Kapitel 14

»Nein!« schrie Edward Newington McAllister und sprang von seinem Sessel hoch. »Das dürfen Sie mir nicht sagen. Das geht nicht! Damit werde ich nicht fertig. Ich will nichts davon hören!«

»Das müssen Sie aber, Edward«, sagte Major Lin Wenzu. »Es ist geschehen.«

»Es ist meine Schuld«, fügte der englische Arzt hinzu. Er stand vor dem Schreibtisch am Victoria Peak, dem Amerikaner gegenüber. »Jedes Symptom deutete auf rapiden neurologischen Verfall. Konzentrationsschwäche, Sehstörungen,

Appetitlosigkeit und entsprechender Gewichtsverlust - und besonders auffällig Krämpfe unter fast völliger Ausschaltung der bewußten Motorik. Ich war ehrlich der Ansicht, daß der Verfallsprozeß auf eine Krise zusteuerte.«

»Was, zum Teufel, soll das jetzt wieder bedeuten?«

»Daß sie im Sterben lag. Oh, nicht innerhalb von Stunden oder auch nur Tagen oder Wochen, aber jedenfalls unwiderruflich.«

»Könnte es sein, daß Sie recht gehabt haben?«

»Nichts wäre mir lieber als das, als wenigstens sagen zu können, daß meine Diagnose zumindest vernünftig war, aber das kann ich nicht. Um es ganz einfach auszudrücken, man hat mich aufs Glatteis geführt.«

»Hereingelegt?«

»Eindeutig, Herr Staatssekretär, und zwar auf äußerst unangenehme Weise. Ich bin in meiner Berufsehre verletzt worden. Dieses Miststück hat mich schamlos getäuscht, und dabei kennt sie wahrscheinlich nicht einmal den Unterschied zwischen einer Femur und Fieber. Alles, was sie getan hat, war kalkuliert, angefangen bei dem Theater, das sie mit der Schwester aufgeführt hat, bis zu dem Punkt, wo sie den Wachposten niedergeschlagen und seiner Kleidung beraubt hat. Jeder Schritt war geplant, und der einzige, der nicht wußte, was geschah, war ich.«

»Herrgott, ich muß Havilland erreichen!«

»Botschafter Havilland?« fragte Lin und hob die Brauen.

McAllister sah ihn an. »Vergessen Sie, daß Sie das gehört haben.«

»Ich werde nicht darüber sprechen, aber vergessen kann ich es nicht. fch muß immer im Auge behalten, wer mein Dienstherr ist.«

»Erwähnen Sie diesen Namen vor niemandem, Herr Doktor«, sagte McAllister.

»Ich habe ihn bereits vergessen.«

»Was kann ich sagen? Was tun Sie?«

»Das Menschenmögliche«, antwortete der Major. »Wir haben Hongkong und Kowloon in Abschnitte unterteilt und befragen jedes Hotel, nehmen jedes Melderegister unter die Lupe. Wir haben Polizei und Marinestreifen alarmiert, Kopien ihrer Personenbeschreibung verteilt, und die entsprechenden Dienststellen sind davon verständigt, daß die Auffindung dieser Frau höchste Priorität hat.«

»Mein Gott, was haben Sie gesagt? Wie haben Sie das erklärt?«

»Da konnte ich behilflich sein«, sagte der Arzt. »Angesichts meiner Dummheit war das das wenigste, was ich tun konnte. Ich habe ärztlichen Alarm ausgegeben. Indem wir das taten, konnten wir auch die Pflegerteams einschalten, die von sämtlichen Krankenhäusern ausgeschickt wurden und die natürlich für den Fall anderer ärztlicher Notfälle in Funkkontakt bleiben. Sie suchen die Straßen ab.«

»Was für ein ärztlicher Alarm?« fragte McAllister scharf.

»Nur minimale Informationen, aber Informationen der Art, die Unruhe erzeugen. Die Frau hat eine namentlich nicht näher bezeichnete Insel in der Meerenge von Luzon besucht, die wegen der dort grassierenden Seuche für internationale Reisende zum Sperrgebiet erklärt worden ist.«

»Indem unser Freund das getan hat«, unterbrach Lin, »konnte er die Teams dazu veranlassen, ohne Zögern auf sie zuzugehen und sie in Gewahrsam zu nehmen. Nicht, daß wir sonst an der Loyalität unserer Leute gezweifelt hätten, aber es gibt immer faule Eier, und die können wir uns im Augenblick nicht leisten. Ich bin ehrlich überzeugt, daß wir sie finden werden, Edward. Wir wissen alle, daß es sich bei ihr um eine auffällige Erscheinung handelt, groß, attraktiv, ihr Haar - und mehr als tausend Leute halten nach ihr Ausschau.«

»Ich kann nur hoffen, daß Sie recht haben. Trotzdem mache ich mir Sorgen. Sie hat ihre Grundausbildung von einem Chamäleon erhalten.«

»Wie bitte?«

»Nichts, Herr Doktor«, sagte der Major. »Das ist ein Fachausdruck in unserer Branche.«

»Oh?«

»Ich brauche die ganze Akte, und zwar vollständig!«

»Was, Edward?«

»Man hat sie beide in Europa gejagt. Jetzt sind sie getrennt, aber man jagt sie wieder. Was haben sie damals getan? Was werden sie jetzt tun?«

»Ein Anhaltspunkt? Ein Muster?«

»Ja, so etwas gibt es nämlich immer«, sagte McAllister und rieb sich die rechte Schläfe. »Entschuldigen Sie mich, meine Herren, ich muß Sie jetzt bitten zu gehen. Ich muß jetzt ein schreckliches Telefongespräch führen.«

Marie versetzte Kleider und zahlte für einige andere Kleidungsstücke ein paar Dollar drauf. Das Ergebnis war akzeptabel: Mit ihrem unter einem breitkrempigen Sonnenhut zurückgebundenen Haar war sie eine einfach aussehende Frau in einem Faltenrock und einer unauffälligen grauen Bluse, die jede Andeutung ihrer Figur verbarg. Die flachen Sandalen ließen sie kleiner wirken, und die imitierte Gucci-Handtasche machte sie zur typischen Touristin, was sie auf keinen Fall war. Sie rief das kanadische Konsulat an und ließ sich erklären, wie sie mit dem Bus dorthin gelangen konnte. Die Büros befanden sich im 14. Stock des Asian House in Hongkong. Sie nahm den Bus von der chinesischen Universität durch Kowloon und den Tunnel zur Insel, beobachtete die Straßen, durch die sie fuhr, und stieg an der richtigen Haltestelle aus. Sie fuhr mit dem Aufzug nach oben und stellte beruhigt fest, daß sie keiner der Männer, die mit ihr nach oben fuhren, eines zweiten Blickes würdigte; das war nicht die Reaktion, die sie gewöhnt war. Sie hatte in Paris gelernt - in der Schule eines Chamäleons -, wie man mit einfachen Dingen sein Aussehen verändert. Jetzt erinnerte sie sich an diese Lektionen.

»Ich weiß, daß das recht lächerlich klingen wird«, sagte sie beiläufig und mit etwas belustigt und zugleich verwirrt klingender Stimme zu der Sekretärin im Empfang, »aber ein entfernter Vetter mütterlicherseits ist hier tätig, und ich habe versprochen, ihn zu besuchen.«

»Das kommt mir nicht lächerlich vor.«

»Das wird es gleich, wenn ich Ihnen sage, daß ich seinen Namen vergessen habe.« Beide Frauen lachten. »Wir sind uns natürlich nie begegnet, und er legt auch wahrscheinlich gar keinen Wert auf meine Bekanntschaft; aber wie sollte ich das der Familie zu Hause sagen?«

»Wissen Sie, in welcher Abteilung er arbeitet?«

»Es hat, glaube ich, etwas mit Wirtschaft zu tun.«

»Das ist dann höchstwahrscheinlich die Handelsabteilung.« Die Sekretärin zog eine Schublade heraus und entnahm ihr ein schmales, weißes Buch, in dessen Umschlag eine kanadische Fahne eingeprägt war. »Hier ist unser Telefon Verzeichnis. Setzen Sie sich doch und sehen Sie das Buch durch.«

»Vielen Dank«, sagte Marie, ging zu einem ledergepolsterten Sessel und nahm Platz. »Mir ist das wirklich schrecklich unangenehm«, fügte sie dann hinzu und schlug das Buch auf. »Ich meine, ich müßte seinen Namen kennen. Ich bin sicher, Sie wissen, wie Ihr Vetter zweiten Grades mütterlicherseits heißt.«

»Liebes Kind, ich habe nicht die leiseste Ahnung.« Das Telefon klingelte, und die Sekretärin nahm ab.

Marie durchblätterte das Buch, las schnell und ließ ihren Blick die Spalten entlangwandern und suchte dabei einen Namen, mit dem sich ein Gesicht verband. Sie entdeckte drei, aber die Bilder, die sich ihr darstellten, waren verschwommen, die Gesichtszüge unklar. Dann sprangen ihr auf der zwölften Seite ein Gesicht und eine Stimme entgegen, als sie den Namen las. Catherine Staples.

Die eiskalte Catherine. Der Spitzname war unfair und lieferte kein korrektes Bild der Frau. Marie hatte Catherine Staples während ihrer Tätigkeit im Schatzamt in Ottawa kennengelernt, als sie und die Kollegen in ihrer Abteilung das Diplomatische Corps vor Übersee-Einsätzen instruierten. Staples war zweimal bei ihnen gewesen, einmal, um einen Auffrischungskurs über den Gemeinsamen Markt Europas durchzumachen ... und das zweite Mal - ja, natürlich - für Hongkong! Das lag dreizehn oder vierzehn Monate zurück, und obwohl man ihre

Freundschaft nicht gerade als eng bezeichnen konnte - vier oder fünf gemeinsam eingenommene Mittagessen und ein Abendessen, das Catherine zubereitet hatte, und dann eine Gegeneinladung seitens Maries -, hatte sie doch eine ganze Menge über die Frau erfahren, die ihre Arbeit so gut machte, daß sie darin die meisten Männer übertraf.

Zuallererst hatte sie ihr schneller Aufstieg in der Abteilung für Auswärtige Angelegenheiten ihre Ehe gekostet. Sie hatte für den Rest ihres Lebens der Ehe abgeschworen, hatte sie erklärt, da die Reisetätigkeit und die unsinnige Arbeitszeit in ihrem Beruf für jeden Mann, mit dem zusammenzuleben es sich lohnte, unerträglich wären. Staples war jetzt Mitte der Fünfzig, eine schlanke, energische Frau von mittlerer Größe, die sich modisch, aber einfach kleidete. Zu Männern und Frauen, die für die Arbeit, die man ihnen ohne eigenen Ehrgeiz zugeteilt hatte, nicht qualifiziert waren, konnte sie freundlich, ja liebenswürdig sein, dafür aber zu den Verantwortlichen, gleich welchen Ranges, von brutaler Härte. Scheinheiligkeit jeder Art war ihr verhaßt. Wenn man Catherine Staples mit einem Schlagwort charakterisieren wollte, dann war dies »hart, aber gerecht« ... Aber dann war sie auch oft eine sehr amüsante Person, die durchaus imstande war, sich über sich selbst lustig zu machen. Marie hoffte, daß sie in Hongkong fair sein würde.

»Da ist kein Name, der mir vertraut klingt«, sagte Marie, stand auf und brachte der Empfangsdame das Buch zurück. »Ich komme mir so dumm vor.«

»Haben Sie die leiseste Ahnung, wie er aussieht?«

»Danach habe ich nie gefragt.«

»Tut mir leid.«

»Mir noch viel mehr. Ich muß jetzt ein sehr peinliches Telefonat mit Vancouver führen ... oh, einen Namen habe ich entdeckt. Der hat nichts mit meinem Vetter zu tun, aber ich glaube, es ist die Freundin einer Freundin. Eine Frau namens Staples.«

»Unsere Katharina die Große? Ja, die ist allerdings hier, obwohl es eine Menge Leute hier gibt, die gar nichts dagegen einzuwenden hätten, wenn man sie zur Botschafterin beförderte und nach Osteuropa schickte - sie macht sie nervös. Die Frau ist klasse.«

»Oh, Sie meinen, sie ist jetzt im Haus?«

»Keine zehn Meter entfernt. Wollen Sie mir sagen, wie Ihre Freundin heißt, dann kann ich ja fragen, ob sie Zeit hat?«

Die Versuchung für Marie war groß, aber auf derart offiziellem Weg ging gar nichts. Wenn sich alles so entwickelt hatte, wie Marie glaubte, und man die befreundeten Konsulate bereits alarmiert hatte, dann könnte Catherine Staples sich genötigt sehen, mit den Behörden zu kooperieren. Wahrscheinlich würde sie das nicht tun, andererseits mußte sie auch die Integrität ihres Amtes wahren. Botschaften und Konsulate waren darauf angewiesen, sich gegenseitig Gefälligkeiten zu erweisen. Sie brauchte Zeit mit Catherine, und zwar nicht in einer offiziellen Umgebung. »Das ist sehr liebenswürdig von Ihnen«, sagte Marie zu der Sekretärin. »Meine Freundin würde sicher ganz aus dem Häuschen geraten ... Augenblick, haben Sie Katharina gesagt?«

»Ja. Katharina alias Catherine Staples. Glauben Sie mir, sie ist einmalig.«

»Das glaube ich Ihnen sofort, aber die Freundin meiner Bekannten heißt Christine. Du lieber Gott, heute habe ich aber wirklich nicht meinen besten Tag. Sie sind sehr liebenswürdig gewesen, also will ich Ihnen nicht länger auf den Füßen stehen.«

»War mir doch ein Vergnügen, liebes Kind. Sie sollten mal sehen, was da für Leute kommen, die sich einbilden, sie hätten eine Cartier-Uhr für ein Butterbrot gekauft, bis sie dann stehenbleibt und ein Juwelier ihnen sagt, daß die Uhr anstatt eines Werks bloß zwei Gummibänder hat.« Der Blick der Sekretärin fiel auf die Gucci-Handtasche mit den zwei auf dem Kopf stehenden Gs. »Ts, ts«, machte sie leise.

»Wie bitte?«

»Nichts. Viel Glück mit Ihrem Telefonat.«

Marie wartete eine Weile in der Halle des Asian House, ging dann hinaus und schlenderte fast eine Stunde lang auf der überfüllten Straße vor dem Eingang auf und ab. Es war kurz nach Mittag, und sie überlegte, ob Catherine sich wohl überhaupt die Mühe machte, zu Mittag zu essen - ein gemeinsames Mittagessen wäre ganz bestimmt eine gute Idee. Außerdem gab es noch eine weitere Möglichkeit, vielleicht auch eine Unmöglichkeit, aber immerhin eine, um die sie beten konnte, falls sie noch wußte, wie das ging. David könnte auftauchen, aber dann nicht als David, sondern als Jason Borowski, und das könnte jeder sein. Ihr Mann in der Maske Borowskis würde viel geschickter sein; sie hatte in Paris eine Probe seines Geschicks erlebt, und da war er wie ein Wesen aus einer anderen Welt gewesen, einer tödlichen Welt, wo ein einziger Fehltritt einem Menschen das Leben kosten konnte. Jeder Schritt wurde in drei oder vier Dimensionen geplant. Was, wenn ich ...? Was, wenn er ...? In dieser Welt der Gewalt spielte der Intellekt eine viel bedeutendere Rolle, als die nicht gewalttätigen Intellektuellen je zugegeben hätten - in dieser Welt, die sie als barbarisch verabscheuten, wären sie einfach umgekommen, weil sie nicht schnell und nicht gründlich genug zu denken vermochten. Cogito ergo - nichts. Warum dachte sie so etwas? Sie gehörte in die normale Welt, und ebenso auch David! Und dann war ihr die Antwort plötzlich sonnenklar. Man hatte sie zurückgeschleudert in jene andere Welt; sie mußten überleben und einander finden.

Da war sie! Catherine Staples kam aus dem Asian House und bog nach rechts. Sie war vielleicht zwölf Meter von ihr entfernt; Marie fing zu laufen an, bahnte sich einen Weg durch die

Passanten und versuchte, sie einzuholen. Versuche nie zu laufen, das macht dich auffällig. Das ist mir egal! Ich muß mit ihr reden!

Catherine Staples strebte plötzlich quer über den Bürgersteig auf die Straße zu. Ein Wagen des Konsulats wartete am Randstein auf sie; das war an dem Ahornblatt zu erkennen, das auf die Türe aufgemalt war. Sie wollte einsteigen.

»Nein! Warten Sie!« rief Marie, stürzte sich durch die Menge auf die Tür zu und packte den Griff, als Catherine gerade dabei war, die Tür zuzumachen.

»Wie bitte?« rief Catherine Staples, und der Fahrer fuhr auf dem Sitz herum und hatte plötzlich eine Pistole in der Hand.

»Bitte! Ich bin das! Ottawa. Die Kurse.«

»Marie! Das bist du!«

»Ja. Ich stecke in der Klemme und brauche deine Hilfe.«

»Steig ein«, sagte Catherine Staples und rutschte zur Seite. »Stecken Sie das alberne Ding weg«, befahl sie dem Fahrer. »Das ist eine Freundin von mir.«

Unter dem Vorwand, die britische Delegation habe sie kurzfristig zu einem Gespräch eingeladen - was während der Konferenzen über die 1997er Verträge häufig geschehen war -, wies Catherine Staples den Fahrer an, sie am Anfang der Food Street in der Causeway Bay abzusetzen. Food Street war ein faszinierendes Schauspiel von rund dreißig Restaurants im Bereich von nur zwei Häuserblocks. Jeglicher Fahrzeugverkehr war auf der Straße verboten, was freilich völlig unnötig war, da es auch ohne ein solches Verbot keine Möglichkeit gegeben hätte, daß irgendein Fahrzeug sich seinen Weg durch die Menschenmassen hätte bahnen können, die dort auf der Suche nach einem von etwa viertausend Tischen waren. Catherine führte Marie zum Hintereingang des Restaurants. Sie klingelte, und die Tür öffnete sich fünfzehn Sekunden später, und die Gerüche hundert asiatischer Speisen schlugen ihnen entgegen.

»Miss Staples, was für ein Vergnügen, Sie zu sehen«, sagte der Chinese in der weißen Schürze des Küchenchefs. »Bitte, bitte. Für Sie haben wir immer einen Tisch.«

Während sie durch das Chaos der riesigen Küche gingen, wandte sich Catherine Marie zu. »Gott sei Dank gibt es in diesem jämmerlich unterbezahlten Beruf wenigstens einige Privilegien. Der Besitzer hat Verwandte in Quebec - ein verdammt gutes Restaurant an der St. John Street - und ich sorge dafür, daß sein Visum, wie man hier sagt, >schnell, schnell< bearbeitet wird.«

Catherine deutete mit einer Kopfbewegung auf einen der wenigen freien Tische im hinteren Teil des Restaurants, in der Nähe der Küchentür. Als sie Platz genommen hatten, bot ihnen der beständige Strom von Kellnern, die pausenlos durch die Pendeltüren hin und her rasten, perfekte Tarnung.

»Danke, daß du an ein solches Lokal gedacht hast«, sagte Marie.

»Meine Liebe«, erwiderte Catherine Staples mit ihrer kehligen, ausdrucksstarken Stimme, »jemand, der so aussieht wie du, sich so kleidet, wie du jetzt angezogen bist, und sich so schminkt, will offensichtlich in keiner Weise auffallen.«

»Das ist noch milde ausgedrückt, wie es immer heißt. Werden die Leute, mit denen du zum Essen verabredet bist, die Geschichte von der britischen Delegation glauben?«

»Aber sofort. Das Mutterland setzt seine wortgewaltigsten Leute ein. Beijing kauft riesige Mengen Weizen von uns - aber das weißt du ja genausogut wie ich, und in Dollar und Cent ausgedrückt, vielleicht sogar besser.«

»Ich bin nicht mehr ganz auf dem laufenden.«

»Ja, verstehe.« Catherine Staples nickte und sah Marie streng und doch freundlich an. Ihre Augen blickten fragend. »Ich war damals hier, aber wir haben die Gerüchte gehört und auch die europäischen Zeitungen gelesen. Wenn ich sage, daß wir schockiert waren, so ist das wohl nur ein gelinder Ausdruck für das, was diejenigen von uns, die dich gekannt haben, wirklich empfanden. In den Wochen danach versuchten wir alle, mehr zu erfahren, aber man sagte uns, wir sollten uns nicht darum kümmern, das Thema fallenlassen - dir zuliebe. >Kümmern Sie sich nicht darumc, hat man uns immer wieder gesagt ... >Es liegt in ihrem größten Interesse, daß Sie sich um nichts kümmern.< Natürlich haben wir am Ende gehört, daß du in allen Punkten völlig rehabilitiert worden bist - Herrgott, wie beleidigend das doch nach all dem klingt, was du durchmachen mußtest! Und dann bist du einfach vom Erdboden verschwunden, und niemand hat mehr etwas über dich gehört.«

»Man hat dir die Wahrheit gesagt, Catherine. Es lag in meinem Interesse - unserem Interesse - unterzutauchen. Man hat uns monatelang versteckt gehalten, und als wir schließlich wieder leben durften wie andere Leute auch, dann an einem abgelegenen Ort unter einem Namen, den nur wenige kannten. Aber bewacht wurden wir immer noch.«

»Wir?«

»Ich habe den Mann geheiratet, von dem du in den Zeitungen gelesen hast. Natürlich war er nicht der Mann, den die Zeitungen aus ihm gemacht haben; er war ein Untergrundagent der amerikanischen Regierung. Für diesen seltsamen Auftrag hat er einen großen Teil seines Lebens aufgegeben.«

»Und jetzt bist du in Hongkong und sagst mir, daß du in der Klemme steckst.«

»Ich bin in Hongkong und stecke ernsthaft in der Klemme.«

»Darf ich davon ausgehen, daß die Ereignisse des letzten Jahres mit deinen augenblicklichen Problemen in Verbindung stehen?«

»Ich glaube, das darfst du.«

»Was kannst du mir sagen?«

»Alles, was ich weiß, weil ich deine Hilfe brauche. Ich habe nicht das Recht, dich um Hilfe zu bitten, wenn du nicht alles weißt, was ich weiß.«

»Ich mag es, wenn man die Dinge beim Namen nennt. Nicht nur, weil das Klarheit schafft, sondern auch, weil es gewöhnlich den Menschen definiert, der mit einem spricht. Du willst damit auch sagen, daß ich wahrscheinlich überhaupt nichts tun kann, wenn ich nicht alles weiß.«

»So habe ich es nicht gesehen, aber wahrscheinlich hast du recht.«

»Gut. Ich habe dich auf die Probe gestellt. In der Diplomatie ist heute diese Art von Offenheit gleichzeitig Tarnung und Werkzeug geworden. Man setzt diese Taktik häufig ein, um den Gegner zu entwaffnen. Ich beziehe mich damit auf die jüngsten Informationen aus deinem neuen Vaterland - neu als Ehefrau natürlich.«

»Ich bin Wirtschaftswissenschaftlerin, Catherine, nicht Diplomatin.«

»Wenn du Gebrauch machst von all deinen Talenten, die ich kenne, kannst du in Washington ebenso Karriere machen wie in Ottawa. Aber dann hättest du nicht die Anonymität, die du in deinem neuen Leben brauchst.«

»Wir brauchen sie. Nur darauf kommt es an.«

»Ich habe dich noch einmal auf die Probe gestellt. Du warst nicht ohne Ehrgeiz. Du liebst diesen Mann, den du geheiratet hast.«

»Ja. Ich will ihn finden. Ich will ihn wiederhaben.«

Catherines Kopf ruckte zurück und sie riß die Augen auf. »Er ist hier!«

»Irgendwo. Das ist ein Teil der Geschichte, die ich dir erzählen will.«

»Ist sie kompliziert?«

»Sehr.«

»Kannst du dich noch etwas gedulden und sie zurückhalten -das meine ich wörtlich, Marie -, bis wir irgendwo sind, wo es ruhiger ist?«

»Ich habe Geduld von einem Mann gelernt, dessen Leben drei Jahre lang vierundzwanzig Stunden am Tag davon abhing.«

»Du lieber Gott. Hast du Hunger?«

»Ich bin am Verhungern. Auch das gehört zu der Geschichte. Könnten wir bestellen?«

»Das dim sum würde ich nicht nehmen, das ist zu stark gebraten. Aber die Ente, die es hier gibt, ist die beste von ganz Hongkong ... Kannst du wirklich warten, Marie? Würdest du lieber gehen?«

»Ich kann warten. Mein ganzes Leben ist sozusagen in der Schwebe. Auf eine halbe Stunde kommt es da nicht an. Und wenn ich nichts esse, kann ich sowieso nicht richtig erzählen.«

»Ich weiß. Das gehört auch mit zu der Geschichte.«

Sie saßen einander in Catherines Büro gegenüber, zwischen sich ein Beistelltischchen, und tranken Tee.

»Ich glaube«, sagte Catherine, »ich habe gerade etwas gehört, was auf den eklatantesten Amtsmißbrauch in dreißig Jahren Auswärtigen Dienstes hinausläuft - auf unserer Seite natürlich. Sofern ich nicht etwas gründlich mißverstehe.«

»Das soll heißen, daß du mir nicht glaubst.«

»Ganz im Gegenteil, meine Liebe, das alles kannst du gar nicht erfunden haben. Du hast völlig recht. Die ganze verdammte Geschichte ist voll von unlogischer Logik.«

»Das habe ich nicht gesagt.«

»Das war auch nicht nötig. Es liegt auf der Hand. Dein Mann wird scharfgemacht, und dann schießt man ihn ab wie eine Nuklearrakete. Warum?«

»Das habe ich dir doch gesagt. Es gibt einen Mann, der Menschen tötet und behauptet, er sei Jason Borowski. Die Rolle, die David drei Jahre lang gespielt hat.«

»Ein Killer ist ein Killer, ganz gleich, welchen Namen er annimmt, ob es nun Dschingis-Khan oder Jack the Ripper oder meinetwegen Carlos der Schakal ist. Selbst der Meuchelmörder Jason Borowski. Man stellt die Fallen für solche Männer mit Zustimmung der Fallensteller auf.«

»Ich verstehe dich nicht, Catherine.«

»Dann hör mir zu. Hier spricht jemand aus der guten alten Zeit. Weißt du noch, wie ich mich von dir über den Gemeinsamen Markt unter besonderer Betonung der Ostgeschäfte informieren ließ?«

»Ja, wir haben uns gegenseitig bekocht. Dein Essen war besser.«

»Ja, das war es. Aber in Wirklichkeit bin ich zu dir gekommen, um zu lernen, wie ich meine Kontaktleute im Ostblock davon überzeugen konnte, daß ich imstande war, die schwankenden Wechselkurse so einzusetzen, daß bei uns getätigte Käufe für sie unendlich lukrativer waren. Und das habe ich getan. Moskau war wütend.«

»Catherine, was, zum Teufel, hat das mit mir zu tun?«

Catherine Staples sah Marie an. Hinter ihrer Freundlichkeit verbarg sich unbeugsame Härte. »Ich will es dir deutlicher erklären. Wenn du überhaupt darüber nachgedacht hast, dann hast du bestimmt angenommen, ich sei nach Ottawa gekommen, um die europäische Wirtschaft besser zu verstehen und damit meine Arbeit besser tun zu können. In gewisser Hinsicht stimmte das auch, aber das war nicht der wirkliche Grund. Tatsächlich war ich bei dir, um zu lernen, wie man die schwankenden Wechselkurse der verschiedenen Währungen nutzen und unseren potentiellen Kunden besonders vorteilhafte Abschlüsse anbieten konnte. Wenn die Deutsche Mark stieg, verkauften wir gegen Francs oder Gulden oder was auch immer. Das war ein Bestandteil des Vertrages.«

»Aber das brachte uns doch nichts ein.«

»Wir waren auch nicht auf Profite aus, wir wollten uns neue Märkte erschließen. Die Profite würden später kommen. Du hast dich klar und deutlich über Wechselkursspekulationen geäußert. Du hast die Nachteile dieser Spekulationen angeprangert, und ich mußte lernen, mit üblen Methoden zu arbeiten - natürlich im Dienst einer guten Sache.«

»Also gut, du hast mein Fachwissen angezapft, ohne daß ich wußte, wozu -«

»Das Ganze mußte natürlich völlig geheim bleiben.«

»Ja, ich verstehe. Aber was hat das mit dem zu tun, was ich dir jetzt erzählt habe?«

»Ich wittere Unrat, und ich kann mich auf meine Nase verlassen. Ebenso wie ich meine Gründe hatte, mich in Ottawa an dich zu wenden - Gründe, von denen ich dir nichts gesagt habe -, haben die Leute, die euch das antun, weitreichendere Gründe als nur die, den Mann zu fangen, der die Rolle deines Mannes spielt.«

»Warum sagst du das?«

»Dein Mann hat es vor mir gesagt. Hier handelt es sich in erster Linie und völlig korrekt um eine Polizeiangelegenheit, ja sogar eine internationale Polizeiangelegenheit, um die Interpol sich kümmern müßte. Die sind für so etwas viel besser qualifiziert als Ministerien, als die CIA oder der MI-6. Der Geheimdienst befaßt sich normalerweise nicht mit nichtpolitischen Kriminellen - alltäglichen Mördern -, das können sie sich gar nicht leisten. Mein Gott, wenn diese Esel sich in die Arbeit der Polizei einmischten, würden sie ja doch bloß ihre Tarnung in Gefahr bringen.«

»McAllister war da anderer Ansicht. Er hat behauptet, die besten Leute im Geheimdienst der USA und Großbritanniens seien damit beschäftigt. Er sagte, wenn dieser Killer, der sich als mein Mann ausgibt - als das, was mein Mann in den Augen vieler war -, wenn dieser Killer einen Spitzenpolitiker ermordete oder einen Bandenkrieg anzettelte, geriete Hongkongs Status sofort in Gefahr. Peking würde schnell handeln und die Macht übernehmen, unter dem Vorwand des Siebenundneunziger-Vertrages. >Asiaten dulden keine ungehorsamen Kinder.< Das hat er wörtlich gesagt.«

»Das kann ich weder akzeptieren noch glauben!« erwiderte Catherine Staples. »Der Staatssekretär ist entweder ein Lügner oder nicht ganz bei Trost! Er hat dir jeden Grund genannt, der unsere Geheimdienste veranlassen sollte, sich aus der Sache herauszuhalten, die Finger davon zu lassen! Schon der bloße Verdacht auf eine Geheimoperation wäre katastrophal. Das könnte die Falken im Zentralkomitee auf den Plan rufen. Doch wie dem auch sei, ich glaube von dem, was er gesagt hat, kein Wort. London würde das nie zulassen, würde nicht einmal erlauben, daß der MI-6 auch nur erwähnt wird.«

»Catherine, du irrst dich. Du hast mir nicht richtig zugehört. Der Mann, der nach Washington flog, um die Treadstone-Akte zu holen, war Brite und war vom MI-6. Du lieber Gott, er ist um dieser Akte willen ermordet worden.«

»Das habe ich schon gehört, ich glaube es nur einfach nicht. Das Auswärtige Amt würde unter allen Umständen darauf bestehen, daß die Polizei, und nur die Polizei sich um diesen Schlamassel kümmert. Die würden nicht einmal zulassen, daß

MI-6 im selben Restaurant mit einem Kriminalbeamten ißt, nicht einmal am selben Imbißstand. Glaube mir, meine Liebe, ich weiß, wovon ich rede. Wir leben in sehr schwierigen Zeiten, und für solche Spielchen ist keine Zeit, schon gar nicht für Geheimdienstoperationen, wegen eines Meuchelmörders. Nein, man hat dich aus einem ganz anderen Grund hierhergeholt und deinen Mann gezwungen, dir zu folgen.«

»Um Himmels willen, was ist das für ein Grund?« rief Marie und beugte sich in ihrem Stuhl vor.

»Ich weiß es nicht. Vielleicht weiß es jemand anders.«

»Wer?«

»Ich habe nicht die leiseste Ahnung.«

Schweigen. Zwei hochintelligente Frauen überlegten jedes Wort, das gesprochen worden war.

»Catherine«, sagte Marie schließlich. »Ich akzeptiere ja, daß alles, was du sagst, logisch ist, aber du hast auch gesagt, daß hinter dem Ganzen unlogische Logik steckt. Nehmen wir einmal an, ich hätte recht, und die Männer, die mich gefangengehalten haben, waren keine Killer und keine Kriminellen, sondern Bürokraten, die lediglich Anweisungen befolgten, die sie gar nicht begriffen, und gehen wir auch davon aus, daß sie nach Regierung aussahen. Das stand hnen im Gesicht geschrieben, das habe ich an ihren Ausreden gemerkt und an ihrer Sorge um mein Wohlbefinden. Ich weiß, du glaubst, daß der McAllister, von dem ich dir erzählt habe, ein Lügner oder ein Vollidiot ist, aber angenommen, er ist nur ein Lügner und keineswegs ein Vollidiot? Wenn wir davon ausgehen - und ich bin davon überzeugt -, dann sprechen wir von zwei Regierungen, die in diesen so schwierigen Zeiten gemeinsame Sache machen. Was dann?«

»Dann braut sich eine Katastrophe zusammen«, sagte Catherine Staples leise.

»Diese Katastrophe dreht sich um meinen Mann?«

»Falls du recht hast, ja.«

»Und möglich ist es, nicht wahr?« »Ich mag nicht einmal daran denken.«

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