als ob sich das keiner zusammenreimen könnte.«

»Ich kann es nicht.«

»Basis - Eins - Langley. Wir sind vom CIA, alle sechs, aber ich nehme an, das wissen Sie.«

»Sie gehen? Sie alle?«

»Ja, allerdings.«

»Aber ... ich dachte, wir hätten hier eine Krise.«

»Die Luft ist sauber.«

»Mir hat keiner was gesagt. McAllister hat mir nichts gesagt.«

»Tut mir leid, den kenn' ich nicht. Wir haben einfach unsere Befehle.«

»Sie können doch nicht einfach hier hereinkommen und sagen, daß Sie weggehen, ohne irgendeine Erklärung! Man hat mir gesagt, ich stehe auf der Abschußliste. Ein Mann in Hongkong will mich töten!«

»Nun, ich weiß nicht, ob man Ihnen das so gesagt hat oder ob Sie sich das selbst eingeredet haben, ich weiß nur, daß wir ein Problem der Priorität A in Newport News haben. Wir brauchen noch unsere Einweisung und müssen uns dann dieser Sache annehmen.«

»Priorität A ...? Und was ist mit mir?«

»Sie sollten sich gründlich ausruhen, Herr Professor. Man hat uns gesagt, daß Sie das brauchen.« Der Mann von der CIA drehte sich ruckartig um, ging zur Tür hinaus und schloß sie hinter sich.

Nun, ich weiß nicht, ob man Ihnen das so gesagt hat oder ob Sie es sich selbst eingeredet haben ... Wie steht's mit Ihnen, Herr Professor? Fühlen Sie sich jetzt besser, wo wir hier sind, und so?

Parade? ... Scharade! Wo war McAllisters Nummer? Wo hatte er sie hingetan? Herrgott noch mal, er hatte sie zweimal, einmal zu Hause und einmal in seiner Schreibtischschublade -nein, in der Brieftasche! Er fand sie, und sein ganzer Körper zitterte vor Furcht und Zorn, als er wählte.

»Büro von Mr. McAllister«, sagte eine Frauenstimme.

»Ich dachte, das sei seine Direktleitung. So hat man es mir auch gesagt!«

»Mr. McAllister ist nicht in Washington, Sir. Wir haben Anweisung, in solchen Fällen die Anrufe entgegenzunehmen und zu notieren.«

»Wo ist er?«

»Das weiß ich nicht, Sir. Ich bin vom Zentralsekretariat. Er ruft jeden Tag einmal an. Darf ich ihm sagen, wer ihn sprechen wollte?«

»Das reicht nicht! Mein Name ist Webb, Jason Webb ... Nein, David Webb! Ich muß ihn sofort sprechen! Jetzt gleich!«

»Ich verbinde Sie mit der Abteilung, die seine dringenden Gespräche annimmt ...«

Webb knallte den Hörer aufs Telefon. Er hatte McAllisters Privatnummer; er wählte.

»Ja?« Wieder eine Frauenstimme.

»Mr. McAllister bitte.«

»Er ist leider nicht hier. Wenn Sie Ihren Namen und Ihre Telefonnummer hinterlassen wollen, gebe ich sie ihm.«

»Wann?«

»Nun, er wollte morgen oder übermorgen hier anrufen. Das tut er immer.«

»Sie müssen mir die Nummer geben, wo er jetzt ist, Mrs. McAllister! Ich nehme an, Sie sind Mrs. McAllister.«

»Das will ich doch hoffen. Seit achtzehn Jahren. Wer sind Sie?«

»Webb. David Webb.«

»O natürlich! Edward spricht zu Hause selten über berufliche Dinge - und in Ihrem Fall hat er das auch nicht getan -, aber er hat mir erzählt, was für furchtbar nette Leute Sie und Ihre Frau sind. Unser ältester Sohn, er ist noch auf dem Gymnasium, interessiert sich sehr für Ihre Universität. Im letzten Jahr sind seine Noten ein wenig schlechter geworden. Aber ich bin sicher, bis es soweit ist, wird er ...«

»Mrs. McAllister!« unterbrach sie Webb. »Ich muß Ihren Mann erreichen! Jetzt!«

»Oh, das tut mir schrecklich leid, aber ich glaube wirklich nicht, daß das möglich ist. Er ist im Fernen Osten, und ich habe natürlich keine Nummer, wo ich ihn dort erreichen kann. In Notfällen rufen wir immer das Außenministerium an.«

David legte auf. Er mußte Marie warnen - anrufen. Die Leitung mußte inzwischen frei sein; sie war fast eine Stunde belegt gewesen, und es gab niemanden, mit dem seine Frau eine Stunde lang telefoniert, auch nicht mit ihrem Vater, ihrer Mutter oder ihren beiden Brüdern in Kanada. Sie liebte sie alle sehr, aber ihre Lebensart war ihr fremd. Sie war weder so frankophil wie ihr Vater, noch ein Heimchen wie ihre Mutter, und obwohl sie ihre Brüder bewunderte, war sie ganz anders als diese grobschlächtigen Rancher. Sie hatte für sich ein anderes Leben gefunden, in Wirtschaftskreisen, mit ihrem Doktortitel und den Arbeiten, die sie für die kanadische Regierung geleistet hatte. Und am Ende hatte sie einen Amerikaner geheiratet.

Quel dommage.

Die Leitung war immer noch belegt! Herrgott, Marie!

Dann erstarrte Webb förmlich, sein ganzer Körper war einen Augenblick lang wie gelähmt! Er konnte sich kaum bewegen, riß aber alle Kräfte zusammen, raste aus seinem kleinen Büro, den Korridor hinunter, so schnell, daß zwei Studenten gegen die Wände taumelten und ein dritter gerade noch ausweichen konnte; plötzlich war er wie ein Besessener. Als er sein Haus erreichte, trat er auf die Bremse, daß die Reifen quietschten, sprang aus dem Wagen und rannte auf die Tür zu. Er blieb stehen, die Augen weit aufgerissen und plötzlich atemlos. Die Tür war offen, und auf dem eingedrückten Türblatt war ein roter Händabdruck - Blut.

Webb rannte hinein, stieß alles aus seinem Weg. Möbel krachten und Lampen zersplitterten, während er das Erdgeschoß durchsuchte. Dann hetzte er die Treppe hinauf, und jeder Nerv in ihm wartete auf ein Geräusch, und sein Killer-Instinkt war ihm ebenso klar wie die roten Flecken, die er an der Haustür gesehen hatte. In diesem Augenblick war er die Killermaschine -das tödliche Tier -, das Jason Borowski gewesen war. Und diese Tatsache akzeptierte er voll. Wenn seine Frau oben war, würde er jeden töten, der versucht hatte, ihr etwas anzutun - oder das bereits getan hatte.

Auf dem Boden liegend, schob er die Schlafzimmertür auf.

Die Explosion zerfetzte die Korridorwand. Er wälzte sich zur gegenüberliegenden Seite; er hatte keine Waffe, aber ein Feuerzeug hatte er. Er griff in die Hosentasche nach den Notizen, wie alle Lehrer sie machen, knüllte die Blätter zusammen, warf sich nach links und schnippte das Feuerzeug an; die Flamme war sofort da. Er warf den brennenden Papierknäuel ins Schlafzimmer, preßte sich mit dem Rücken gegen die Wand und schob sich vom Boden hoch. Sein Kopf fuhr herum, suchte die zwei anderen geschlossenen Türen in dem schmalen Obergeschoß. Plötzlich trat er zu, ein Krachen, noch eines, dann warf er sich wieder zu Boden und rollte sich in den schützenden Schatten zurück.

Nichts. Die zwei Räume waren leer. Wenn ein Feind da war, dann war er im Schlafzimmer. Aber inzwischen brannte der Bettüberwurf. Die Flammen züngelten schon zur Decke. Nur noch Sekunden.

Jetzt!

Er stürzte sich ins Zimmer, packte die brennenden Fetzen und schwang sie im Kreis, während er sich duckte und sich dann auf dem Boden wälzte, bis der Stoff nur noch Asche war - er wartete die ganze Zeit, daß ihn etwas Eiskaltes an der Schulter oder am Arm traf, und wußte zugleich, daß er damit fertig werden und seinen Feind erledigen konnte. Herrgott! Er war wieder Jason Borowski.

Da war nichts. Seine Marie war nicht da; da war nichts als eine primitive Vorrichtung mit einem Faden zu einer

Schrotflinte, die auf die Tür gerichtet war, für einen sicheren Treffer. Er stampfte die Flammen aus, sprang mit einem Satz zu einer Tischlampe und knipste sie an.

Marie! Marie!

Und dann sah er es. Ein Blatt Papier, das auf ihrer Bettseite auf dem Kissen lag.

»Eine Frau für eine Frau, Jason Borowski. Sie ist verwundet, aber nicht tot wie die meine. Sie wissen, wo Sie mich finden können, und sie auch, wenn Sie vorsichtig sind und Glück haben. Vielleicht kommen wir ins Geschäft, denn ich habe auch Feinde. Wenn nicht, was macht dann schon der Tod einer weiteren Tochter aus?«

Webb schrie auf, ließ sich auf die Kissen fallen und versuchte, die Wut und den Schrecken zurückzudrängen, die aus seiner Kehle hervorquollen, schob den Schmerz zurück, der in seinen Schläfen pulste. Dann drehte er sich um und starrte zur Decke, und eine schreckliche, dumpfe Lethargie übermannte ihn. Bilder, an die er sich seit langer Zeit nicht mehr erinnert hatte, kamen plötzlich wieder - Bilder, die er nicht einmal Morris Panov offenbart hatte. Körper, die unter seinem Messer zusammenbrachen, unter seinen Schüssen fielen - das waren keine eingebildeten Morde, sie waren echt. Menschen hatten ihn zu dem gemacht, was er war, aber sie hatten ihren Auftrag hervorragend ausgeführt. Er war der Mann geworden, den es nicht hätte geben dürfen. Doch er hatte keine andere Wahl gehabt. Er hatte überleben müssen - ohne zu wissen, wer er war.

Und jetzt kannte er die zwei Männer in ihm, die zusammen sein Wesen ausmachten. An den einen würde er sich immer erinnern, weil er es war, der er sein wollte, aber im Augenblick mußte er der andere sein - der Mann, den er verabscheute.

Jason Borowski erhob sich vom Bett und ging zu dem begehbaren Kleiderschrank und zu der verschlossenen dritten Schublade in der eingebauten Kommode. Er griff über sich und zog das Klebeband von einem Schlüssel an der Decke. Er schob ihn ins Schloß und zog die Schublade heraus. In der Schublade lagen zwei zerlegte Pistolen, vier Schlingen aus dünnem Draht auf Spulen, die er in der Hand verbergen konnte, drei Pässe auf drei verschiedene Namen, und sechs Ladungen Plastiksprengstoff, mit denen man ganze Zimmer in die Luft jagen konnte. Eine oder alle sechs würde er benutzen. David Webb würde seine Frau finden. Oder Jason Borowski würde zu dem Terroristen werden, von dem sich keiner je hätte träumen lassen. Ihm war es gleichgültig - man hatte ihm zu viel weggenommen. Mehr würde er nicht ertragen.

Borowski setzte die Pistolen zusammen. Jetzt waren beide schußbereit. Und er war auch bereit. Er ging zurück zum Bett, legte sich hin und starrte wieder zur Decke. Seine Strategie würde sich von selbst ergeben, das wußte er. Und dann würde die Jagd beginnen. Er würde sie finden - tot oder lebendig -, und wenn sie tot war - dann würde er töten, töten und wieder töten!

Wer auch immer es war, er würde ihm nie entkommen. Nicht Jason Borowski.

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