Kapitel 27

»Die Frau ist ein Kurier, eine Person, der wir unser Vertrauen geschenkt haben«, fuhr der Redner fort, und seine Stimme schwoll dabei langsam an, wie die eines Sektenpredigers, der das Evangelium der Liebe verkündet, während er das Werk des Teufels vor Augen hat. »Ein Vertrauen, das nicht verdient, sondern guten Glaubens gegeben wurde, denn sie ist die Frau eines der unseren, eines tapferen Soldaten, eines erstgeborenen Sohns einer angesehenen Familie des wahren China. Ein Mann, der, während ich hier spreche, sein Leben aufs Spiel setzt, um unsere Feinde im Süden zu infiltrieren. Auch er hat ihr vertraut ... und sie hat sein Vertrauen verraten. Sie hat hren tapferen Mann verraten, uns alle verraten! Sie ist nichts als eine Hure, die mit dem Feind schläft! Und während sie ihre Begierde befriedigt - wie viele Geheimnisse hat sie dabei enthüllt, wie tief reicht ihr Verrat? Ist sie vielleicht die Kontaktperson der Langnasen hier in Beijing? Ist sie es, die unseren Feinden sagt, worauf sie achten, was sie erwarten sollen?

Wie sonst hätte es zu diesem schrecklichen Tag kommen können? Unsere erfahrensten Männer haben unseren Feinden eine Falle gestellt, der sie erlegen wären, und dann wären wir frei gewesen von den Verbrechern aus dem Westen, die glauben, sich nur dadurch Reichtümer verschaffen zu können, indem sie vor denen im Staub liegen, die China quälen und peinigen. Man hat mir berichtet, daß sie heute morgen am Flughafen war. Am Flughafen! Wo die Falle ihren Anfang nahm! Hat sie ihren geilen Körper einem unserer Getreuen hingegeben, ihn vielleicht unter Drogen gesetzt? Hat er ihr vielleicht in berauschtem Zustand gesagt, was sie tun sollte, was sie unseren Feinden sagen sollte? Was hat diese Hure getan?«

Ein abgekartetes Spiel, dachte Borowski. Eine Anklage, die sich so sehr über die Fakten und die damit in Verbindung stehenden Erkenntnisse hinwegsetzte, daß selbst ein Gerichtshof in Moskau einen solchen Marionettenankläger mit Schimpf und Schande davongejagt hätte. Die Herrschaft des Schreckens in dem Stamm der Kriegsherren hielt an. Es gilt, die Ungetreuen auszumerzen und den Verräter zu finden und jeden zu töten, der auch nur entfernt des Verrats verdächtig ist.

Unter den Zuhörern erhob sich leise, aber immer lauter werdend, der Ruf »Hure!« und »Verräterin!«, während die gefesselte Frau versuchte, sich den zwei Wachen zu entwinden. Der Redner hob die Hände, um sich Ruhe zu verschaffen, die sofort eintrat.

»Ihr Liebhaber war ein verabscheuungswürdiger Journalist der Xinhua-Nachrichtenagentur, jenes verlogenen Organs des abscheulichen Regimes. Ich sage >war<, weil diese widerwärtige Kreatur seit einer Stunde tot ist, durch den Kopf geschossen. Man hat ihm die Kehle durchgeschnitten, damit alle wissen, daß auch er ein Verräter war! Ich selbst habe mit dem Mann dieser Hure gesprochen, weil ich ihm Ehre erweise. Er hat mich angewiesen, so zu handeln, wie es die Geister unserer Ahnen verlangen. Er will nichts mehr mit ihr zu tun haben -«

»Aiyaaa!« Mit der Kraft der Verzweiflung riß die Frau sich den Knebel vom Mund. »Lügner!« schrie sie. »Mörderbrut! Ihr habt einen anständigen Mann umgebracht, und ich habe niemanden verraten! Mich hat man verraten! Ich war nicht am Flughafen, und das wissen Sie auch! Ich habe diese Langnase nie gesehen, und auch das wissen Sie! Ich wußte nichts von dieser Falle für westliche Verbrecher, und Sie können die Wahrheit in meinem Gesicht lesen! Wie hätte ich davon wissen können?«

»Indem du mit einem ergebenen Diener unserer Sache gehurt hast und ihn verdorben, ihn unter Drogen gesetzt hast! Indem du dich ihm hingegeben hast und so lange mit ihm Unzucht getrieben hast, bis die Kräuter ihn wahnsinnig gemacht haben!«

»Du bist wahnsinnig! Du sagst diese Dinge, diese Lügen, weil du meinen Mann nach Süden geschickt hast und viele Tage zu mir gekommen bist, zuerst mit Versprechungen, dann mit Drohungen. Ich sollte dir zu Diensten sein. Das sei meine Pflicht, hast du gesagt! Du bist bei mir gelegen, und ich habe Dinge erfahren -«

»Weib, du widerst mich an! Ich bin zu dir gekommen und habe dich angefleht, deinen Mann und unsere Sache nicht zu entehren! Deinen Liebhaber aufzugeben und Vergebung zu suchen.«

»Eine Lüge! Männer sind zu dir gekommen, Taipans aus dem Süden, die mein Mann dir geschickt hat, Männer, die man in deinem hohen Haus nicht sehen durfte. Sie kamen insgeheim in die Läden unter meiner Wohnung, der Wohnung einer sogenannten ehrenwerten Witwe - eine weitere Lüge, die du mir und meinem Kind angehängt hast!«

»Hure!« kreischte der Mann mit dem Schwert und den fanatischen Augen.

»Lügner!« schrie die Frau zurück. »Wie du hat auch mein Mann viele Frauen, und ich bin ihm gleichgültig! Er schlägt mich, und du sagst mir, das sei sein Recht, weil er ein großer Sohn des wahren China ist! Und ich trage Botschaften von einer Stadt zur anderen, die mir Folter und Tod eintragen würden, wenn man sie bei mir fände, und ernte dafür nur Schmähungen und bekomme nicht einmal das Geld für die Bahnfahrt, weil du sagst, es sei meine Pflicht! Wovon soll denn meine Tochter satt werden? Meine Tochter - das Kind, das dein großer Sohn Chinas nicht kennen will, weil er nur Söhne wollte!«

»Die Geister wollten dir keine Söhne gewähren, weil sie Weiber geworden wären, die einem großen Haus Chinas Schande gebracht hätten! Du bist die Verräterin! Du bist zum Flughafen gegangen und hast Verbindung mit unseren Feinden aufgenommen und damit zugelassen, daß ein Verbrecher entkam! Dir wäre es gleichgültig, wenn wir tausend Jahre versklavt wären - «

»Und du würdest uns auf zehntausend Jahre zu Vieh machen!«

»Du weißt nicht, was Freiheit ist, Weib!«

»Freiheit? Aus deinem Mund? Du willst mir einreden - willst uns einreden-, du würdest uns die Freiheiten zurückgeben, die unsere Eltern und Großeltern in dem wahren China hatten, aber welche Freiheiten, du Lügner! Die Freiheit, die blinden Gehorsam verlangt, die meinem Kind den Reis nimmt, einem Kind, das sein Vater verleugnet, weil er nur an Herren glaubt -Kriegsherren, Herren der Erde! Aiya!« Die Frau wandte sich der Menge zu. »Ihr!« schrie sie. »Ihr alle! Ich habe euch nicht verraten, und unsere Sache auch nicht. Aber ich habe vieles gelernt. Es war nicht so, wie dieser große Lügner sagt! Es gibt viel Leid und Tyrannei, wie wir alle wissen, aber auch früher hat es Leid gegeben und Tyrannei! ... mein Liebhaber war kein böser Mensch, kein blinder Gefolgsmann des Regimes, sondern ein gebildeter Mann, ein sanftmütiger Mann, einer, der an das ewige China glaubte! Er wollte die Dinge, die auch wir wollen! Er verlangte nur Zeit, um all das Böse zu korrigieren, das die alten Männer in den Komitees verseucht hatte, die uns führen. Vieles wird sich ändern, hat er mir gesagt. Einiges davon spürt man bereits. Jetzt! ... Laßt nicht zu, daß der Lügner mir das antut! Laßt nicht zu, daß er es euch antut!«

»Hure! Verräterin!« Die Klinge zischte durch die Luft und enthauptete die Frau. Ihr kopfloser Körper fiel nach links, ihr Kopf nach rechts, und aus beiden spritzte das Blut. Dann ließ der Erweckungsprediger das Schwert herunterfahren, als wollte er ihre Überreste in Stücke zerhacken, aber das Schweigen, das sich über die Menge gesenkt hatte, lastete schwer und drückend. Er hielt inne; er hatte den Faden verloren. Aber er knüpfte gleich wieder daran an. »Mögen die geheiligten Geister unserer Ahnen ihr Frieden und Läuterung gewähren!« schrie er, und seine Augen schweiften über die Menge, starrten jeden einzelnen an. »Denn ich beende ihr Leben nicht aus Haß, sondern voll Mitgefühl für ihre Schwäche. Sie wird Frieden und Vergebung finden. Die Geister werden verstehen - aber wir müssen hier im Mutterland verstehen! Wir dürfen keinen Fußbreit von unserem Weg zum Ziel abweichen - wir müssen stark sein! Wir müssen -«

Borowski hatte genug von diesem Wahnsinnigen. Er war der fleischgewordene Haß. Und er war ein toter Mann. Irgendwann, irgendwo würde er sterben. Vielleicht heute noch - wenn möglich, heute!

Delta zog das Messer aus der Scheide und bewegte sich nach rechts, kroch durch das dichte Unterholz. Sein Pulsschlag war seltsam ruhig, und in ihm wuchs eine wütende Erkenntnis -David Webb war verschwunden. Es gab so viele Dinge, an die er sich aus jenen wolkenverhüllten, fernen Tagen nicht erinnern konnte, aber es gab auch viel, das für ihn jetzt wieder Gestalt annahm. Die Einzelheiten waren noch unklar, nicht aber seine Instinkte. Impulse lenkten ihn, und er war eins mit der Finsternis des Waldes. Der Dschungel war sein Verbündeter, denn er hatte ihn schon früher beschützt, ihn in jenen Tagen gerettet, an die er sich nicht klar erinnern konnte. Die Bäume und die Lianen und das Unterholz waren seine Freunde; er bewegte sich zwischen ihnen wie eine Wildkatze, mit sicherem Fuß und lautlos.

Er bog in der uralten Schlucht nach links und begann den Abstieg, den Blick die ganze Zeit auf den Baum gerichtet, wo der Killer so lässig stand. Der Redner hatte inzwischen seine Vorgehensweise geändert und sich damit auf die veränderte Stimmung in seinem Publikum eingestellt. Jetzt die tote Frau in Stücke zu hacken, wäre falsch gewesen, und er war ein Meister seiner Kunst, ein begnadeter Redner, der wußte, wann er Liebe predigen mußte und wann ewige Verdammnis.

Ein paar Helfer hatten schnell die Spuren des gewaltsamen Todes der Frau entfernt, und die zweite Frau wurde mit einer Geste des zeremoniellen Schwertes herbeigewinkt. Sie war höchstens achtzehn, ein hübsches Mädchen, und während sie nach vorne gezerrt wurde, weinte sie und übergab sich.

»Deine Tränen sind überflüssig, Kind«, sagte der Redner mit seiner väterlichsten Stimme. »Es war stets unsere Absicht, dich zu verschonen, weil man dir Pflichten abverlangt hat, für die du zu jung warst, weil dir das Privileg zuteil wurde, Geheimnisse zu erfahren, die dein Verständnis übersteigen. Die Jugend spricht häufig, wenn sie schweigen sollte ... Man hat dich in der Gesellschaft von zwei Brüdern aus Hongkong gesehen - aber nicht unseren Brüdern. Männer, die für die ehrlose englische Krone arbeiten, jene dekadente, geschwächte Regierung, die das Mutterland an die verkauft hat, die uns quälen. Sie haben dir billigen Tand gegeben, hübschen Schmuck und Rouge für deine Lippen, und französisches Parfüm aus Kowloon. Jetzt sprich, Kind, was hast du ihnen gegeben?«

Das junge Mädchen, dem immer noch Erbrochenes durch den Knebel sickerte, schüttelte wild den Kopf; die Tränen strömten ihr übers Gesicht.

»Sie hatte die Hand unter dem Tisch und zwischen den Beinen eines Mannes, das war in einem Cafe am Guangquem!« schrie einer aus der Menge.

»Das war eines der Schweine, die für die Briten arbeiten!« fügte ein anderer hinzu.

»Jugend läßt sich leicht verführen«, sagte der Redner und sah den Mann an, der gesprochen hatte, und seine Augen blitzten, als wollte er Schweigen gebieten. »In unseren Herzen ist Vergebung für die Verführten - solange die Verführung nicht zum Verrat führt.«

»Sie war am Ti-An-Men-Tor ...!«

»Sie war nicht am Tian An Men, das habe ich selbst festgestellt!« schrie der Mann mit dem Schwert. »Deine Information ist falsch. Die einzige Frage, die noch bleibt, ist ganz einfach, Kind! Hast du von uns gesprochen? Könnte es sein, daß deine Worte zu unseren Feinden gelangt sind? Hier oder im Süden?«

Das Mädchen wand sich auf dem Boden, und ihr ganzer Körper schwankte verzweifelt hin und her, als könne sie so die Anklage von sich abschütteln.

»Ich akzeptiere deine Unschuld, so wie ein Vater das würde, aber nicht deine Unvernunft, Kind. Du bist zu unvorsichtig in der Wahl deines Umgangs, in der Gier nach Tand. Wenn die nicht uns dienen, können sie gefährlich sein.«

Das Mädchen wurde einem fettleibigen, selbstgefällig blickenden Mann in mittleren Jahren zur »Unterweisung und Meditation« in Gewahrsam gegeben. Der Gesichtsausdruck des älteren Mannes ließ klar erkennen, daß er seinen Auftrag viel umfassender interpretieren würde, als der Redner das vorgeschrieben hatte. Und wenn er mit ihr fertig war, einer Kindfrau, die der nach jungen Mädchen gierenden Hierarchie Beijings Geheimnisse entlockt hatte - einer Hierarchie, die getreu den Worten Maos glaubte, solche Verbindungen würden ihre Lebenszeit verlängern - würde sie verschwinden.

Zweien der drei noch verbleibenden Chinesen wurde buchstäblich der Prozeß gemacht. Die erste Anklage lautete auf

Drogenhandel an der Achse Shanghai - Beijing. Ihr Verbrechen lag freilich nicht in der Verteilung von Narkotika, sondern darin, daß sie die Profite für sich behalten und riesige Geldsummen auf persönliche Konten bei zahlreichen Banken von Hongkong eingezahlt hatten. Einige der Zuhörer traten vor, um das Beweismaterial zu erhärten, mit der Erklärung, daß sie als nachgeordnete Verteiler den zwei »Bossen« große Bargeldsummen übergeben hätten, die nie in den geheimen Büchern der Organisation aufgezeichnet worden waren. Das war die erste Anklage, aber nicht die wichtigste. Die trug jetzt der Redner in seiner hohen Singsangstimme vor.

»Ihr reist in den Süden, nach Kowloon. Einmal, zweimal, häufig sogar dreimal pro Monat. Der Flughafen Kai-tak ... du!« schrie der Eiferer mit dem Schwert und deutete auf den Gefangenen zu seiner Linken. »Du bist heute nachmittag zurückgeflogen. Du warst gestern nacht in Kowloon. Gestern nacht! Kai-tak! Wir sind gestern nacht in Kai-tak verraten worden!« Der Redner ging mit langsamen, unheilverheißenden Schritten aus dem Licht der Fackeln auf die zwei versteinerten Männer zu, die vorne knieten. »Eure Ergebenheit dem Geld gegenüber ist größer als eure Ergebenheit für unsere Sache«, dröhnte er jetzt wie ein besorgter, aber zorniger Patriarch. »Brüder im Blut und Brüder im Diebstahl. Wir wissen das schon seit vielen Wochen, wissen es, weil in eurer Habgier soviel Angst war. Euer Geld mußte sich vermehren, so wie Ratten in der Gosse, und deshalb seid ihr zu den verbrecherischen Triaden in Hongkong gegangen! Wie emsig, wie unternehmerisch und doch wie unglaublich dumm! Glaubt ihr etwa, daß wir diese Triaden nicht kennen, oder sie uns? Glaubt ihr, daß es nicht Bereiche gibt, wo sich unsere Interessen treffen könnten? Glaubt ihr, daß die weniger Abscheu für Verräter empfinden als wir?«

Die zwei gefesselten Brüder warfen sich flehend auf die Knie, und aus ihren geknebelten Mündern klangen unartikulierte Laute, Bitten um Gehör. Der Redner ging auf den Gefangenen zu seiner Linken zu und riß den Knebel herunter, so daß die Schnur dem Mann ins Fleisch schnitt.

»Wir haben niemanden verraten, großer Herr!« kreischte er. »Ich habe niemanden verraten! Ich war in Kai-tak, ja, aber nur in der Menge. Um zu beobachten, Herr! Um mich daran zu erfreuen!«

»Mit wem hast du gesprochen?«

»Mit niemandem, großer Herr! O ja, mit dem Angestellten der Fluggesellschaft. Um meinen Flug für den nächsten Morgen zu bestätigen, Herr, das war alles! Ich schwöre es bei den Geistern unserer Ahnen. Denen meines jungen Bruders und den meinen, Herr.«

»Das Geld. Was ist mit dem Geld, das du gestohlen hast?«

»Nicht gestohlen, großer Herr. Ich schwör es! Wir glaubten in unseren stolzen Herzen - Herzen, die unsere große Sache stolz gemacht hat -, daß wir das Geld zum Vorteil des wahren China gebrauchen konnten! Jeder Yuan unseres Gewinns sollte der Sache zurückgegeben werden!«

Die Menge grölte, und immer wieder waren die Rufe »Verrat!« und »Dieb« zu hören. Der Redner hob die Arme, worauf wieder Stille eintrat.

»Mögen alle es erfahren«, sagte er langsam und immer lauter werdend. »Diejenigen in unserer wachsenden Schar, die vielleicht Gedanken an Verrat hegen, mögen gewarnt sein. In uns ist keine Gnade, weil man auch uns keine Gnade erwiesen hat. Unsere Sache ist rechtschaffen und rein, und der bloße Gedanke an Verrat ist widerwärtig. Verbreitet das. Ihr wißt nicht, wer wir sind oder wo wir sind - ob ein Beamter in einem Ministerium oder ein Angehöriger der Sicherheitspolizei. Wir sind nirgendwo und doch überall. Diejenigen, die schwanken und zweifeln, sind tot ... Die Verhandlung gegen diese stinkenden Hunde ist vorüber. Jetzt liegt es bei euch, meine Kinder.«

Das Urteil war schnell und einstimmig: schuldig im ersten Punkt, wahrscheinlich im zweiten. Die Strafe: Der eine Bruder würde sterben, der andere leben und nach Hongkong zurückgebracht werden, wo man das Geld abholen würde. Wer leben und wer sterben sollte, sollte nach dem alten Yj'-zang-h'-Ritual entschieden werden, wörtlich »ein Begräbnis«. Jeder der beiden Männer bekam ein Messer mit rasiermesserscharfer, gezackter Klinge. Gekämpft werden sollte in einem Kreis, der zehn Schritte durchmaß. Die beiden Brüder standen einander gegenüber, und das wilde Ritual begann, als der eine verzweifelt zustieß und der andere dem Angriff auswich, wobei seine Klinge das Gesicht des Angreifers aufriß.

Das Duell in dem tödlichen Kreis und die primitiven Reaktionen der Zuschauer darauf überdeckten alle Geräusche, die Borowski verursachte, der sich für schnelles Handeln entschieden hatte. Er rannte jetzt durch das Unterholz, brach Zweige ab und wischte das hohe Gras aus dem Weg, bis er nur noch sechs Meter hinter dem Baum war, wo der Killer stand. Er würde zurückkehren und sich noch näher an ihn heranarbeiten, aber zuerst kam d'Anjou. Echo mußte wissen, daß er da war.

Der Franzose und der letzte männliche chinesische Gefangene standen am rechten Rand des Kreises, von zwei Posten bewacht. Jason kroch vor, während die Menge die zwei Gladiatoren abwechselnd brüllend schmähte und anfeuerte. Einer der Kämpfer - beide waren jetzt über und über mit Blut beschmiert -hatte seinem Gegner einen fast tödlichen Stich mit dem Messer versetzt, aber das Leben, das er beenden wollte, wollte nicht aufgeben. Borowski war höchstens noch zwei oder drei Meter von d'Anjou entfernt; er tastete auf dem Boden herum und hob einen heruntergefallenen Zweig auf. Als die Menge jetzt wieder aufbrüllte, knickte er ihn zweimal ab. Von den drei Stücken, die er in der Hand hielt, streifte er das Laub ab und hatte jetzt drei einigermaßen gerade Stöcke in der Hand. Er zielte und warf den ersten in einem flachen Bogen, so daß er dem Franzosen vor die

Beine fiel. Der zweite traf Echo in der Kniekehle. D'Anjou nickte zweimal, um Delta zu verstehen zu geben, daß er seine Anwesenheit bemerkt hatte. Dann tat der Franzose etwas Seltsames. Er bewegte langsam den Kopf vor und zurück. Echo versuchte, ihm etwas zu sagen. Dann knickte plötzlich d'Anjous linkes Bein ein, und er fiel zu Boden. Der Posten zu seiner Rechten riß ihn unsanft in die Höhe, konzentrierte sich aber dann gleich wieder auf den blutigen Kampf der zwei Brüder.

Wieder schüttelte Echo langsam den Kopf und starrte dann nach links, den Blick auf den Killer gewandt, der ein paar Schritte nach vorne getreten war, um das tödliche Duell besser sehen zu können. Und dann drehte er den Kopf wieder herum und starrte jetzt den Fanatiker mit dem Schwert an.

Wieder brach d'Anjou zusammen, kam aber diesmal von selbst auf die Beine, ehe der Posten ihn berühren konnte. Im Aufstehen schob er die schmalen Schultern vor und zurück. Borowski atmete tief und schloß dann die Augen in einem kurzen Moment der Trauer, mehr konnte er sich nicht gestatten. Die Botschaft war klar. Echo schaltete sich selbst aus und forderte Delta auf, sich den Killer vorzunehmen - und dabei den fanatischen Henker umzubringen. D'Anjou wußte, daß er zu mitgenommen, zu schwach war zum Fliehen. Er wäre nur ein Klotz am Bein gewesen, und der Killer hatte Vorrang ... Marie hatte Vorrang. Echos Leben war vorüber. Aber der Tod des fanatischen Henkers würde sein Bonus sein, jenes Henkers, der auch ihn hinrichten würde.

Ein ohrenbetäubender Schrei füllte die Schlucht; Totenstille legte sich über die Menge. Borowskis Kopf fuhr nach links herum, wo er über die Zuschauer hinausblicken konnte. Was er sah, war ebenso widerwärtig wie das, was er in den letzten Minuten gesehen hatte. Der Fanatiker hatte einem der Kämpfer sein zeremonielles Schwert in den Nacken getrieben; jetzt zog er es heraus, während die blutbesudelte Leiche zusammenbrach und auf dem Boden liegenblieb. Dann hob der Priester des Todes den Kopf und sprach: »Arzt!«

»Ja, Herr?« sagte eine Stimme aus der Menge.

»Kümmere dich um den Überlebenden. Flicke ihn für seine bevorstehende Reise nach dem Süden so gut du kannst zusammen. Wenn ich zuließe, daß das hier fortgesetzt wird, dann wären am Ende beide tot, und der Zugang zu unserem Geld versperrt. Diese Familien bringen Jahre der Feindseligkeit ins Yj zang li! Schafft seinen Bruder weg und werft ihn mit den anderen in die Sümpfe. Sie alle werden Aas, Futter für die Vögel sein.«

»Ja, Herr.« Ein Mann mit einer schwarzen Arzttasche trat in den Kreis, während man die Leiche wegschleppte und am anderen Ende der Dunkelheit eine Tragbahre auftauchte. Alles war geplant, alles vorbereitet worden. Der Arzt gab dem stöhnenden, blutüberströmten überlebenden Bruder eine Spritze in den Arm, worauf dieser aus dem Kreis des Todes weggeschleppt wurde. Der Redner wischte sein Schwert mit einem Seidentuch ab, deutete dann mit einer Kopfbewegung auf die zwei noch verbliebenen Gefangenen.

Benommen sah Borowski zu, wie der Chinese neben d'Anj ou in aller Ruhe die zum Schein gefesselten Hände voneinander löste, sich an den Hals griff und das Tuch losband, das den Knebel in seinem Mund festgehalten und ihm nur kehlige Stöhnlaute gestattet hatte. Der Mann ging auf den Redner zu und sprach mit erhobener Stimme sowohl zu seinem Anführer als auch zu dessen Gefolgsleuten. »Er sagt nichts und verrät nichts, und doch beherrscht er unsere Sprache fließend und hatte hinreichend Gelegenheit, zu mir zu sprechen, ehe wir auf den Wagen gebracht wurden und man uns den Knebel angelegt hat. Selbst da habe ich noch mit ihm geredet, indem ich meinen Knebel lockerte und mich erbot, das auch bei ihm zu tun. Er weigerte sich. Er ist hartnäckig und auf seine korrupte Art tapfer, aber ich bin sicher, daß er etwas weiß, was er uns nicht nicht sagen will.«

»Tong ku, tong ku!« hallte es aus der Menge, eine Aufforderung, ihn zu foltern, aber der falsche Gefangene schüttelte den Kopf. »Er ist alt und gebrechlich und würde sofort wieder das Bewußtsein verlieren, wie das auch schon vorher geschehen ist«, meinte er. »Deshalb schlage ich mit Erlaubnis unseres Führers folgendes vor.«

»Wenn Aussicht auf Erfolg besteht, was immer du wünschst«, sagte der Mann mit dem Schwert.

»Wir haben ihm die Freiheit angeboten, falls er uns sagt, was er weiß, aber er vertraut uns nicht. Er hat zu lange mit den Marxisten zu tun gehabt. Ich schlage vor, daß wir ihn zum Flughafen von Beijing bringen und meine Verbindungen nutzen, um ihm einen Platz in der nächsten Maschine nach Kai-tak zu besorgen. Ich werde ihn durch die Kontrollen bringen, und ehe er mit seinem Ticket an Bord geht, will ich nichts von ihm als die Information. Gibt es einen größeren Vertrauensbeweis? Wir sind dann inmitten unserer Feinde, und wenn das Gesetz sein Gewissen wirklich so beleidigt, braucht er bloß die Stimme zu erheben. Er hat mehr gesehen und gehört als jeder, der jemals lebend von uns gegangen ist. Die Zeit mag kommen, wo wir wahre Verbündete werden, aber zuerst braucht es Vertrauen.«

Der Redner musterte das Gesicht des Mannes, der gesprochen hatte, dann wanderte sein Blick zu d'Anjou hinüber, der aufrecht dastand und ausdruckslos zugehört hatte. Dann drehte sich der Mann mit dem blutbefleckten Schwert um und sprach den Meuchelmörder am Baum an, wechselte plötzlich ins Englische über: »Wir haben angeboten, diesen unbedeutenden Manipulator zu verschonen, falls er uns sagt, wo sein Gefährte zu finden ist. Stimmen Sie zu?«

»Der Franzose wird Sie belügen!« sagte der Killer mit ausgeprägtem britischem Akzent und trat einen Schritt vor.

»Welchem Zweck sollte das dienen?« fragte der Redner. »Er hat sein Leben, seine Freiheit. Andere interessieren ihn kaum, das beweist seine ganze Akte hinlänglich.«

»Da bin ich nicht sicher«, sagte der Engländer. »Sie haben in einer Gruppe, die sich Medusa nannte, zusammengearbeitet. Er redete die ganze Zeit davon. Diese Gruppe hatte Regeln - einen Verhaltenskodex, könnte man sagen. Er wird lügen.«

»Medusa bestand aus Abschaum, aus Männern, die ihre Brüder töten würden, wenn sie damit das eigene Leben retten könnten.«

Der Meuchelmörder zuckte die Achseln. »Sie haben mich nach meiner Meinung gefragt«, sagte er. »Das ist sie.«

»Laßt uns den fragen, dem wir Gnade gewähren wollen.« Der Redner ging wieder ins Mandarin über und erteilte Befehle, während der Meuchelmörder zu dem Baum zurückging und sich eine Zigarette anzündete. D'Anjou wurde nach vorne gebracht. »Bindet ihm die Hände los, er kann uns nicht entkommen. Und nehmt ihm den Knebel aus dem Mund. Man soll ihn hören. Zeigt ihm, daß wir fähig sind ... Vertrauen zu zeigen.«

D'Anjou schüttelte die Hände aus und griff sich dann mit der rechten Hand an den Mund und massierte ihn. »Ihr Vertrauen ist ebenso mitfühlend und überzeugend wie die Art, in der Sie Gefangene behandeln«, sagte er auf englisch.

»Das hatte ich vergessen.« Der Redner hob die Brauen. »Sie verstehen uns, nicht wahr?«

»Besser als Sie glauben«, erwiderte Echo.

»Gut. Ich ziehe es vor, englisch zu sprechen. In gewissem Sinne ist das etwas nur zwischen uns, nicht wahr?«

»Zwischen uns ist nichts. Ich verhandle nicht gern mit Fanatikern. Die sind so unberechenbar.« D'Anjou warf dem Killer an dem Baum einen Blick zu. »Ich habe natürlich Fehler gemacht. Aber irgendwie glaube ich, daß einer davon in Ordnung gebracht werden wird.«

»Sie können leben«, sagte der Redner.

»Wie lange?«

»Länger als heute nacht. Der Rest liegt bei Ihnen, bei Ihrer Gesundheit und Ihren Fähigkeiten.«

»Nein, das ist nicht wahr. Wenn ich in Kai-tak aus dem Flugzeug steige, ist alles vorbei. Sie werden mich nicht verfehlen, so wie letzten Abend. Diesmal wird es keine Sicherheitskräfte geben, keine kugelsicheren Limousinen. Nur einen Mann, der das Terminal verläßt, und einen anderen mit einer Schalldämpferpistole oder einem Messer. Wie Ihr wenig überzeugender Mit->Gefangener< es ausdrückte, ich bin heute nacht hier gewesen. Ich habe gesehen und gehört, und was ich gesehen und gehört habe, ist mein Todesurteil ... Übrigens, falls er sich wundert, weshalb ich ihm nicht vertraut habe, können Sie ihm sagen, daß er viel zu auffällig, viel zu eifrig war - und dann der plötzlich gelockerte Knebel. Wirklich! Er würde nie mein Schüler werden können. Wie Sie verfügt er über salbungsvolle Worte, aber im Grunde ist er dumm.«

»Wie ich?«

»Ja, und für Sie gibt es keine Entschuldigung. Sie sind ein gebildeter Mann, jemand, der die Welt bereist hat - das merkt man an Ihrer Sprache. Wo haben Sie studiert? Oxford? Oder war es Cambridge?«

»Die London School of Economics«, sagte Sheng Chou Yang, unfähig, sich Einhalt zu gebieten.

»Sehr gut - eine gute Schule, würde man in England sagen. Trotzdem sind Sie hohl, ein Clown. Sie sind kein Wissenschaftler, nicht einmal ein Student, nur ein Radikaler, ohne Sinn für die Realität. Sie sind ein Narr.«

»Sie wagen es, das mir zu sagen?«

»Kai sai zuan«, sagte Echo, zu der Menge gewandt. »Shenjing hing!« fügte er lachend hinzu und erklärte der Menge damit, er spreche hier mit einem übergeschnappten Schwachkopf.

»Hören Sie damit auf!«

»Wei shemme?« - warum - fuhr der Franzose dann in chinesischer Sprache fort, damit die Menge jedes Wort hören und verstehen konnte. »Sie führen diese Leute in den Abgrund, und das wegen Ihrer Wahnvorstellung, Sie könnten Blei in Gold verwandeln? Pisse in Wein! Aber wie diese bedauernswerte Frau gesagt hat - wessen Gold, wessen Wein? Für Sie oder für die da?« D'Anjou deutete auf die Menge.

»Ich warne Sie!« schrie Sheng auf englisch.

»Hört ihr!« schrie Echo heiser auf Mandarin. »Er will nicht in eurer Sprache mit mir sprechen! Er versteckt sich vor euch! Dieser säbelbeinige kleine Mann mit dem großen Schwert - soll das ausgleichen, was ihm fehlt? Zerhackt er Frauen deshalb mit seiner Klinge, weil er sonst nichts hat, womit er sie beeindrucken kann? Und seht euch doch diesen Wasserkopf an -«

»Genug!«

»... und die Augen eines ungezogenen, häßlichen Kindes! Wie ich sagte, er ist nicht mehr als ein übergeschnappter Schwachkopf. Warum vergeudet ihr eure Zeit mit ihm? Er wird Euch dafür nur Pisse geben, keinen Wein!«

»An Ihrer Stelle würde ich damit aufhören«, sagte Sheng und trat mit seinem Schwert vor. »Die töten Sie, ehe ich das tue.«

»Irgendwie bezweifle ich das«, antwortete d'Anjou auf englisch. »Ihre Wut behindert Ihr Gehör, Sie Windbeutel. Haben Sie das Gelächter nicht gehört? Ich schon.«

»Gou le!« brüllte Sheng Chou Yang und befahl Echo, still zu sein. »Sie werden uns die Information geben, die wir haben müssen«, fuhr er fort, und sein schrilles Chinesisch war das

Bellen eines Mannes, der es gewöhnt ist, daß man ihm gehorcht. »Jetzt ist Schluß mit dem Spielchen. Wir werden uns das nicht länger bieten lassen! Wo ist der Killer, den Sie aus Macao mitgebracht haben?«

»Dort drüben«, sagte d'Anjou und deutete mit einer Kopfbewegung auf den Meuchelmörder.

»Nicht er! Der, der vor ihm war. Dieser Wahnsinnige, den Sie aus dem Grab zurückgeholt haben, um Sie zu rächen! Wo ist Ihr Treffpunkt? Wo wollen Sie zusammenkommen? Ihr Stützpunkt hier in Beijing, wo ist er?«

»Es gibt keinen Treffpunkt«, antwortete Echo wieder auf englisch. »Keine Basis für unsere Operationen und keine Pläne für ein Treffen.«

»Es hat Pläne gegeben! Ihr bereitet euch immer auf Notfälle vor. Auf diese Weise überlebt ihr!«

»Haben wir überlebt. Vergangenheit, fürchte ich.«

Sheng hob das Schwert. »Sie werden es uns jetzt sagen oder sterben - auf sehr unangenehme Weise, Monsieur.«

»Soviel will ich Ihnen sagen. Wenn er jetzt meine Stimme hören könnte, würde ich ihm erklären, daß Sie derjenige sind, den er umbringen muß. Denn Sie sind der Mann, der ganz Asien vernichten wird, bis Millionen im Blut ihrer Brüder ertrunken sind. Er muß sich um seine eigenen Angelegenheiten kümmern, das verstehe ich, aber selbst mit meinem letzten Atemzug würde ich ihm sagen, daß Sie mit dazugehören! Ich würde ihm raten, zu handeln. Schnell!«

Von d'Anjous Worten förmlich hypnotisiert, zuckte Borowski zusammen, als hätte ihn der Schlag getroffen. Echo sandte ein letztes Signal! Handle! Jetzt! Jason griff in die linke Tasche und zog heraus, was er dort verstaut hatte, während er schnell durch das Unterholz kroch, bis er einen großen Felsbrocken fand, der fast einen Meter aus dem Boden ragte. Der Wind kam immer noch von hinten, und der Felsbrocken war groß genug, ihm

Deckung zu bieten. Als er sich in Bewegung setzte, konnte er d'Anjous Stimme hören; sie war schwach und zittrig, aber dennoch trotzig. Echo fand in sich letzte Kraftreserven, die nicht nur ausreichten, ihn in seinen letzten Minuten zu stützen, sondern auch, um Delta die wenigen Augenblicke zu verschaffen, die er brauchte.

»... seien Sie nicht voreilig, man general Dschingis-Khan, oder wer immer sonst Sie sein mögen. Ich bin ein alter Mann, und Ihre Söldner haben gute Arbeit geleistet. Wie Sie schon selbst festgestellt haben, habe ich keine Zukunft mehr. Andererseits bin ich gar nicht sicher, ob ich dort hinwill, wo Sie mich hinschicken wollen ... Wir waren nicht schlau genug, die Falle zu erkennen, die Sie uns gestellt haben, sonst wären wir ganz bestimmt nie in diese Falle hineingestolpert. Warum glauben Sie also, wir seien schlau genug gewesen, einen Treffpunkt zu verabreden?«

»Weil Sie in die Falle gegangen sind«, sagte Sheng Chou Yang ruhig. »Sie sind - er ist dem Mann aus Macao ins Mausoleum gefolgt. Dieser Wahnsinnige muß damit gerechnet haben, wieder lebend herauszukommen, Sie müssen also sowohl das Chaos als auch einen Treffpunkt einkalkuliert haben.«

»Oberflächlich betrachtet, klingt das recht logisch -«

»Wo?« schrie Sheng.

»Was bieten Sie?«

»Ihr Leben!«

»O ja, das haben Sie schon erwähnt.«

»Ihre Zeit läuft ab.«

»Ich werde wissen, wann es für mich an der Zeit ist, Monsieur!« Eine letzte Botschaft. Delta verstand.

Borowski riß ein Streichholz an, schützte die Flamme mit der Hand und zündete die dünne Wachskerze an, nachdem er die Zündschnur einen halben Zentimeter unter der Spitze festgedrückt hatte. Er kroch schnell tief er ins Unterholz und rollte dabei die Schnur auf, die zu den Feuerwerkskörpern führte. Jetzt war er am Ende angelangt und ging wieder auf den Baum zu.

»... welche Garantie habe ich für mein Leben?« beharrte Echo, dem das Ganze perverses Vergnügen bereitete, ein Schachmeister, der den eigenen unabwendbaren Tod plante.

»Die Wahrheit«, sagte Sheng. »Das ist alles, was Sie brauchen.«

»Aber mein ehemaliger Schüler sagt Ihnen, daß ich lüge - so wie Sie den ganzen Abend gelogen haben.« D'Anjou wiederholte, was er gesagt hatte, auf Mandarin, »liaojie?« sagte er zu den Zuschauern und fragte, ob sie verstanden hätten.

»Hören Sie auf damit!«

»Sie wiederholen sich pausenlos. Sie müssen sich das wirklich abgewöhnen. Es ist so ermüdend.«

»Meine Geduld ist am Ende! Wo ist dieser Verrückte!«

»In Ihrem Beruf, man general, ist Geduld nicht nur eine Tugend, sondern auch eine Notwendigkeit.«

»Aufhören!« schrie der Meuchelmörder und setzte damit alle in Erstaunen. »Der hält Sie nur hin! Er spielt mit Ihnen! Ich kenne ihn!«

»Welchen Grund sollte er dafür haben?« fragte Sheng mit erhobenem Schwert.

»Ich weiß nicht«, sagte der Brite. »Es gefällt mir nur nicht, und das reicht mir als Grund!«

Drei Meter hinter dem Baum sah Delta auf das Leuchtzifferblatt seiner Uhr und konzentrierte sich auf den Sekundenzeiger. Er hatte die Brenndauer der Kerze im Wagen abgemessen, und jetzt war es soweit. Er schloß die Augen, scharrte etwas Erde zusammen und warf sie hoch, so daß sie rechts von d'Anjou herunterfallen mußte.

Als Echo das Geräusch hörte, hob er die Stimme, so laut er konnte. »Mit Ihnen einen Handel machen?« schrie er. »Eher würde ich mit dem Erzengel der Finsternis einen Handel machen! Das muß ich vielleicht noch, aber vielleicht auch nicht, weil ein barmherziger Gott wissen wird, daß Sie Sünden begangen haben, die die meinen weit in den Schatten stellen, und ich verlasse diese Erde mit dem einzigen Wunsch, Sie mitzunehmen! Ganz abgesehen von Ihrer widerwärtigen Brutalität, man general, Sie sind ein alberner Hohlkopf, ein grausamer Witz der Geschichte! Kommen Sie, sterben Sie mit mir, General Dung!«

Mit den letzten Worten warf d'Anjou sich auf Sheng Chou Yang, krallte nach seinem Gesicht und spuckte ihm in die aufgerissenen Augen. Sheng sprang zurück und schwang sein Schwert, schmetterte dem Franzosen die Klinge gegen den Kopf. Echo starb barmherzig schnell.

Es ging los! Ein Stakkato von Explosionen erfüllte die Schlucht, hallte durch die Wälder, schwoll an, während die verblüffte Menge entsetzt reagierte. Männer warfen sich zu Boden, andere suchten hinter Bäumen und im Unterholz Deckung, Schreckensschreie hallten durch die Nacht.

Der Meuchelmörder kauerte hinter dem Baumstamm, geduckt, eine Waffe in der Hand. Borowski - den Schalldämpfer an der Pistole - ging auf den Killer zu und stellte sich hinter ihm auf. Er zielte und feuerte, fegte dem Meuchelmörder die Waffe aus der Hand und zog eine Blutspur über dessen Daumen und Zeigefinger. Der Killer fuhr mit aufgerissenen Augen herum, mit offenem Mund. Jason feuerte erneut, diesmal streifte die Kugel den Backenknochen des Mannes.

»Umdrehen!« befahl Borowski und drückte dem Engländer den Pistolenlauf in das linke Auge. »So, und jetzt packen Sie diesen Baum! Packen sollen Sie ihn! Mit beiden Armen, fest, ganz fest!« Jason rammte dem Killer die Waffe in den Nacken und spähte um den Baumstamm herum. Ein paar von den

Fackeln, die die Chinesen in den Boden gesteckt hatten, waren jetzt herausgerissen und ausgelöscht worden.

Aus dem Wald hallte jetzt eine weitere Folge von Explosionen herüber. In Panik geratene Männer begannen, in Richtung auf den Lärm zu feuern. Das Bein des Meuchelmörders bewegte sich! Dann seine rechte Hand! Borowski feuerte zwei Schüsse in den Baum; die Kugeln fetzten die Rinde einen knappen Zentimeter vom Schädel des Mannes weg. Er packte den Baumstamm fester, und sein Körper wurde starr.

»Lassen Sie den Kopf ganz links!« befahl Jason. »Noch eine Bewegung, und ich blase ihn weg!« Wo war er? Wo war der fanatische Henker mit dem Schwert? Soviel war Delta Echo schuldig. Wo ... da! Der Mann mit den fanatischen Augen richtete sich jetzt vom Boden auf, blickte nach allen Seiten, schrie Befehle. Jason trat einen Schritt vor und hob die Pistole. Jetzt bewegte sich der Kopf des Sektierers nicht mehr. Ihre Blicke begegneten sich. Borowski feuerte, und im selben Augenblick zog Sheng einen Wächter vor sich. Der Soldat zuckte nach hinten, sein Hals knickte unter dem Aufprall der Kugeln ab. Sheng hielt die Leiche fest, benutzte sie als Schild, während Jason noch zwei weitere Schüsse abgab, die aber nur die Leiche des Wächters zum Zucken brachten. Er konnte es nicht tun! Wer auch immer dieser Wahnsinnige war, der Leichnam eines Soldaten schützte ihn! Delta konnte nicht tun, was Echo von ihm verlangt hatte! General Dung würde überleben! Tut mir leid, Echo! Keine Zeit! Handle! Echo war nicht mehr... Marie!

Der Meuchelmörder drehte den Kopf etwas zur Seite, versuchte, etwas zu sehen. Borowski drückte ab. Baumrinde flog dem Killer ins Gesicht, als er die Hände hochriß, um seine Augen zu schützen, und dann den Kopf schüttelte, um wieder sehen zu können.

»Weg da!« befahl Jason und packte den Engländer am Hals, drehte ihn herum, auf den Weg zu, den er sich durch das Unterholz gebahnt hatte, als er in die Schlucht hinuntergerannt war. »Sie kommen mit!«

Eine dritte Folge von Feuerwerkskörpern, diesmal noch tiefer im Wald, explodierte, so daß es wie schnelle, sich überlagernde Feuerstöße klang. Sheng Chou Yang schrie hysterisch und befahl seinen Gefolgsleuten, in zwei Richtungen zu gehen, auf den Baum zu und auf den Ursprung der Detonationen. Die Explosionen hörten auf, als Borowski seinen Gefangenen in das Gestrüpp stieß und ihm befahl, sich flach hinzulegen, wobei Jason ihm den Fuß in den Nacken drückte. Borowski kauerte nieder, tastete den Boden ab; er hob drei Steine auf und warf sie nacheinander an den Männern vorbei, die die Umgebung des Baumes absuchten. Das Ablenkungsmanöver wirkte.

»Nah!«

»Shu ner!«

»Bu! Caodi ner!«

Sie bewegten sich weiter, die Waffen schußbereit. Einige rannten voraus, stürzten sich in das Unterholz. Andere schlössen sich an, als die vierte und letzte Feuerwerkskanonade ertönte. Trotz der Entfernung waren die Detonationen ebenso laut oder sogar noch lauter als die vorangegangenen. Es war die letzte Phase, der Höhepunkt der ganzen Aktion.

Delta wußte, daß ihm jetzt nur noch Minuten zur Verfügung standen, und wenn je ein Wald ein Freund gewesen war, dann mußte dieser das jetzt sein. In wenigen Augenblicken, Sekunden vielleicht, würden die Männer die Überreste der explodierten Feuerwerkskörper auf dem Boden finden. Sie würden dann wissen, was sie genarrt hatte, und eine hysterische Hetzjagd zum Tor würde einsetzen.

»Los!« befahl Borowski, packte seinen Gefangenen an den Haaren, zerrte ihn in die Höhe und trieb ihn nach vorne.

»Vergessen Sie nicht, Sie mieses Schwein, es gibt keinen Trick, den Sie gelernt haben, den ich nicht perfekt beherrsche, und das gleicht unseren Altersunterschied spielend aus! Wenn Sie in die falsche Richtung sehen, haben Sie anstatt von Augen nur noch zwei Einschußlöcher im Kopf! Weiter jetzt!«

Als sie durch die Schlucht rannten, griff Borowski in die Tasche und holte eine Handvoll Patronen heraus. Während der Meuchelmörder vor ihm rannte und sich atemlos die Augen rieb und sich das Blut von der Wange wischte, zog Jason den Ladestreifen aus seiner Pistole, füllte ihn auf und ließ das Magazin wieder in den Kolben schnappen. Als der Killer das Geräusch hörte, fuhr sein Kopf herum, aber dann begriff er gleich, daß es schon zu spät war; die Waffe war wieder schußbereit. Borowski feuerte und riß dem Killer das Ohr auf. »Ich habe Sie gewarnt«, sagte er, und sein Atem ging laut, aber regelmäßig. »Wo ist es Ihnen denn am liebsten? Mitten in die Stirn?« Er hob die Waffe.

»Du großer Gott, dieser Henker hat recht gehabt!« schrie der Brite und hielt sich das Ohr. »Sie sind wahnsinnig!«

»Und Sie sind tot, wenn Sie sich nicht bewegen. Schneller!«

Sie erreichten die Leiche des Postens, der den schmalen Weg zu der Schlucht bewacht hatte. »Nach rechts!« befahl Jason.

»Wo denn, Herrgottsakrament? Ich kann nichts sehen!«

»Es gibt einen Weg. Sie werden das schon merken. Weiter!«

Sobald sie auf dem Wegenetz des Vogelreservats angelangt waren, rammte Borowski dem Meuchelmörder immer wieder die Pistole gegen die Wirbelsäule und zwang den Killer, schneller zu laufen, schneller! Einen Augenblick lang kehrte David Webb zurück, und ein dankbarer Delta hieß ihn willkommen. Webb war ein Läufer, ein trainierter Läufer, aus Gründen, die weit in die Vergangenheit reichten, über Jason Borowski hinaus, in die Zeiten von Medusa. Die körperliche Anstrengung, der Schweiß und der Wind im Gesicht machten

David jeden Tag das Leben leichter, und im Augenblick atmete Jason Borowski zwar angestrengt, aber bei weitem nicht so gequält wie der jüngere Brite vor ihm.

Delta sah den Lichtschein am Himmel - das Tor. Höchstens noch fünfhundert Meter! Er feuerte einen Schuß zwischen die stampfenden Beine des Briten. »Ich will, daß Sie schneller rennen!« sagte er mit kontrollierter Stimme, so als würde ihm die Strapaze nichts ausmachen.

»Herrgott! Ich kann nicht! Ich bekomme keine Luft mehr!«

»Durchatmen«, befahl Jason

Plötzlich hörten sie in der Ferne hinter sich die hysterischen Schreie von Männern, die ihr fanatischer Führer anwies, zum Tor zu eilen, um dort einen Eindringling zu finden und zu töten, der so gefährlich war, daß ihr Leben und ihr ganzes Schicksal auf dem Spiel standen. Sie hatten also die ausgebrannten Feuerwerkskörper gefunden und versucht, Funkverbindung mit dem Wachhäuschen aufzunehmen, aber dort hatte sich niemand gemeldet. Findet ihn! Haltet ihn auf! Tötet ihn!

»Falls Sie auf irgendwelche dumme Gedanken kommen sollten, Major, dann vergessen Sie die!« schrie Borowski.

»Major?« sagte der Killer mit halb erstickter Stimme und rannte weiter.

»Sie sind für mich ein offenes Buch, und mir wird schlecht von dem, was ich gelesen habe! Sie haben zugesehen, wie man d'Anjou wie ein Schwein abgeschlachtet hat. Und Sie haben gegrinst, Sie Scheißkerl.«

»Er wollte sterben! Er wollte mich umbringen!«

»Ich werde Sie umbringen, wenn Sie zu laufen aufhören. Aber vorher schlitze ich Sie auf, von den Eiern bis zur Kehle, und zwar so langsam, daß Sie sich wünschten, Sie wären mit dem Mann gestorben, der Sie geschaffen hat.«

»Was für eine Wahl habe ich denn? Sie werden mich sowieso umbringen!«

»Vielleicht auch nicht. Denken Sie darüber nach, vielleicht schenke ich Ihnen das Leben. Denken Sie nur nach!«

Der Meuchelmörder rannte schneller. Sie hetzten über das letzte Stück Weg und rannten auf das hell erleuchtete Tor zu.

»Der Parkplatz!« schrie Jason. »Ganz rechts hinten!« Borowski hielt inne. »Halt!« Der Meuchelmörder blieb verwirrt stehen. Jason holte seine Taschenlampe heraus und zielte dann mit seiner Pistole. Im Rücken des Killers stehend, gab er fünf Schüsse ab, wo von nur einer sein Ziel verfehlte. Die Scheinwerfer explodierten; plötzlich senkte sich Dunkelheit über das Tor, und Borowski rammte dem Killer die Pistole ins Genick. Er knipste die Taschenlampe an und richtete ihren Lichtkegel auf das Gesicht des Killers. »Ich habe die Lage unter Kontrolle, Major«, sagte er. »Die Operation wird fortgesetzt. Weiter, Dreckskerl!«

Als sie über den abgedunkelten Parkplatz rannten, stolperte der Killer und fiel zu Boden. Jason feuerte im Schein der Taschenlampe zweimal; die Kugeln prallten neben dem Kopf des Briten ab. Er richtete sich auf und rannte weiter, vorbei an den Limousinen und dem Lkw am Rand des Parkplatzes.

»Der Zaun!« schrie Borowski halblaut. »Da hinüber.« Am Ende der Kiesfläche kam sein nächster Befehl: »Auf Hände und Knie - und schauen Sie nach vorne! Wenn Sie sich umdrehen, ist das das letzte, was Sie zu sehen bekommen. Und jetzt kriechen Sie!« Der Killer erreichte die Öffnung im Zaun. »Da durch!« sagte Jason, griff erneut in die Tasche, um Patronen herauszuholen und zog lautlos das Magazin der Pistole heraus. »Halt!« flüsterte er, als der andere halb durch war. Er füllte den Ladestreifen in der Dunkelheit auf und ließ das Magazin dann einschnappen. »Nur für den Fall, daß Sie gezählt haben«, sagte er. »Und jetzt hier durch, und dann kriechen Sie noch ein Stück weiter. Schnell!«

Während der Meuchelmörder unter dem hochgebogenen Draht durchkroch, duckte sich Borowski und schob sich nur wenige Zoll hinter ihm durch. Damit hatte der Brite nicht gerechnet, denn er fuhr herum und richtete sich halb auf. Er blickte in den Lichtstrahl der Taschenlampe, der die auf seinen Kopf gerichtete Waffe beleuchtete. »Ich hätte es genauso gemacht«, sagte Jason und stand auf. »Ich hätte dasselbe gemacht. Und jetzt gehen Sie zu dem Zaun zurück, greifen unten durch und biegen das Stück wieder gerade. Schnell!«

Der Brite tat, was ihm befohlen war. Er hatte einige Mühe, das dicke Drahtgeflecht wieder herunterzubiegen. Als er fertig war, sagte Borowski: »Das reicht jetzt. Richten Sie sich auf und gehen Sie an mir vorbei, die Hände hinter dem Rücken. Gehen Sie geradeaus und bahnen sich mit den Schultern den Weg. Meine Lampe ist auf Ihre Hände gerichtet. Sobald Sie sie voneinander lösen, bringe ich Sie um. Drücke ich mich klar aus?«

»Sie glauben, ich würde Ihnen einen Ast ins Gesicht schnellen lassen.«

»Ich würde das tun.«

»Sie drücken sich klar aus.«

Sie erreichten die Straße vor dem in gespenstischer Dunkelheit daliegenden Tor. Die Rufe in der Ferne waren jetzt deutlicher zu hören, die Vorhut rückte näher. »Die Straße hinunter«, sagte Jason. »Laufen Sie!«

Drei Minuten später knipste er die Taschenlampe an. »Halt!« rief er. »Dieser grüne Haufen dort drüben, können Sie ihn sehen?«

»Wo?« fragte der andere atemlos.

»Meine Lampe ist darauf gerichtet.«

»Das sind Äste, Zweige von Fichten.«

»Ziehen Sie sie weg. Schnell!«

Der Brite begann, die Zweige wegzuziehen, so daß in wenigen Augenblicken die schwarze Limousine sichtbar wurde. Jetzt war Zeit für seinen Beutel. Borowski sagte: »Folgen Sie dem Strahl meiner Lampe zu der Stelle links von der Motorhaube.«

»Was ist da?«

»Der Baum mit der weißen Kerbe am Stamm. Sehen Sie ihn?«

»Ja.«

»Darunter, ungefähr einen halben Meter davor, ist weiche Erde. Und darunter liegt ein Beutel. Den graben Sie jetzt aus.«

»Ein Scheißperfektionist, was?«

»Sind Sie das nicht auch?«

Ohne Antwort zu geben, fing der Killer mürrisch zu graben an und zog den Beutel aus dem Boden. Mit den Gurten in der rechten Hand trat er vor, als wollte er den Beutel übergeben. Dann schwang er ihn plötzlich, so daß er schräg von unten Jasons Waffe und die Taschenlampe treffen sollte, während er sich nach vorne stürzte, die Finger gespreizt wie die Krallen einer riesigen Raubkatze.

Darauf war Borowski vorbereitet. Das war genau der Augenblick, den er benutzt hätte, um sich den Vorteil zu verschaffen, um die paar Sekunden zu gewinnen, die er brauchte, um in die Finsternis zu rennen. Er trat einen Schritt zurück und schmetterte dem Mann die Pistole über den Schädel, als der an ihm vorbeirannte. Dann rammte er ihm das Knie ins Kreuz und packte den rechten Arm des Meuchelmörders, die Taschenlampe mit dem Mund festhaltend.

»Ich habe Sie gewarnt«, sagte Jason und riß den Killer am rechten Arm hoch. »Aber ich brauche Sie auch. Also kommen

Sie mit dem Leben davon, und es gibt nur eine kleine ärztliche Behandlung- mit einer Kugel.« Er setzte den Lauf seiner Pistole schräg am Armmuskel des Briten an und drückte ab.

»Heiland!« schrie der Killer, als der Schuß widerhallte und das Blut aufspritzte.

»Kein Knochen kaputt«, sagte Delta. »Nur Muskelgewebe, und Sie können den Arm jetzt vergessen. Sie haben Glück, daß ich ein barmherziger Mensch bin. In dem Beutel ist Gaze, Pflaster und Jod. Sie können sich selbst zusammenflicken, Major. Dann werden Sie fahren. Sie werden mein Chauffeur in der Volksrepublik sein. Sehen Sie, ich werde nämlich auf dem Rücksitz Platz nehmen und Ihnen die Pistole an die Schläfe halten. Und ich habe eine Karte. An Ihrer Stelle würde ich sehr sorgfältig fahren.«

Zwölf von Sheng Chou Yangs Männern rannten ans Tor, und nur vier von ihnen hatten Taschenlampen.

»Wei shemme? Cuo wu!«

»Mefan! Feng kuang!«

»You mao bing!«

»Wei fan!«

Ein Dutzend schreiender Stimmen hallte plötzlich durch die stille Nacht, allem und jedem die Schuld gebend. Das Wachhaus wurde überprüft, man stellte fest, daß die Schalter und das Telefon nicht mehr funktionierten und nirgends ein R)sten zu sehen war. Ein paar musterten die Kette, die Jason um das Schloß des Tores geschlungen hatte, und erteilten den anderen Befehle. Da niemand hinauskonnte, vermuteten sie, daß die Gejagten sich noch im Innern des Reservats befinden mußten.

»Quo!« schrie der Chinese, der versucht hatte, d'Anjou auszuhorchen. »Quan bu zai zehli!« schrie er dann und befahl den anderen, die Lampen aufzuteilen und den Parkplatz, den

Wald in der Umgebung und die Sümpfe dahinter abzusuchen. Die Jäger schwärmten aus, rannten wild mit den Pistolen herumfuchtelnd in verschiedenen Richtungen über den Parkplatz davon. Sieben weitere Männer erschienen, von denen nur einer eine Taschenlampe hatte. Der falsche Gefangene verlangte sie, erklärte den Neuankömmlingen, welche Situation er vorgefunden hatte, und forderte sie auf, einen weiteren Suchtrupp zu bilden. Jemand wandte ein, daß die eine Lampe dazu nicht reichte, worauf der Mann ein paar wilde Flüche ausstieß und allen, außer sich selbst, unglaubliche Dummheit vorwarf.

Jetzt erschienen die letzten Verschwörer mit flackernden Fackeln aus der Schlucht, angeführt von Sheng Chou Yang mit dem Schwert in der Scheide. Der Mann, den sie als Gefangenen eingeschleust hatten, zeigte ihm die abgeschlossene Kette und schilderte ihm die Lage.

»Sie denken nicht richtig«, sagte Sheng, mit seiner Geduld am Ende. »Sie gehen das falsch an! Diese Kette ist hier nicht von einem unserer Leute angebracht worden, um den oder die Verbrecher hier festzuhalten. Nein, das soll uns Zeit kosten, wir sollen hier eingesperrt bleiben!«

»Aber es gibt doch zu viele Hindernisse -«

»Alles bedacht!« schrie Sheng Chou Yang erregt. »Muß ich mich denn wiederholen? Diese Leute sind aufs Überleben aus. Sie sind in diesem Bataillon von Kriminellen, das sich Medusa nannte, am Leben geblieben, weil sie an alles gedacht haben! Sie sind nach draußen geklettert!«

»Unmöglich«, wandte der Jüngere ein. »Dieser Stacheldraht ist elektrisch geladen. Jedes Gewicht, das dreißig Pfund übersteigt, löst sofort den Strom aus. Auf die Weise passiert den Vögeln und Tieren nichts.«

»Dann haben sie die Stromquelle gefunden und abgeschaltet!«

»Die Schalter sind innerhalb und wenigstens fünfundsiebzig Meter vom Tor entfernt im Boden versteckt. Selbst ich weiß nicht genau, wo sie sind.«

»Schicken Sie jemand hinauf«, befahl Sheng.

Sein Untergebener sah sich um. Ein paar Meter entfernt redeten zwei Männer leise miteinander. Vermutlich hatten sie das hitzige Gespräch nicht mit angehört. »Du«, sagte Shengs Untergebener und wies auf den Mann zur Linken.

»Herr?«

»Steig auf den Zaun.«

»Ja, Herr!« Der junge Mann rannte auf den Zaun zu und sprang hinauf, klammerte sich an dem Drahtgeflecht fest und kletterte schnell nach oben. Er erreichte den höchsten Punkt und beugte sich über den Stacheldraht. »Aiyaaal«

Ein statisches Knacken, blendende, blauweiße Blitze zuckten. Starr und steif, Haar und Augenbrauen bis auf die Wurzeln versengt, fiel der Mann rückwärts nach unten und prallte wie ein Stein auf den Boden. Die Lichtbündel aus zwei Taschenlampen richteten sich auf ihn. Der Mann war tot.

»Der Lastwagen!« schrie Sheng. »Das ist doch idiotisch! Holt den Lastwagen heraus und brecht durch! Tut, was ich sage. Sofort!«

Zwei Männer rannten zum Parkplatz, und binnen Sekunden dröhnte die schwere Maschine des Lkws durch die Nacht. Zahnräder knirschten, als der Rückwärtsgang eingelegt wurde, dann schob sich der schwere Lastwagen ein Stück nach hinten, und sein ganzes Fahrgestell zitterte, bis er wieder schwerfällig zum Stillstand kam. Die aufgeschlitzten Reifen drehten sich, und schwarzer Rauch kräuselte sich in die Höhe. Sheng Chou Yangs Augen blickten grimmig, als er begriff.

»Die anderen!« schrillte er. »Laßt die anderen an! Alle!«

Ein Wagen nach dem anderen wurde angelassen, und einer nach dem anderen erwies sich als bewegungsunfähig. Sheng rannte wütend zum Tor, riß eine Pistole heraus und feuerte zweimal auf die Kette. Ein Mann rechts von ihm stieß einen Schrei aus und griff sich, zu Boden stürzend, an die blutende Stirn. Sheng hob das Gesicht in den dunklen Himmel und brüllte einen urwelthaften Schrei des Protests hinaus. Dann riß er sein Schwert heraus und begann damit auf das mit einer Kette versperrte Schloß des Tors einzudreschen. Er hätte nichts Sinnloseres tun können.

Die Klinge zerbrach.

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