Catherine Staples bestand darauf, daß ihr Gast einen weiteren Wodka Martini nahm, lehnte aber ihrerseits mit der Begründung ab, ihr Glas sei noch halbvoll.
»Es ist aber auch halbleer«, sagte der zweiunddreißigjährige amerikanische Attache mit einem schwachen Lächeln und schob sich nervös das dunkle Haar aus der Stirn. »Das ist dumm von mir, Catherine«, fügte er dann hinzu. »Tut mir wirklich leid, aber ich kann einfach nicht vergessen, daß Sie die Fotos gesehen haben - das hat gar nichts damit zu tun, daß Sie mir die Karriere und wahrscheinlich das Leben gerettet haben -, es liegt einfach an diesen gottverdammten Fotos.«
»Außer Inspector Ballantyne hat niemand sie gesehen.« »Aber Sie haben sie gesehen.« »Ich könnte vom Alter her Ihre Mutter sein.« »Das macht es ja noch schlimmer. Wenn ich Sie ansehe, schäme ich mich und komme mir so verdammt schmutzig vor.«
»Mein ehemaliger Mann, wo auch immer er stecken mag, hat einmal zu mir gesagt, daß es im Sexuellen absolut nichts gibt, das man als schmutzig betrachten kann oder soll. Wahrscheinlich war das eine Schutzbehauptung, aber ich glaube, er hatte recht. Schauen Sie, John, Sie sollten das wirklich vergessen. Ich denke auch nicht mehr daran.«
»Ich werde mir Mühe geben.« Ein Kellner näherte sich; der Drink wurde durch eine Handbewegung bestellt. »Seit Sie heute nachmittag angerufen haben, bin ich völlig fertig. Ich hab gedacht, es sei noch mehr aufgetaucht. Eine Tortur war das.«
»Sie standen unter starkem Drogeneinfluß. Gegen Ihren Willen. Sie waren also für das, was Sie getan haben, überhaupt nicht verantwortlich. Und es tut mir leid, ich hätte Ihnen sagen sollen, daß es mit dieser Geschichte überhaupt nichts zu tun hat.«
»Wenn Sie das getan hätten, dann hätte ich mir in den letzten fünf Stunden mein Gehalt verdient.«
»Das war unüberlegt und grausam von mir. Ich bitte um Entschuldigung.«
»Akzeptiert. Sie sind ein großartiges Mädchen, Catherine.« »Ich löse bei Ihnen infantile Regressionen aus.« »Darauf würde ich an Ihrer Stelle keine Wette abschließen.« »Dann sollten Sie ja keinen fünften Martini nehmen.« »Das ist erst mein zweiter.« »Ein wenig Schmeichelei hat noch nie weh getan.« Sie lachten leise. Jetzt kam der Kellner mit John Nelsons Drink zurück; er dankte dem Mann und wandte sich wieder Catherine Staples zu. »Ich hab so eine Idee, daß ich die Gratismahlzeit im The Plume nicht der Aussicht auf Schmeichelei zu verdanken habe. Ich kann mir ein solches Lokal nicht leisten.«
»Ich auch nicht, dafür aber Ottawa. Sie werden als schrecklich wichtige Person auf meiner Spesenabrechnung erscheinen. Tatsächlich sind Sie das auch.«
»Das ist aber nett. Das hat mir noch nie jemand gesagt. Ich habe hier drüben einen recht ordentlichen Job, weil ich Chinesisch gelernt habe. Ich hab mir gedacht, ein Boy vom Upper Iowa College müßte sich gegenüber all den Knaben von den noblen Colleges irgendwo einen Vorteil verschaffen.«
»Den haben Sie auch, Johnny. Sie sind beliebt bei den Konsulaten. Im Botschaftsviertel hat man eine sehr hohe Meinung von Ihnen, und das auch mit Recht.«
»Das habe ich dann wohl Ihnen und Ballantyne zu verdanken. Nur Ihnen beiden.« Nelson hielt inne, nippte an seinem Martini und sah Catherine über den Rand seines Glases an. Dann stellte er den Drink auf den Tisch und fragte: »Was ist los, Catherine? Warum bin ich wichtig?«
»Weil ich Ihre Hilfe brauche.«
»Sie brauchen es nur zu sagen Ich tue alles, was ich kann.«
»Nicht so schnell, Johnny. Mir steht das Wasser am Hals.«
»Wenn jemand einen Rettungsring von mir verdient hat, dann Sie. Abgesehen von belanglosen Problemen, leben unsere zwei Länder Tür an Tür und mögen sich im wesentlichen - wir stehen auf derselben Seite. Um was geht es denn? Wie kann ich Ihnen helfen?«
»Marie St. Jacques ... Webb«, sagte Catherine und studierte das Gesicht des Attaches.
Nelson blinzelte und überlegte. »Nichts«, sagte er. »Mir sagt der Name gar nichts.«
»In Ordnung. Dann versuchen wir es mit Raymond Havilland.«
»Oh, das ist ein anderes Faß Heringe.« Die Augen des Attaches weiteten sich, und er legte den Kopf zur Seite. »Über ihn haben wir uns alle schon den Mund fußlig geredet. Er ist nicht ins Konsulat gekommen, ja er hat nicht einmal unseren großen Boß angerufen, wo der doch mit ihm zusammen in den Zeitungen abgebildet werden möchte. Schließlich ist Havilland etwas ganz Besonderes - in dieser Branche eine Art Legende. Den gibt es doch schon seit der Speisung der Fünftausend, und wahrscheinlich steckte er hinter der ganzen Geschichte.«
»Dann ist Ihnen bewußt, daß Ihr aristokratischer Botschafter in all den Jahren nicht nur auf diplomatischem Gebiet tätig war.«
»Das spricht niemand aus, aber man muß schon recht naiv sein, wenn man ihm abnimmt, daß er nicht noch anderswo kräftig mitmischt.«
»Sie sind wirklich gut, Johnny.«
»Ich halte nur die Augen offen. Irgendwie muß ich mir mein Geld ja schließlich verdienen. Aber was gibt es da für eine Verbindung zwischen einem Namen, den ich kenne, und einem, den ich nicht kenne?«
»Wenn ich das nur wüßte. Haben Sie eine Ahnung, weshalb Havilland hier ist? Irgendwelche Gerüchte, die Ihnen zu Ohren gekommen sind?«
»Ich habe keine Ahnung, weshalb er hier ist, aber ich weiß, daß Sie ihn nicht in einem Hotel finden werden.«
»Ich nehme an, er hat wohlhabende Freunde.«
»Ganz sicher hat er die, aber bei denen wohnt er auch nicht.«
»Oh?«
»Das Konsulat hat in aller Stille ein Haus auf dem Victoria Peak gemietet, und ein zweites Kontingent Ledernacken ist von Hawaii herübergeflogen worden, um dort Wache zu schieben. Von uns mittleren Chargen wußte keiner darüber Bescheid, bis vor ein paar Tagen, als so eine dumme Sache passierte. Zwei Ledernacken haben in Wanchai zu Abend gegessen, und einer von ihnen wollte die Rechnung mit einem Scheck auf eine Bank in Hongkong bezahlen. Nun, Sie wissen ja über Soldaten und Schecks Bescheid; der Geschäftsführer des Lokals hat diesem Corporal die Hölle heiß gemacht. Der Junge sagte, weder er noch sein Kumpel hätten Zeit gehabt, sich Bargeld einzuwechseln, und der Scheck sei in Ordnung. Der Manager sollte doch das Konsulat anrufen und mit einem Militärattache sprechen.«
»Ein schlauer Corporal«, unterbrach ihn Catherine.
»Ein blödes Konsulat«, sagte Nelson. »Die militärischen Jungs waren schon nach Hause gegangen, und unser supergescheites Sicherheitspersonal mit seiner grenzenlosen Paranoia in bezug auf Geheimhaltung hatte das Kontingent vom Victoria Peak noch nicht auf die Personalliste gesetzt. Der Restaurantgeschäftsführer sagte später, der Corporal habe ihm ein paar Ausweise gezeigt und sei ihm überhaupt wie ein netter Junge vorgekommen, also ging er das Risiko ein.«
»Das war sehr vernünftig von ihm. Wahrscheinlich hätte er das nicht getan, wenn der Corporal sich anders verhalten hätte. Also doch ein schlauer Mariner.«
»Er hat sich anders verhalten. Am nächsten Morgen im Konsulat. Er hat ein Affentheater gemacht, und das mit so lauter Stimme, daß sogar ich ihn gehört habe, und mein Büro liegt am anderen Ende des Korridors, vom Empfangsraum aus. Er wollte wissen, was, zum Teufel, wir >blöden Zivilisten< uns wohl einbildeten, daß die dort oben auf dem Berg zu tun hätten und weshalb sie nicht registriert wären, schließlich seien sie doch schon seit einer Woche da. Er war fuchsteufelswild, das kann ich Ihnen sagen.«
»Und plötzlich wußte das ganze Konsulat, daß es in der Kronkolonie ein abgeschottetes Haus gab.«
»Das haben Sie gesagt, Catherine, nicht ich. Aber ich will Ihnen ganz genau sagen, was wir laut dem Rundschreiben sagen sollen, das an das ganze Personal verteilt worden ist - das hatten wir eine Stunde nach dem Abgang des Corporals auf dem Schreibtisch, nachdem der zwanzig Minuten mit ein paar sehr verlegenen Typen von der Sicherheit verbracht hatte.«
»Und das, was Sie sagen sollen, ist nicht das, was Sie glauben.«
»Kein Kommentar«, sagte Nelson. »Das Haus in Victoria ist für die Bequemlichkeit und die Sicherheit reisender Regierungsbeamter und Vertreter amerikanischer Firmen gemietet worden, die im Territorium geschäftlich zu tun haben.«
»Quatsch. Insbesondere das letztere. Seit wann trägt der Steuerzahler die Spesen für General Motors und ITT?«
»Washington setzt sich aktiv für eine Ausweitung des Handels ein. Das liegt auf der gleichen Linie wie unsere Politik der offenen Tür in bezug auf die Volksrepublik. Das paßt zusammen. Wir wollen die Dinge einfacher machen, zugänglicher, und diese Stadt hier ist bis zum Bersten überfüllt. Versuchen Sie doch mal, zwei Tage im voraus ein Zimmer in einem ordentlichen Hotel zu bekommen.«
»Das klingt, als hätten Sie das auswendig gelernt.«
»Kein Kommentar. Ich habe Ihnen nur das gesagt, was man Ihnen sagen sollte, falls Sie auf das Thema kämen - und das haben Sie ja bestimmt auch vorgehabt.«
»Natürlich. Ich habe Freunde auf dem Peak, die gar nicht mehr mit ihrer Wohngegend zufrieden sind, seit dort so viele Ledernacken herumlungern.« Catherine nippte an ihrem Glas. »Und Havilland ist dort oben?« fragte sie und stellte das Glas wieder auf den Tisch.
»Da würde ich fast jede Wette darauf eingehen.«
»Fast jede?«
»Unsere Pressedame - ihr Büro liegt unmittelbar neben dem meinen - wollte PR aus dem Botschafter herauskitzeln. Sie hat den Generalkonsul gefragt, in welchem Hotel er sei. Nein. Ob er dann privat untergebracht sei? Wieder nein. >Wir müssen warten, bis er uns anruft, falls er das tut<, sagte unser Boß. Sie hat sich an meiner Schulter ausgeweint, aber die Anweisung war klar. Ihn aufspüren kommt nicht in Frage.«
»Er ist oben auf dem Peak«, schloß Catherine Staples leise aus dem Gehörten. »Er hat sich ein abgeschottetes Haus gebaut und eine Operation angeleiert.«
»Was etwas mit dieser Webb, dieser Marie St. Irgendwer Webb zu tun hat?«
»St. Jacques. Ja.«
»Wollen Sie mir etwas darüber sagen?«
»Jetzt nicht - das ist besser für Sie und für mich. Wenn ich recht habe und jemand auf die Idee käme, daß man Ihnen Informationen gegeben hat, könnte es sein, daß man Sie ohne Pullover nach Reykjavik versetzt.«
»Aber Sie sagten doch, Sie wüßten nicht, worin die Verbindung bestünde und Sie wüßten es gern.«
»In dem Sinn, daß ich die Gründe dafür nicht verstehe, falls tatsächlich eine solche Verbindung existiert. Ich kenne nur eine Seite der Geschichte, und die ist voller Löcher. Ich könnte mich irren.« Wieder trank Catherine einen Schluck Whisky. »Hören Sie, Johnny«, fuhr sie dann fort, »das müssen Sie ganz allein entscheiden, und wenn Sie nein sagen, würde ich das verstehen. Ich muß wissen, ob Havillands Anwesenheit hier in Hongkong etwas mit einem Mann namens David Webb und seiner Frau Marie St. Jacques zu tun hat. Sie war vor ihrer Heirat Wirtschaftswissenschaftlerin in Ottawa.«
»Eine Kanadierin?«
»Ja. Lassen Sie sich erklären, warum ich es wissen muß - aber ich sage Ihnen nur so viel, daß Sie keine Schwierigkeiten bekommen können. Wenn die Verbindung besteht, muß ich in der eingeschlagenen Richtung weitermachen. Wenn nicht, dann kann ich eine Wendung um hundertachtzig Grad machen und einen anderen Weg einschlagen. In letzterem Fall kann ich mich an die Öffentlichkeit wenden. Ich kann die Zeitungen, das Radio, das Fernsehen einsetzen, eben alles, womit man Nachrichten verbreitet, um ihren Mann herzuholen.«
»Was bedeutet, daß er im Augenblick im Regen steht«, unterbrach sie der Attache. »Und Sie wissen, wo sie ist, aber andere wissen das nicht.«
»Wie ich schon sagte, Sie verstehen sehr schnell.«
»Aber im anderen Fall - wenn es doch eine Verbindung zu Havilland gibt, was Sie vermuten -«
»Kein Kommentar. Wenn ich Ihnen Antwort gäbe, würde ich Ihnen mehr sagen, als Sie wissen sollten.«
»Ich verstehe. Es ist also heikel. Lassen Sie mich nachdenken.« Nelson griff nach seinem Martini, stellte dann das Glas unangerührt wieder hin. »Wie wäre es mit einem anonymen Anruf, der bei mir angekommen ist?«
»Zum Beispiel?«
»Eine beunruhigte Kanadierin sucht nach Informationen über ihren verschwundenen amerikanischen Ehemann.«
»Warum hätte sie ausgerechnet Sie anrufen sollen? Sie kennt sich in Regierungskreisen aus. Warum nicht den Generalkonsul persönlich?«
»Der war nicht da. Aber ich.«
»Ich will Ihnen ja nicht zu nahe treten, aber Sie sind nicht sein Stellvertreter.«
»Sie haben recht. Außerdem könnte jeder in der Zentrale nachfragen und feststellen, daß es gar keinen solchen Anruf gegeben hat.«
Catherine Staples runzelte die Stirn und lehnte sich dann vor. »Es gibt eine Möglichkeit, wenn Sie bereit sind, die Lüge ein wenig weiter auszuspinnen.«
»Wie denn?«
»Eine Frau hat Sie auf der Garden Road angesprochen, als Sie das Konsulat verließen. Sie hat Ihnen nicht sehr viel gesagt, aber es reichte aus, Sie zu beunruhigen, und sie wollte nicht hereinkommen, weil sie Angst hatte. Sie ist die beunruhigte Frau, die ihren verschwundenen amerikanischen Mann sucht. Sie könnten sie sogar beschreiben.«
»Fangen Sie mit der Beschreibung an«, sagte Nelson.
Lin Wenzu saß vor McAllisters Schreibtisch und las aus seinem Notizbuch vor, während der Staatssekretär zuhörte. »Obwohl die Beschreibung etwas abweicht, sind die Unterschiede geringfügiger Natur und lassen sich leicht erklären. Zurückgekämmtes Haar und ein Hut darauf, kein Make-up, flache Schuhe, damit sie kleiner wirkt, aber nicht viel
- das ist sie.«
»Und sie hat behauptet, kein Name in dem Telefonbuch sei der ihres sogenannten Vetters?«
»Ein Vetter mütterlicherseits. Gerade so weit hergeholt und doch so deutlich, daß es glaubwürdig wirkte. Die Empfangssekretärin meint, sie sei recht befangen, ja ein wenig aufgeregt gewesen. Außerdem hatte sie eine Handtasche bei sich, bei der es sich so offensichtlich um eine Gucci-Imitation handelte, daß die Sekretärin sie für eine Hinterwäldlerin hielt. Freundlich, aber leichtgläubig.«
»Sie hat einen Namen erkannt«, sagte McAllister.
»Wenn das der Fall war, warum hat sie dann nicht darum gebeten, den Betreffenden sprechen zu dürfen? So wie die Dinge lagen, durfte sie doch keine Zeit vergeuden«
»Sie nahm wahrscheinlich an, daß wir Alarm geschlagen hatten, daß sie das Risiko nicht eingehen durfte, erkannt zu werden, nicht im Konsulatsgebäude.«
»Ich glaube nicht, daß sie das stören würde, Edward. Mit dem, was sie weiß und was sie durchgemacht hat, könnte sie äußerst überzeugend auftreten.«
»Mit dem, was sie zu wissen glaubt, Lin. Sicher kann sie gar nichts wissen. Sie wird sehr vorsichtig sein und Angst haben, etwas falsch zu machen. Irgendwo dort draußen ist ihr Mann. Und glauben Sie mir - ich habe die beiden zusammen gesehen -, sie ist sehr darauf bedacht, ihn zu beschützen. Mein Gott, sie hat über fünf Millionen Dollar gestohlen, einfach nur, weil sie annahm - zu Recht -, daß seine eigenen Leute ihm unrecht getan hatten. Nach ihrer Vorstellung hatte er das Geld verdient - sie hatten es verdient - und sollte Washington doch der Teufel holen.«
»Das hat sie getan?«
»Havilland hat erlaubt, daß ich Ihnen alles sage. Ja, das hat sie getan und ist damit durchgekommen. Wer sollte denn schon dagegen protestieren? Sie hatte das geheime Washington genau dort, wo sie es haben wollte. Verängstigt und verlegen, und beides bis über beide Ohren.«
»Je mehr ich erfahre, desto mehr bewundere ich sie.«
»Sie können sie bewundern, so sehr Sie wollen, aber Sie müssen sie finden.«
»Weil wir schon gerade vom Botschafter sprechen, wo ist er?«
»Er ißt gerade mit dem kanadischen Hochkommissar zu Mittag.«
»Wird er ihm alles sagen?«
»Nein, er wird blinde Unterstützung verlangen mit einem Telefon auf dem Tisch, um London zu erreichen. London wird den Hochkommissar anweisen, alles zu tun, worum Havilland ihn bittet. Das ist alles schon vorbereitet.«
»Der bringt die Dinge in Bewegung, wie?«
»Er ist einmalig. Er müßte jetzt jeden Augenblick wiederkommen, tatsächlich hat er sich bereits verspätet.« Das Telefon klingelte, und McAllister nahm ab. »Ja? ... Nein, er ist nicht hier. Wer? ... Ja, natürlich, ich werde mit ihm sprechen.« Der Staatssekretär legte die Hand über die Sprechmuschel und sagte zu dem Major gewandt: »Das ist unser Generalkonsul. Ich meine, der amerikanische.«
»Irgend etwas ist passiert«, sagte Lin und erhob sich nervös aus seinem Sessel.
»Ja, Mr. Lewis, hier spricht McAllister. Ich möchte Ihnen nur sagen, wie dankbar wir Ihnen für alles sind, Sir. Das Konsulat war äußerst kooperativ.«
Plötzlich ging die Tür auf, und Havilland kam ins Zimmer.
»Der amerikanische Generalkonsul ist am Apparat, Herr Botschafter«, sagte Lin. »Ich glaube, er wollte mit Ihnen sprechen.«
»Jetzt ist keine Zeit für seine verdammten Dinnerpartys.«
»Einen Augenblick, Mr. Lewis. Der Botschafter ist gerade gekommen. Sie wollen sicher mit ihm sprechen.« McAllister reichte Havilland, der schnell an den Schreibtisch trat, das Telefon.
»Ja, Jonathan, was ist?« Der hochgewachsene, schlanke Botschafter stand lauschend da, seine Augen fixierten einen unsichtbaren Punkt im Garten. Schließlich meinte er: »Danke, Jonathan, das haben Sie richtig gemacht. Sagen Sie absolut nichts, zu niemandem, und überlassen Sie das Weitere mir.« Havilland legte auf und sah zuerst McAllister und dann Lin an. »Unser Durchbruch - wenn es ein solcher ist - kam eben aus der falschen Richtung. Nicht aus dem kanadischen, sondern aus dem amerikanischen Konsulat.«
»Das paßt nicht«, sagte McAllister. »Das ist nicht Paris, nicht die Straße mit dem Ahornbaum, dem Ahornblatt. Das ist das kanadische Konsulat, nicht das amerikanische.«
»Sollen wir den Hinweis deshalb übergehen?«
»Natürlich nicht. Was ist passiert?«
»Eine Kanadierin, deren amerikanischer Mann verschwunden ist, hat einen Attache namens Nelson auf der Garden Road angesprochen. Dieser Nelson hat angeboten, ihr zu helfen, mit ihr zur Polizei zu gehen, aber das hat sie abgelehnt. Sie wollte nicht zur Polizei und auch nicht mit ihm in sein Büro.«
»Hat sie irgendwelche Gründe dafür genannt?« fragte Lin. »Zuerst bittet sie um Hilfe und dann lehnt sie sie ab.«
»Nur, daß es persönliche Gründe seien. Nelson hat sie als angespannt und übernommen geschildert. Sie hat sich als Marie Webb zu erkennen gegeben und gesagt, ihr Mann sei vielleicht ins Konsulat gekommen und habe dort nach ihr gesucht. Ob Nelson sich erkundigen könne, sie würde ihn dann zurückrufen.«
»Das ist aber eindeutig nicht das, was sie vorher gesagt hat«, protestierte McAllister. »Da hat sie sich ganz eindeutig auf das bezogen, was ihnen in Paris widerfahren war, und das bedeutete, daß sie an einen Beamten ihrer eigenen Regierung, ihres eigenen Landes herantreten würde. Kanada.«
»Warum sind Sie so hartnäckig?« fragte Havilland. »Das soll keine Kritik sein, ich will es nur wissen.«
»Ich weiß nicht genau. Irgend etwas stimmt nicht. Unter anderem hat der Major gerade festgestellt, daß sie im kanadischen Konsulat war.«
»Oh?« Der Botschafter sah den Mann von MI-6 an.
»Die Sekretärin am Empfang hat es bestätigt. Die Beschreibung paßte ziemlich gut, ganz besonders für jemanden, der von einem Chamäleon ausgebildet worden ist. Ihre Geschichte war, sie habe ihrer Familie versprochen, sich nach einem entfernten Vetter zu erkundigen, dessen Familiennamen sie vergessen hatte. Die Empfangssekretärin gab ihr ein Telefonverzeichnis, und sie hat es durchgeblättert.«
»Sie hat jemanden gefunden, den sie kannte«, unterbrach McAllister. »Sie hat den Kontakt hergestellt.«
»Dann haben Sie Ihre Antwort«, sagte Havilland mit fester Stimme. »Sie erfuhr, daß ihr Mann nicht zu einer Straße mit einer Reihe von Ahornbäumen gegangen war, also entschied sie sich für das Nächstbeste, für das amerikanische Konsulat.«
»Und gibt sich zu erkennen, wo sie doch wissen muß, daß man in ganz Hongkong nach ihr sucht?«
»Einen falschen Namen anzugeben, hätte doch keinen Sinn«, erwiderte der Botschafter.
»Herr Botschafter«, sagte Lin Wenzu und wandte langsam den Blick von McAllister. »Ich habe gehört, was Sie dem amerikanischen Generalkonsul gesagt haben, nämlich, daß er niemandem etwas sagen soll. Und jetzt, wo ich begreife, weshalb Ihr Geheimhaltungsbedürfnis so groß ist, nehme ich an, daß Mr. Lewis nicht über die Situation informiert worden ist.«
»Das ist richtig, Major.«
»Wie kam er dann darauf, Sie anzurufen? Hier in Hongkong gehen oft Leute verloren. Ein verschwundener Mann oder eine verschwundene Frau ist nichts so Ungewöhnliches.«
Einen Augenblick lang zogen Zweifel über Havillands Gesicht. »Jonathan Lewis und ich kennen einander schon sehr lange«, sagte er, aber seiner Stimme fehlte dabei die gewohnte Autorität. »Er mag so etwas wie ein Bonvivant sein, aber ein Trottel ist er nicht - sonst wäre er nicht hier. Und die Begleitumstände, unter denen die Frau seinen Attache ansprach - nun, Lewis kennt mich und hat gewisse Schlüsse gezogen.« Der Diplomat wandte sich McAllister zu; als er jetzt fortfuhr, war seine Autorität langsam wieder zu spüren. »Rufen Sie Lewis zurück, Edward. Sagen Sie ihm, er soll diesen Nelson anweisen, auf einen Anruf von Ihnen zu warten. Ich würde eine etwas weniger direkte Methode vorziehen, aber dafür haben wir keine Zeit. Ich möchte, daß Sie ihn ausfragen, ihn über alles und jedes ausfragen, das Ihnen einfällt. Ich werde mithören.«
»Dann sind Sie also meiner Meinung«, sagte der Staatssekretär. »Irgend etwas stimmt nicht.«
»Ja«, antwortete Havilland und sah dabei Lin an. »Der Major hat es erkannt und ich nicht. Ich würde es etwas anders formulieren, aber mich stört das jetzt auch. Die Frage ist nicht, warum Lewis mich angerufen hat, sondern, weshalb ein Attache zu ihm ging. Was ist passiert - eine ungeheuer aufgeregte Frau sagt, ihr Mann sei verschwunden, will aber nicht zur Polizei gehen, das Konsulat nicht betreten. Normalerweise würde man eine solche Person als Verrückte abtun. Ganz sicher jedenfalls ist das auf den ersten Blick keine Angelegenheit, mit der man einen überarbeiteten Generalkonsul behelligt. Rufen Sie Lewis an.«
»Selbstverständlich. Aber zuerst - ist mit dem kanadischen Hochkommissar alles glattgegangen? Wird er uns unterstützen?«
»Die Antwort auf Ihre erste Frage lautet nein, es ist nicht alles glattgegangen. Was die zweite angeht - er hat keine Wahl.«
»Ich verstehe nicht.«
Havilland atmete tief und resigniert. »Er wird uns über Ottawa eine Liste sämtlicher Mitarbeiter seines Konsulats liefern, die in irgendeiner Weise einmal mit Marie St. Jacques zu tun hatten - aber nur widerwillig. Man hat ihm das zwar aufgetragen, aber er hat sich doch recht gesträubt. Erstens hat er vor vier Jahren selbst ein zweitägiges Seminar mit ihr mitgemacht, und er meint, das gleiche gelte wahrscheinlich für ein Viertel des Konsulats. Nicht daß sie sich an sie erinnern würde, wohl aber umgekehrt. Sie war >außergewöhnlich<, so hat er es formuliert. Außerdem sei sie eine Kanadierin, der von einer Bande von amerikanischen Arschlöchern - er hatte nicht die geringsten Hemmungen, dieses Wort zu gebrauchen -ziemlich übel mitgespielt worden sei, bei irgendeiner schwachsinnigen, kriminellen Operation - ja, das war seine Formulierung: schwachsinnig. Bei einer idiotischen Operation dieser Arschlöcher - tatsächlich, er hat es wiederholt -, die nie befriedigend aufgeklärt worden sei.« Der Botschafter hielt kurz inne, lächelte und stieß dann einen Laut aus, den man als Lachen deuten konnte. »Es war alles sehr erfrischend. Er hat kein Blatt vor den Mund genommen, und seit dem Tod meiner lieben Frau hat niemand mehr so mit mir geredet. Ich könnte mehr davon vertragen.«
»Aber Sie haben ihm doch gesagt, daß es zu ihrem eigenen Vorteil ist? Daß wir sie finden müssen, ehe ihr ein Schaden zugefügt wird.«
»Ich gewann den deutlichen Eindruck, daß unser kanadischer Freund ernsthafte Zweifel an meinem Verstand hatte. Rufen Sie Lewis an. Der Himmel weiß, wann wir diese Liste bekommen. Unser Ahornblatt wird sie wahrscheinlich mit dem Zug von Ottawa nach Vancouver schicken lassen, und von dort aus auf einem langsamen Frachtdampfer nach Hongkong, wo sie in der Poststelle verlorengehen wird. Unterdessen haben wir einen Attache, der sich sehr eigenartig verhält. Er springt über Zäune, wenn kein Mensch von ihm solche Sprünge verlangt.«
»Ich kenne John Nelson, Sir«, sagte Lin. »Er ist ein intelligenter junger Mann und spricht ordentliches Chinesisch. Er ist recht populär.«
»Er ist noch ganz was anderes, Major.«
Nelson legte den Hörer auf. Auf seiner Stirn standen Schweißtröpfchen; er wischte sie mit dem Handrücken weg und war befriedigt, daß er in Anbetracht aller Umstände so gut gewesen war. Ganz besonders zufrieden war er damit, daß er die Stoßrichtung von McAllisters Fragen gegen den Frager selbst gerichtet hatte, wenn auch auf diplomatische Weise.
Warum hielten Sie es für angebracht, zum Generalkonsul zu gehen?
Mir scheint, Ihr Anruf gibt darauf die Antwort, Mr. McAllister. Ich hatte das Gefühl, daß etwas Außergewöhnliches geschehen war. Ich war der Meinung, der Konsul sollte das erfahren.
Aber die Frau hat sich geweigert, zur Polizei zu gehen; sie lehnte es sogar ab, das Konsulatsgebäude zu betreten.
Wie gesagt, es war außergewöhnlich, Sir. Sie war nervös und angespannt, aber nicht neben der Kappe.
Was?
Sie drückte sich völlig klar aus, man könnte sogar sagen beherrscht, und das trotz ihrer Angst.
Ich verstehe.
Das frage ich mich, Sir. Ich habe keine Ahnung, was der Generalkonsul Ihnen gesagt hat, aber ich habe ihm den Vorschlag gemacht, er könne angesichts des Hauses am Victoria Peak, der Marineinfanteristen und dann der Ankunft von Botschafter Havilland in Betracht ziehen, jemanden dort oben anzurufen.
Das haben Sie vorgeschlagen?
Ja, das habe ich.
Warum?
Ich glaube, es hätte wenig Zweck, wenn ich über diese Dinge Spekulationen anstellen würde, Mr. McAllister. Sie betreffen mich nicht.
Ja, Sie haben natürlich recht. Ich meine - ja, natürlich. Aber wir müssen diese Frau finden, Mr. Nelson. Ich habe Anweisung, Ihnen zu sagen, daß es sehr zu Ihrem Vorteil wäre, wenn Sie uns helfen würden.
Ich möchte Ihnen ja helfen, Sir. Wenn sie mich anruft, werde ich versuchen, irgendwo ein Zusammentreffen zu arrangieren und Sie dann anrufen. Ich weiß, daß ich richtig gehandelt habe, daß es richtig war, den Generalkonsul zu informieren.
Wir werden auf Ihren Anruf warten.
Catherine hatte ins Schwarze getroffen, dachte John Nelson, es gab da eine Verbindung. Eine so brisante Verbindung, daß er es nicht wagte, Catherine Staples von seinem Dienstapparat aus anzurufen. Aber wenn er sie anrief, würde er ihr ein paar recht bohrende Fragen stellen. Er hatte Vertrauen zu Catherine, aber trotz der Fotos und ihrer Konsequenzen war er nicht käuflich. Er stand auf und ging zur Tür. Daß ihm plötzlich ein Zahnarzttermin eingefallen war, würde als Ausrede ausreichen. Als er den Korridor hinunter zum Empfang ging, kehrten seine Gedanken zu Catherine Staples zurück. Catherine war eine der stärksten Persönlichkeiten, denen er je begegnet war, aber der Blick in ihren Augen hatte gestern abend nicht Stärke, sondern eine Art verzweifelter Furcht vermittelt. Das war eine Catherine, wie er sie noch nie gesehen hatte.
»Er hat Ihnen die Fragen im Mund umgedreht und sie sich zunutze gemacht«, sagte Havilland, der mit dem hünenhaften Lin Wenzu im Schlepptau zur Türe hereinkam. »Geben Sie mir recht, Major?«
»Ja, und das bedeutet, daß er auf die Fragen vorbereitet war.«
»Und das wiederum bedeutet, daß jemand ihn vorbereitet hat!«
»Wir hätten ihn nicht anrufen sollen«, sagte McAllister leise. Er saß hinter seinem Schreibtisch, und seine nervösen Finger massierten wieder seine rechte Schläfe. »Fast alles, was er gesagt hat, sollte eine Reaktion meinerseits provozieren.«
»Wir mußten ihn anrufen«, beharrte Havilland, »schon damit wir jetzt das wissen.«
»Er hat die Kontrolle behalten, ich habe sie verloren.«
»Sie konnten nicht anders reagieren, Edward«, sagte Lin, »sonst hätten Sie seine Motive anzweifeln müssen. Dann hätten Sie ihn aber praktisch bedroht.«
»Und im Augenblick wollen wir nicht, daß er sich bedroht fühlt«, stimmte Havilland zu. »Er besorgt für jemanden Informationen, und wir müssen herausfinden, wer das ist.«
»Und das bedeutet, daß Webbs Frau tatsächlich jemanden erreicht hat, den sie kannte, und dem Betreffenden alles gesagt hat.« McAllister lehnte sich vor. Seine Ellbogen waren auf den Tisch gestützt, seine Hände ineinander verschränkt.
»Sie hatten also doch recht«, sagte der Botschafter und sah den Unterstaatssekretär an. »Eine Straße mit ihren geliebten Ahornbäumen. Paris. Die unvermeidliche Wiederholung. Jetzt ist es ganz klar. Nelson ist für jemanden im kanadischen Konsulat tätig - und der oder die Betreffende wiederum steht mit Webbs Frau in Verbindung.«
McAllister blickte auf. »Dann ist Nelson entweder ein verfluchter Vollidiot oder ein noch viel größerer verfluchter Vollidiot. Er weiß nach eigener Aussage - zumindest tut er so -, daß er mit äußerst heiklen Informationen zu tun hat und daß ein Präsidentenberater involviert ist. Wenn man einmal davon absieht, daß er entlassen werden könnte, dann könnte ihm diese Geschichte dazu noch eine Gefängnisstrafe eintragen, wegen konspirativer Umtriebe gegen die Regierung.«
»Er ist kein Vollidiot, das kann ich Ihnen versichern«, sagte Lin.
»Dann gibt es entweder jemanden, der ihn zwingt, das gegen seinen Willen zu tun - höchstwahrscheinlich Erpressung -, oder er wird dafür bezahlt herauszufinden, ob es eine Verbindung zwischen Marie St. Jacques und diesem Haus am Victoria Peak gibt. Etwas anderes kann es nicht sein.« Havilland setzte sich mit gerunzelter Stirn auf den Besucherstuhl vor dem Schreibtisch.
»Geben Sie mir einen Tag Zeit«, fuhr der Major von MI-6 fort. »Vielleicht kann ich es herausfinden. Wenn ja, werden wir die betreffende Person im Konsulat schnappen.«
»Nein«, sagte der Diplomat. »Sie haben bis acht Uhr heute abend Zeit. Wir können uns nicht einmal so viel Zeit leisten, aber wenn wir eine Konfrontation und sich daraus ergebende Peinlichkeiten vermeiden können, müssen wir das in Kauf nehmen. Alles kommt darauf an, daß wir das Problem im Griff behalten. Versuchen Sie es, Lin. Um Gottes willen, versuchen Sie es!«
»Und nach acht Uhr, Herr Botschafter? Was dann?«
»Dann, Major, werden wir unseren klugen und glattzüngigen Attache holen und ihn durch die Mangel drehen. Ich würde es bei weitem vorziehen, ihn zu benutzen, ohne daß er das weiß, ohne einen Alarm zu riskieren, aber die Frau geht vor. Acht Uhr, Major Lin.«
»Ich werde alles tun, was in meiner Macht steht.«
»Und wenn wir uns irren«, fuhr Havilland fort, als hätte Lin Wenzu überhaupt nichts gesagt, »wenn dieser Nelson als Strohmann aufgebaut worden ist und nichts weiß, dann möchte ich, daß alle Regeln gebrochen werden. Mir ist egal, wie Sie es anpacken oder wieviel Bestechungsgeld es kostet oder was für Gesindel Sie einsetzen müssen. Dann möchte ich Kameras, Telefonwanzen, elektronische Überwachung - was eben geht -für jede Person im Konsulat. Irgend jemand dort weiß, wo sie ist. Jemand dort versteckt sie.«
»Catherine, ich bin's, John«, sagte Nelson. Er stand an einem Telefonautomaten an der Albert Road.
»Sehr nett, daß Sie anrufen«, antwortete Catherine Staples schnell. »Das wird heute ein anstrengender Nachmittag, aber wir sollten uns auf ein paar Drinks treffen. Wird nett sein, Sie nach all den Monaten wiederzusehen, dann können Sie mir von Canberra erzählen. Aber sagen Sie mir jetzt eines. Habe ich mit dem, was ich Ihnen gesagt habe, recht gehabt?«
»Ich muß Sie sprechen, Catherine.«
»Nicht einmal eine Andeutung?«
»Ich muß Sie sprechen. Sind Sie frei?«
»Ich habe in fünfundvierzig Minuten eine Besprechung.«
»Dann später, gegen fünf. Es gibt da ein Lokal, das heißt The Monkey Tree, in Wanchai, an der Gloucester -«
»Ich kenne es. Ich werde dort sein.«
John Nelson legte auf. Ihm blieb jetzt nichts anderes übrig, als ins Büro zurückzugehen. Er konnte nicht drei Stunden wegbleiben, nicht nach seinem Gespräch mit Staatssekretär Edward McAllister; eine so lange Abwesenheit würde auffallen. Er hatte von McAllister gehört; der Staatssekretär hatte sieben Jahre in Hongkong verbracht und war nur wenige Monate vor Nelsons Eintreffen weggegangen. Warum war er zurückgekehrt? Warum gab es in Victoria Peak ein abgeschottetes Haus, in dem plötzlich Botschafter Havilland wohnte? Und - vor allem -warum war Catherine Staples so verängstigt? Er verdankte Catherine sein Leben, aber er mußte ein paar Antworten wissen, er mußte eine Entscheidung treffen.
Lin Wenzu hatte seine Quellen so gut wie ausgeschöpft. Nur eine hatte ihn etwas nachdenklich gemacht. Inspector Ian Ballantyne antwortete so, wie er das immer tat, mit Gegenfragen auf seine Fragen, anstatt selbst präzise zu antworten. Das war zum Verrücktwerden, weil man nie wußte, ob der ehemalige Scotland-Yard-Mann über ein bestimmtes Thema etwas wußte oder nicht. In diesem Fall über einen amerikanischen Attache namens John Nelson.
»Ich bin dem Burschen ein paarmal begegnet«, hatte Ballantyne gesagt. »Ein heller Kopf. Der spricht Ihre Sprache, wußten Sie das? Verdammt wenige von uns konnten das, selbst während der Opiumkriege. Interessante Geschichtsperiode, nicht wahr, Major?«
»Die Opiumkriege? Ich habe von dem Attache gesprochen, John Nelson.«
»Oh, besteht da eine Verbindung?«
»Womit, Inspector?«
»Den Opiumkriegen.«
»Wenn das der Fall wäre, müßte er hundertfünfzig Jahre alt sein, und in seiner Akte steht zweiunddreißig.«
»Wirklich? So jung, wie?«
Aber Ballantyne hatte ein paar Kunstpausen zuviel gemacht, als daß Lin zufrieden gewesen wäre. Trotzdem, falls er etwas wußte, hatte er nicht vor, es zu sagen. Alle anderen, angefangen bei der Polizei von Hongkong und Kowloon, bis zu den >Spezialisten<, die gegen Bezahlung Informationen aus dem amerikanischen Konsulat beschafften, lieferten Nelson ein so sauberes Zeugnis, daß es schon fast verdächtig wirkte. Wenn Nelson eine Schwachstelle hatte, dann die, daß er in punkto Sex nicht gerade wählerisch war, aber angesichts der Tatsache, daß es heterosexuelle Aktivitäten waren und er Junggeselle, war das löblich, nicht zu verurteilen. Ein >Spezialist< sagte Lin, daß Nelson dem Vernehmen nach den Rat erhalten hatte, sich ziemlich regelmäßig ärztlich untersuchen zu lassen. Das war kein Verbrechen.
Das Telefon klingelte; Lin griff nach dem Hörer. »Ja?«
»Der Observierte ist zur Peak-Tram gegangen und hat ein Taxi nach Wanchai genommen. Er ist jetzt in einem Cafe, es heißt The Monkey Tree. Ich bin bei ihm. Ich kann ihn sehen.«
»Das ist recht abgelegen und sehr überfüllt«, sagte der Major. »Hat sich jemand zu ihm gesetzt?«
»Nein, aber er hat einen Tisch für zwei verlangt.«
»Ich komme so schnell wie möglich. Wenn Sie weggehen müssen, werde ich über Radio mit Ihnen Kontakt halten. Sie fahren doch Wagen sieben, oder?«
»Wagen sieben, Sir ... Warten Sie! Eine Frau geht auf seinen Tisch zu. Jetzt steht er auf.«
»Können Sie sie erkennen?«
»Es ist hier zu dunkel. Nein.«
»Geben Sie dem Kellner Geld. Er soll sich mit dem Bedienen Zeit lassen. Aber nicht zu auffällig, nur ein paar Minuten. Ich nehme den Notarztwagen mit der Sirene bis zur nächsten Kreuzung.«
»Catherine, ich verdanke Ihnen so viel und möchte Ihnen wirklich in jeder Weise behilflich sein. Aber ich muß mehr wissen, als Sie mir bisher gesagt haben.«
»Es gibt also eine Verbindung, nicht wahr? Havilland und Marie St. Jacques.«
»Das werde ich nicht bestätigen - das kann ich nicht bestätigen, weil ich nicht mit Havilland gesprochen habe. Aber mit einem anderen Mann habe ich gesprochen, einem Mann, von dem ich eine Menge gehört habe und der einmal hier stationiert war - verdammt kluger Kopf -, und der klang ebenso verzweifelt wie Sie gestern abend.«
»Kam Ihnen das gestern abend so vor?« Catherine Staples strich sich über das von grauen Strähnen durchsetzte Haar. »Das war mir nicht bewußt.«
»Hey, jetzt kommen Sie. Es war nicht zu überhören. Sie klangen genau wie ich, als Sie mir die Fotos gaben.«
»Johnny, glauben Sie mir. Wir haben da vielleicht mit etwas zu tun, von dem wir beide die Finger lassen müßten. Etwas weit über unseren Köpfen, von dem wir - ich - nicht soviel wissen, als daß wir die richtige Entscheidung treffen könnten.«
»Ich muß eine Entscheidung treffen, Catherine.« Nelson blickte auf und sah sich nach dem Kellner um. »Wo bleiben diese verdammten Drinks?«
»Ich bin ja nicht gerade am Verdursten.«
»Aber ich. Ich schulde Ihnen alles, und ich mag Sie und ich weiß, daß Sie die Fotos nicht gegen mich verwenden würden, was es nur noch schlimmer macht -«
»Ich habe Ihnen alle Fotos gegeben, die ich hatte, und die Negative haben wir gemeinsam verbrannt.«
»Also habe ich echte Schulden bei Ihnen, können Sie das nicht verstehen? Herrgott, die Kleine war - was denn - zwölf Jahre alt?«
»Das haben Sie nicht gewußt. Sie standen unter Drogeneinfluß.«
»Ja, ein richtiger Passierschein ins Vergessen. Kein Aufstieg, kein Staatssekretär, höchstens noch eine Zukunft als Hauptdarsteller in Kinderpornos! Ein Alptraum!«
»Das ist jetzt vorbei, und Sie übertreiben. Ich möchte nur, daß Sie mir sagen, ob es eine Verbindung zwischen Havilland und Marie St. Jacques gibt, und ich glaube, das können Sie. Warum ist das so schwierig? Dann werde ich wissen, was zu tun ist.«
»Weil ich, wenn ich das tue, Havilland sagen muß, daß ich es Ihnen gesagt habe.«
»Dann geben Sie mir eine Stunde Zeit.«
»Warum?«
»Weil ich in meinem Safe im Konsulat doch noch ein paar Fotos habe«, log Catherine Staples.
Nelson fuhr in seinem Sessel zurück. »O Gott!« stieß er wie benommen hervor. »Das glaube ich nicht!«
»Versuchen Sie zu verstehen, Johnny. Wir kämpfen jetzt mit harten Bandagen, und zwar, weil es im Interesse unserer Arbeitgeber liegt - unserer Länder, wenn Sie so wollen. Marie St. Jacques war eine Freundin von mir, ist eine Freundin - und ihr Leben war plötzlich nichts mehr wert - in den Augen selbstsüchtiger Männer, die eine Geheimoperation führten und denen sie und ihr Mann völlig gleichgültig waren. Sie haben sie beide benutzt und dann versucht, sie beide umzubringen! Ich will Ihnen etwas sagen, Johnny. Ich verabscheue Ihre CIA und die so hochtrabend als Consular Operations bezeichneten Aktionen Ihres Außenministeriums. Ich verabscheue sie nicht, weil sie Schweine sind, sondern weil es so dumme Schweine sind. Und wenn ich das Gefühl habe, daß wieder eine Operation eingefädelt wird, in der diese beiden Menschen mißbraucht werden sollen, die soviel Schreckliches durchgemacht haben, dann habe ich vor, die Gründe dafür herauszufinden und entsprechend zu handeln. Jedenfalls wird es keine Blankoschecks mehr geben, die nur durch ihr Leben gedeckt sind. Ich bin erfahren und diese beiden sind das nicht, und ich bin so zornig - so rasend vor Zorn -, daß ich Antworten verlange.«
»O Gott -« Der Kellner kam mit ihren Drinks. Als Staples aufblickte, um ihm dankend zuzunicken, fiel ihr Blick auf einen Mann neben einer Telefonzelle draußen im Korridor, der sie beobachtete. Sie schaute gleich wieder weg.
»Nun, was ist, Johnny?« fuhr sie fort. »Gibt es eine Verbindung oder nicht?«
»Es gibt eine«, flüsterte Nelson und griff nach seinem Glas.
»Das Haus in Victoria Peak?«
»Ja.«
»Wer war der Mann, mit dem Sie gesprochen haben, der, der einmal hier stationiert war?«
»McAllister. Staatssekretär McAllister.«
»Du großer Gott!«
Draußen im Korridor bewegte sich etwas. Catherine hielt die Hand über die Augen und drehte den Kopf etwas zur Seite. Jetzt konnte sie besser sehen. Ein großer Mann trat ein und ging auf das Telefon an der Wand zu. In ganz Hongkong gab es nur einen Mann wie ihn. Das war Lin Wenzu von der MI-6! Die Amerikaner hatten den Besten, den es gab, in ihrem Dienst, aber für Marie und ihren Mann konnte das das Schlimmste bedeuten. »Sie haben nichts Falsches getan, Johnny«, sagte Catherine Staples und stand auf. »Wir werden weiterreden, aber jetzt gehe ich erst mal aufs Klo!«
»Catherine?«
»Was?«
»Harte Bandagen?«
»Sehr hart, mein Schatz.«
Catherine ging an Wenzu vorbei, der sich abwandte. Sie ging in die Damentoilette, wartete ein paar Sekunden und ging dann mit zwei anderen Frauen wieder hinaus, löste sich von ihnen, eilte den Gang hinunter und in die Küche. Ohne ein Wort zu den verblüfften Kellnern und Köchen zu sagen, fand sie den Ausgang und ging hinaus. Sie rannte die Gasse zur Gloucester Road hinauf, nach links und beschleunigte ihre Schritte, bis sie eine Telefonzelle fand. Sie schob eine Münze in den Schlitz und wählte.
»Hallo?«
»Marie, du mußt die Wohnung verlassen! Mein Wagen steht in einer Garage, eine Straße rechts von dir, wenn du aus dem Haus kommst. Sie heißt Ming's. Eine rote Tafel. Sieh zu, daß du so schnell wie möglich dorthin kommst! Wir treffen uns dort. Lauf!« Catherine Staples winkte einem Taxi.
»Der Name der Frau ist Staples, Catherine Steples!« sprach Lin Wenzu mit scharfer Stimme in das Telefon im Eingangskorridor des Monkey Tree und hob die Stimme, um sich in dem dort herrschenden Lärm Gehör zu verschaffen. »Schieben Sie die Konsulatsdiskette ein und suchen Sie über Computer. Schnell! Ich brauche ihre Adresse, und daß es mir ja die richtige ist!« Die Muskeln an den Kinnladen des Majors arbeiteten wie wild, während er wartete. Dann bekam er die Antwort und erteilte den nächsten Befehl. »Wenn einer unserer Wagen in der Gegend ist, dann rufen Sie ihn über Funk und sagen Sie ihm, er soll dort hinfahren. Wenn nicht, dann schicken Sie sofort einen los.« Lin hielt inne, lauschte wieder. »Die Kanadierin«, sagte er dann leise ins Telefon. »Die sollen nach ihr Ausschau halten. Wenn sie sie entdecken, sollen sie sie festhalten. Wir sind unterwegs.«
»Wagen fünf, bitte kommen!« wiederholte der Mann in der Funkzentrale. Er sprach in ein Mikrofon und hatte die Hand an einem Schalter in der rechten unteren Ecke der Konsole vor ihm. Der Raum war weiß und ohne Fenster, das Summen der Klimaanlage leise, aber gleichmäßig, und das Zirpen der Filteranlage noch leiser. Drei Wände wurden von komplizierten Funk- und Computeranlagen eingenommen, die auf weißen Theken mit glattem Kunststoffbelag standen. Der ganze Raum hatte etwas Anti septisches an sich, etwas Hartes, ein Elektroniklabor in einem gut ausgestatteten Ärztezentrum hätte so aussehen können, aber das war es nicht. Es war das Kommunikationszentrum von MI-6, Hongkong.
»Hier Wagen fünf!« rief eine Stimme außer Atem über den Lautsprecher. »Ich habe Ihr Signal empfangen, war aber eine Straße weit entfernt und damit beschäftigt, den Thai zu überwachen. Wir hatten recht. Rauschgift.«
»Gehen Sie auf Zerhacker!« befahl der Mann aus der Zentrale. Ein pfeifendes Geräusch ertönte, verstummte aber ebenso schnell, wie es gekommen war. »Lassen Sie den Thai«, fuhr der Funker fort. »Sie sind am nächsten. Fahren Sie zur Arbuthnot Road hinüber, am schnellsten geht es über den Botanischen Garten.« Er gab die Adresse von Catherine Staples Wohnung durch und setzte dann noch einen Befehl hinzu: »Die Kanadierin. Halten Sie nach ihr Ausschau. Nehmen Sie sie fest.«
»Aiya«, flüsterte der atemlose Agent von MI-6.
Marie versuchte, nicht in Panik zu geraten und zwang sich zu einer Selbstbeherrschung, nach der ihr nicht zumute war. Die Situation war lächerlich. Und todernst. Sie trug Catherines Morgenrock, der ihr nicht recht paßte, und hatte gerade ein langes, heißes Bad genommen, und was noch schlimmer war, sie hatte ihre Kleider in Catherines Spülbecken ausgewaschen. Jetzt hingen sie über den Plastikstühlen auf Catherines kleinem Balkon und waren noch naß. Es war ihr so natürlich, so logisch erschienen, die Hitze und den Schmutz von Hongkong von sich und den Kleidern abzuwaschen. Und die billigen Sandalen hatten ihr Blasen an den Fußsohlen eingetragen; eine davon hatte sie mit einer Nadel angestochen, und das Gehen bereitete ihr Schwierigkeiten. Aber sie wagte es nicht zu gehen, nein, sie mußte rennen!
Was war geschehen? Catherine war nicht der Mensch, der unsinnige Befehle erteilte. Ebensowenig wie sie das war, ganz besonders bei David. Leute wie Catherine vermieden es, Befehle zu erteilen, weil damit das Denken des Opfers nur durcheinandergebracht wurde. Und ihre Freundin Marie St. Jacques war jetzt ein Opfer, nicht in dem Maße wie der arme David, aber nichtsdestoweniger ein Opfer. Lauf! Wie oft hatte Jason das in Zürich und Paris gesagt? So häufig, daß sie immer noch zusammenzuckte, wenn sie das Wort hörte.
Sie zog sich an, und die nassen Kleider klebten ihr am Körper, wühlte in Catherines Schrank herum, um ein Paar Slipper zu finden. Die waren unbequem, aber immerhin weicher als die Sandalen. Jetzt konnte sie rennen, sie mußte rennen.
Ihr Haar! Herrgott, das Haar! Sie rannte ins Badezimmer, wo Catherine Haarnadeln und Klammern in einer Porzellanschale aufbewahrte. Sie brauchte nur wenige Sekunden, um sich das Haar auf dem Kopf festzustecken, ging schnell wieder in das winzige Wohnzimmer zurück, fand ihren albernen Hut und stülpte ihn sich darüber.
Das Warten auf den Aufzug dauerte endlos! Nach den beleuchteten Zahlen über den Lifttüren hüpften die beiden Aufzüge zwischen den Stockwerken eins, drei und sieben hin und her, aber keiner machte sich die Mühe, über den achten Stock aufzusteigen.
Vermeide Aufzüge, wann immer du kannst. Sie sind Fallen. Jason Borowski. Zürich.
Marie blickte den Korridor hinauf und hinunter. Sie sah den Ausgang zur Feuertreppe und lief darauf zu.
Außer Atem erreichte sie die kurze Eingangshalle und nahm, so gut sie konnte, Haltung an, um die Blicke abzuwehren, die ihr von mehreren Mietern zugeworfen wurden, von denen einige kamen, andere gingen. Sie zählte nicht; sie konnte kaum sehen; sie mußte hinaus!
Mein Wagen steht in einer Garage, eine Straße rechts von dir, wenn du aus dem Haus kommst. Sie heißt Ming's. War es rechts? Oder war es links? Auf der Straße angekommen, zögerte sie. Rechts oder links? Sie versuchte zu denken. Was hatte Catherine gesagt? Rechts! Sie mußte nach rechts gehen; das war das erste, was ihr in den Sinn gekommen war. Darauf mußte sie sich verlassen.
Deine ersten Gedanken sind die besten, die genauesten, weil die Eindrücke in deinem Kopf gespeichert sind, so wie
Informationen in einer Datenbank. Und dein Kopf ist nichts anderes. Jason Borowski. Paris.
Sie fing zu rennen an. Der linke Schuh fiel ihr vom Fuß; sie blieb stehen, bückte sich, um ihn aufzuheben. Plötzlich kam ein Wagen um das Tor des Botanischen Gartens auf der anderen Straßenseite geschossen. Der Wagen bog im Halbkreis ab, und die Reifen quietschten auf dem Asphalt. Ein Mann sprang heraus und rannte auf sie zu.