Kapitel 34

Das grausige Foto wurde auf dem weißen Konferenztisch gemacht. Morris Panov gab, wenn auch ungern, Regieanweisungen. Ein blutbeflecktes weißes Laken bedeckte Webbs Körper; man hatte es ihm schräg über den Hals gelegt, so daß das blutüberströmte Gesicht gut zu erkennen war.

»Entwickeln Sie den Film so schnell wie möglich und bringen Sie mir die Kontaktabzüge«, wies Conklin an.

»Zwanzig Minuten«, sagte der Techniker und eilte zur Tür, während McAllister den Raum betrat.

»Was gibt es Neues?« fragte David und setzte sich auf den Tisch. Marie wischte ihm das Gesicht mit einem warmen, feuchten Tuch ab.

»Die Presseleute des Konsulats haben die Medien verständigt«, erwiderte der Staatssekretär. »Sie haben gesagt, sie würden in etwa einer Stunde eine Erklärung abgeben, sobald alle Fakten zur Verfügung stehen. Im Augenblick sind sie gerade damit beschäftigt, die Erklärung zusammenzuschustern. Ich habe ihnen die Rahmenhandlung geliefert und ihnen erlaubt, meinen Namen zu benutzen. Die werden jetzt ihren üblichen diplomatischen Schmus dazutun und uns das Ganze noch einmal vorlesen, ehe sie es freigeben.«

»Irgendwas Neues über Lin?« fragte der CIA-Mann.

»Eine Nachricht vom Arzt. Sein Zustand ist immer noch kritisch, aber er hat sich nicht verschlechtert.«

»Was ist mit der Presse dort draußen?« fragte Havilland. »Die müssen wir über kurz oder lang hereinlassen. Je länger wir warten, desto eher meinen die, daß wir hier was vertuschen wollen. Das können wir uns aber auch nicht leisten.«

»Da haben wir noch etwas Zeit«, sagte McAllister. »Ich habe ihnen ausrichten lassen, die Polizei sei - unter großem persönlichem Risiko - damit beschäftigt, das Gelände nach noch nicht detonierten Sprengkörpern abzusuchen. Unter solchen Umständen haben sogar Reporter eine Engelsgeduld. Übrigens habe ich dem Konsulat gesagt, sie sollen in der Presseerklärung hervorheben, der Mann, der das Haus angegriffen hat, sei offensichtlich ein Sprengstoffspezialist gewesen.«

Jason Borowski, einer der fähigsten Sprengstoffspezialisten, die Medusa hervorgebracht hatte, sah McAllister an. Der wandte den Blick ab. »Ich muß hier raus«, sagte Jason. »Ich muß so schnell wie möglich nach Macao.«

»David, um Himmels willen!« Marie stand vor ihrem Mann und starrte ihn an. Ihre Stimme war leise und eindringlich.

»Mir wäre es doch auch lieber, wenn das nicht sein müßte«, sagte Webb und stieg vom Tisch. »Wirklich, das wäre mir lieber«, wiederholte er mit leiser Stimme. »Aber es geht nicht anders. Ich muß hin. Ich muß mich an Shengs Fersen heften, ehe die Geschichte über das hier morgen in allen Zeitungen steht, ehe dieses Foto erscheint und die Nachricht bestätigt, die ich durch Kanäle zu ihm sende, von denen er überzeugt ist, daß keiner sie kennt. Er muß glauben, daß ich sein Lohnkiller bin, der Mann, den er umbringen wollte, und nicht der Jason Borowski von Medusa, der ihn in jener Waldschlucht zu töten versuchte. Er muß Nachricht von mir erhalten - von dem, für den er mich hält -, ehe er irgendwelche anderen Informationen bekommt. Weil die Information, die ich ihm zukommen lasse, das letzte ist, was er hören will. Alles andere wird ihm dann belanglos vorkommen.«

»Der Köder«, sagte Alex Conklin. »Wenn man ihm zuerst die kritische Information zukommen läßt und die Tarnung funktioniert, weil er verblüfft ist, dann akzeptiert er die gedruckte offizielle Version, ganz besonders das Foto in den Zeitungen.«

»Was werden Sie ihm sagen?« fragte der Botschafter, wobei sein Tonfall keinen Zweifel daran ließ, daß er gar nicht von der Aussicht begeistert war, die Kontrolle über diese besonders finstere Geheimoperation zu verlieren.

»Was Sie mir gesagt haben. Einen Teil Wahrheit und einen Teil Lüge.«

»Bitte deutlicher, Mr. Webb«, sagte Havilland mit fester Stimme. »Wir stehen tief in Ihrer Schuld, aber -«

»Sie stehen so tief in meiner Schuld, daß Sie mich nicht bezahlen können!« herrschte Jason Borowski ihn an. »Es sei denn, Sie jagen sich hier vor mir eine Kugel in den Schädel.«

»Ich kann Ihnen die Wut nachfühlen, aber ich muß trotzdem darauf bestehen. Sie werden nichts tun, was das Leben von fünf Millionen Menschen gefährdet, oder die vitalen Interessen der Vereinigten Staaten.«

»Ich bin froh, daß Sie die richtige Reihenfolge gewählt haben

- wenigstens dieses eine Mal. Also schön, Herr Botschafter, ich sage es Ihnen. Ich hätte es Ihnen schon vorher gesagt, wenn Sie den Anstand besessen hätten, den Anstand, zu mir zu kommen und ehrlich zu sein. Es überrascht mich, daß Ihnen das nie in den Sinn gekommen ist - nein, überrascht ist das falsche Wort, es erschüttert mich - aber das sollte es wahrscheinlich nicht. Sie glauben an Ihre Manipulationen, an all die äußeren Symbole

Ihrer leisen Macht... Wahrscheinlich glauben Sie, Sie hätten das alles verdient, weil Sie so verflucht clever sind. Sie sind alle gleich. Sie genießen es, wenn die Dinge kompliziert sind, und Sie sie erklären können - und deshalb haben Sie einfach keinen Sinn dafür, daß manchmal der gerade, einfache Weg sehr viel wirksamer ist.«

»Ich warte darauf, aufgeklärt zu werden«, sagte Havilland kalt.

»Also gut«, sagte Borowski. »Ich habe mir Ihre großspurigen Erklärungen sehr genau angehört. Sie haben sich große Mühe gegeben, uns zu erklären, warum niemand offiziell an Sheng herantreten und ihm das sagen konnte, was Sie wußten. Und Sie hatten auch recht. Er hätte Sie ausgelacht oder Ihnen ins Gesicht gespuckt oder Ihnen gesagt, Sie könnten ihn mal. Bestimmt hätte er das getan. Schließlich verfügt er über genügend Macht. Wenn Sie Ihre >empörenden< Anklagen nicht fallenlassen, sorgt er einfach dafür, daß Peking sich nicht an die HongkongVerträge hält. Und dann verlieren Sie. Und wenn Sie andererseits versuchen, ihn zu übergehen, dann viel Glück. Dann verlieren Sie nämlich auch. Sie haben keine Beweise, nur das Wort von ein paar toten Männern, denen man die Kehle durchgeschnitten hat. Mitglieder der Kuomintang, die alles sagen würden, um Parteifunktionäre in der Volksrepublik in Mißkredit zu bringen. Er lächelt nur und läßt Sie ohne ein Wort wissen, daß es für Sie besser wäre, sein Spiel mitzuspielen. Sie andererseits sind der Ansicht, daß Sie das nicht können, weil die Risiken zu groß sind - wenn Sheng hochgeht, geht der ganze Pazifikraum hoch. Auch in dem Punkt hatten Sie recht - wenn auch mehr aus den Gründen, die >Edward< uns geliefert hat, als aus denen, die Sie genannt haben. Peking könnte möglicherweise etwas Korruption und ein paar Provisionen als eine kleine Konzession an die menschliche Habgier übersehen, aber es würde ganz bestimmt nie zulassen, daß eine sich ausdehnende chinesische Mafia sich in seiner Industrie oder unter seinen Arbeitskräften oder gar in seiner Regierung einnistet. Wie >Edward< gesagt hat, könnte sie das ihre Jobs kosten -«

»Ich warte immer noch, Mr. Webb«, sagte der Diplomat.

»Okay. Sie haben mich rekrutiert, aber Sie haben die Lektion von Treadstone einundsiebzig vergessen. Man muß einen Meuchelmörder ausschicken, um einen Meuchelmörder zu fangen.«

»Das ist das einzige, was wir nicht vergessen haben«, unterbrach ihn der Diplomat, jetzt erstaunt. »Wir haben alles darauf abgestellt.«

»Aber aus den falschen Gründen«, sagte Borowski scharf. »Es gab eine bessere Möglichkeit, an Sheng heranzutreten und ihn so herauszulocken, daß man ihn töten konnte. Mich hätten Sie dazu nicht gebraucht. Meine Frau auch nicht! Aber das konnten Sie nicht erkennen. Ihr Superhirn mußte alles komplizieren.«

»Was konnte ich nicht erkennen, Mr. Webb?«

»Daß man einen Verschwörer schicken kann, um einen Verschwörer zu fangen. Inoffiziell - Dazu ist es jetzt zu spät, aber das hätte ich Ihnen geraten.«

»Ich bin nicht sicher, daß Sie mir alles gesagt haben.«

»Ein Teil Wahrheit, ein Teil Lüge - Ihre eigene Strategie. Ein Kurier wird zu Sheng geschickt, vorzugsweise ein seniler alter Mann, den man über einen Strohmann bezahlt und über Telefon informiert hat. Ohne feststellbare Quelle. Er überbringt eine mündliche Nachricht, nur für Shengs Ohren, nichts Schriftliches. Die Nachricht enthält gerade so viel Wahrheit, daß Sheng wie gelähmt ist. Nehmen wir beispielsweise an, der Mann, der die Nachricht schickt, wäre jemand in Hongkong, der Millionen verlieren würde, falls Shengs Plan scheitert, ein Mann, der so intelligent und so verängstigt ist, daß er seinen Namen nicht nennt. Die Nachricht könnte Anspielungen auf undichte Stellen oder auf Verräter in den entsprechenden Firmen

enthalten, oder auf Triaden, die man ausgeschlossen hat und die sich jetzt zusammenrotten, weil sie auch beteiligt sein möchten -all die Dinge, von denen Sie sicher sind, daß sie geschehen werden. Die Wahrheit. Sheng muß der Nachricht nachgehen, er kann es sich nicht leisten, das nicht zu tun. Kontakte werden hergestellt und ein Zusammentreffen arrangiert. Der

Verschwörer in Hongkong ist genauso darauf aus, sich zu schützen, wie Sheng selbst, und ebenso mißtrauisch, verlangt also einen neutralen Treffpunkt. Und der wird zur Falle ausgebaut.« Borowski hielt inne und sah McAllister an. »Selbst ein drittklassiger Sprengstoffspezialist könnte Ihnen zeigen, wie man so etwas macht.«

»Sehr schnell und sehr professionell«, sagte der Botschafter. »Nur mit einem einzigen unübersehbaren Schwachpunkt. Wo finden wir in Hongkong einen solchen Verschwörer?«

Jason Borowski sah den Diplomaten an, und sein

Gesichtsausdruck grenzte an Verachtung. »Sie erfinden ihn«, sagte er. »Das ist die Lüge.«

Havilland und Alex Conklin waren allein in dem Raum mit den weißen Wänden. Sie saßen sich an den beiden Enden des Konferenztisches gegenüber und schauten sich an. McAllister und Morris Panov waren in das Büro des Staatssekretärs gegangen, um sich an zwei Telefonen das erfundene Profil eines amerikanischen Killers anzuhören, mit dem das Konsulat die Presse abspeisen sollte. Panov hatte sich bereit erklärt, die psychiatrische Fachterminologie beizusteuern, damit alles ganz amtlich klang. David Webb hatte darum gebeten, mit seiner Frau allein sein zu dürfen, bis er gehen mußte. Man hatte sie in ein Zimmer im Obergeschoß gebracht; dabei war niemandem aufgefallen, daß es sich um ein Schlafzimmer handelte. Es war einfach eine Tür, die in ein leeres Zimmer auf der Südseite des alten viktorianischen Hauses führte, abseits von den

klatschnassen Männern und Trümmern an der Nordseite.

McAllister hatte geschätzt, daß Webb in höchstens fünfzehn Minuten würde abfahren müssen. Jason Borowski und der Staatssekretär würden von einem Wagen zum Kai-tak-Flughafen gebracht werden. Weil Eile geboten war und weil die Tragflügelboote nur bis 21.00 Uhr verkehrten, würde sie ein Rettungshubschrauber nach Macao fliegen, wo alle Papiere vorbereitet waren, so daß sie dringend benötigte Arzneimittel in das Kiang-Wu-Krankenhaus an der Rua Coelho Do Amaral bringen konnten.

»Es hätte nie geklappt, das wissen Sie«, sagte Havilland und sah Conklin an.

»Was hätte nicht geklappt?« fragte der Mann von Langley, den der Diplomat aus tiefen Gedanken gerissen hatte. »Was David Ihnen gesagt hat?«

»Sheng hätte sich nie bereit erklärt, sich mit jemandem zu treffen, den er nicht kannte, mit jemandem, der sich nicht zu erkennen gab.«

»Das kommt darauf an, wie man es ihm verkauft. So ist das bei solchen Dingen immer. Wenn die kritische Information wirklich umwerfend ist und die Fakten authentisch sind, hat der Betreffende keine große Wahl. Er kann den Boten nicht befragen - der weiß nämlich nichts -, also muß er zur Quelle gehen. Webb hatte schon recht, er kann sich einfach nicht leisten, das nicht zu tun.«

»Webb?« fragte der Botschafter ausdruckslos und hob die Brauen.

»Borowski, Delta. Wer, zum Teufel, weiß das schon? Die Strategie ist gut.«

»Zu viele Fehlkalkulationen sind dabei möglich, zu viele falsche Bewegungen, wenn eine Seite einfach eine Partei erfindet, die es gar nicht gibt.«

»Sagen Sie das Jason Borowski.«

»Da waren die Umstände anders. Treadstone hatte einen agent provocateur, der großes Interesse daran hatte, Jagd auf den Schakal zu machen. Einen vom Haß Besessenen, der sich für ein extremes Risiko entschied, weil er dafür ausgebildet war und zu lange mit der Gewalt gelebt hatte, als daß er hätte aufgeben können. Er wollte nicht aufgeben. Es gab sonst keinen Platz für ihn.«

»Eine rein akademische Frage«, sagte Conklin, »aber ich glaube nicht, daß Sie in einer besonders guten Position sind, sich darüber mit ihm herumzustreiten. So wie Sie ihn ausgeschickt haben, standen alle Chancen gegen ihn, und er kommt mit dem Meuchelmörder im Schlepptau zurück - und findet Sie. Wenn er gesagt hat, daß man es auch anders hätte machen können, hat er wahrscheinlich recht, und Sie können das nicht widerlegen.«

»Das nicht«, meinte Havilland, stützte die Ellbogen auf den Tisch und funkelte den CIA-Mann an, »aber ich kann behaupten, daß das, was wir getan haben, wirklich funktioniert hat. Den Killer haben wir verloren, dafür aber haben wir einen Provokateur gewonnen, der nicht nur willig ist, sondern geradezu besessen. Er war von Anfang an die beste Wahl, aber wir haben nie auch nur einen Augenblick daran gedacht, daß man ihn dazu bringen könnte, den Auftrag von sich aus selbst zu übernehmen. Jetzt läßt er keinen anderen heran; er geht selbst und besteht sogar auf seinem Recht, es zu tun. Also hatten wir am Ende doch recht - ich hatte recht. Man setzt die Kräfte in Bewegung, auf Kollisionskurs, beobachtet alles, ist bereit abzubrechen, wenn nötig sogar zu töten, weiß aber gleichzeitig, daß die Lösung um so näher ist, je größer die Komplikationen werden und je gefährlicher. Am Ende schaffen sie sich - in ihrem Haß, ihrem Argwohn, ihrer Leidenschaft - ihre eigene Gewalt, und dann wird der Auftrag erledigt. Es mag sein, daß man dabei die eigenen Leute verliert, aber man muß den Verlust abwägen gegen den Nutzen, den es bringt, den Feind aus dem Gleichgewicht zu bringen, ihn zu enttarnen.«

»Gleichzeitig aber riskieren Sie, daß Sie sich selber enttarnen, wo Sie doch sagten, daß Sheng nicht merken darf, daß Sie die Hand im Spiel haben.«

»Wieso?«

»Weil wir noch nicht am Ende sind. Nehmen wir an, Webb schafft es nicht. Nehmen wir an, er wird gefangen, und Sie können Gift darauf nehmen, daß der Befehl besteht, ihn lebend festzunehmen. Wenn ein Mann wie Sheng merkt, daß man ihn in die Falle locken will, wird er wissen wollen, wer dahintersteckt. Wenn es dann nicht ausreicht, ihm einen Fingernagel auszureißen oder auch alle zehn - und das würde wahrscheinlich nicht reichen -, dann setzen die ihn bis zum Stehkragen unter Drogen und finden am Ende heraus, woher er kommt. Er hat alles gehört, was Sie ihm gesagt haben -«

»Bis zu dem Punkt, an dem die Regierung der Vereinigten Staaten unter keinen Umständen hineingezogen werden darf«, unterbrach ihn der Diplomat.

»Das ist richtig, aber er wird nichts dagegen tun können. Unter entsprechenden Drogen wird er alles sagen. Daß Sie dahinterstecken. Und dann ist Washington involviert.«

»Durch wen?«

»Durch Webb, zum Teufel! Durch Jason Borowski, wenn Sie wollen.«

»Durch einen Mann, von dem bekannt ist, daß er geistig gestört war, einen Mann, von dem man weiß, daß er immer wieder zu Aggressionen und zur Selbsttäuschung neigt? Einen paranoiden Schizophrenen, von dem Telefonaufzeichnungen existieren, die ganz deutlich das Krankheitsbild eines Geistesgestörten zeigen, eines Mannes, der verrückte Anklagen verbreitet und denen, die ihm zu helfen versuchten, wilde Drohungen entgegengeschleudert hat?« Havilland machte eine kurze Pause und fügte dann mit leiser Stimme hinzu: »Nein, Mr. Conklin, ein solcher Mann spricht nicht für die Regierung der

Vereinigten Staaten. Wie könnte er das? Wir haben überall nach ihm gesucht. Er ist eine Zeitbombe, unvernünftig, ein Spielball von Wahnvorstellungen, wittert überall Verschwörungen. Wir wollen ihn zurück haben, um ihn therapeutisch behandeln zu können. Außerdem vermuten wir, daß er das Land wegen seiner Aktivitäten in der Vergangenheit mit einem illegalen Paß verlassen hat -«

»Therapeutisch behandeln ...?« unterbrach Alex fassungslos. »Aktivitäten in der Vergangenheit?«

»Natürlich, Mr. Conklin. Wenn es notwendig ist, sind wir bereit, zuzugeben, daß er früher einmal für die Regierung tätig war und im Zuge dieser Tätigkeit schweren Schaden genommen hat. Aber es ist doch ganz ausgeschlossen, daß er in irgendeiner Weise offiziellen Status hat. Wie könnte er auch? Diese tragische Gestalt, dieser gewalttätige Mann ist möglicherweise für den Tod seiner Frau verantwortlich, von der er behauptet, daß sie verschwunden ist.«

»Marie? Sie würden Marie benutzen?«

»Wir würden das müssen. Sie ist in den Akten verzeichnet, in den Aussagen, die freiwillig von Männern geliefert wurden, die Webb psychiatrisch behandelt haben.«

»Großer Gott!« flüsterte Alex wie gebannt von den kalten, präzisen Worten des alten Mannes. »Sie haben ihm alles gesagt, weil Sie sich selbst geschützt hatten. Selbst wenn man ihn fängt, könnten Sie sich mit offiziellen Aufzeichnungen schützen, mit psychiatrischen Auswertungen - Sie könnten ihn fallenlassen! O Gott, Sie Schwein.«

»Ich habe ihm die Wahrheit gesagt, weil er es sicherlich gemerkt hätte, wenn ich wieder versucht hätte, ihn anzulügen. McAllister ist natürlich noch weiter gegangen, indem er den Faktor des organisierten Verbrechens betonte - einen Faktor, der zwar zutrifft, der aber von so empfindlicher Natur ist, daß ich es vorziehen würde, davon nichts zu erwähnen. Alle würden das.

Aber schließlich habe ich auch Edward nicht alles gesagt. Er verfügt noch nicht über genügend Distanz zwischen seinen ethischen Vorstellungen und den Anforderungen seines Berufs. Wenn er einmal soweit ist, könnte er meinen Platz einnehmen, aber ich glaube nicht, daß er dazu fähig ist.«

»Sie haben David alles gesagt, für den Fall, daß er der Gegenseite in die Hand fällt«, fuhr Conklin fort, ohne Havilland zuzuhören. »Wenn er Sheng nicht umbringen kann, dann wollen Sie, daß man ihn festnimmt. Sie rechnen auf die Amphetamine und das Skopolamin. Die Drogen! Dann wird Sheng die Nachricht bekommen, daß uns seine Verschwörung bekannt ist, und er wird sie inoffiziell bekommen, nicht von uns, sondern von einem Geisteskranken ohne offizielle Rückendeckung. Herrgott! Das ist eine Variation von dem, was Webb Ihnen gesagt hat!«

»Inoffiziell«, pflichtete der Diplomat ihm bei. »Auf die Weise läßt sich soviel erreichen. Keine Konfrontationen, ganz glatt.«

»Wenn man vom Leben eines Mannes absieht!« schrie Alex. »Er wird sterben. Er muß sterben, und zwar vom Standpunkt beider Seiten aus.«

»Das ist der Preis, Mr. Conklin, falls er bezahlt werden muß.«

Alex wartete, als rechne er damit, daß Havilland weitersprach. Aber da kam nichts, nur der bohrende Blick der starken, traurigen Augen. »Das ist alles, was Sie zu sagen haben? Daß das der Preis ist - wenn er bezahlt werden muß?«

»Die Einsätze sind viel höher, als wir uns vorgestellt haben -weit höher. Das wissen Sie ebensogut wie ich. Machen Sie also kein so erschüttertes Gesicht.« Der Botschafter lehnte sich in seinem Sessel zurück, er wirkte dabei etwas steif. »Sie haben auch schon solche Entscheidungen getroffen, solche Berechnungen angestellt.«

»Nicht so. Niemals so! Man schickt seine Leute hinaus und kennt die Risiken, aber man baut nicht einen Mann auf dem

Schlachtfeld auf und schneidet ihm den Rückzug ab! Da war er noch besser dran, als er glaubte - glaubte -, er würde den Killer bringen, um seine Frau zurückzubekommen!«

»Diesmal geht es um ein anderes Ziel. Ein unendlich viel wichtigeres.«

»Ich weiß das. Dann schicken Sie nicht ihn! Dann beschaffen Sie sich die Codes und schicken einen anderen! Einen, der nicht vor Erschöpfung halb tot ist!«

»Erschöpft oder nicht, er ist der beste Mann für diesen Einsatz und besteht darauf, ihn zu übernehmen.«

»Weil er nicht weiß, was Sie getan haben! Wie Sie ihn eingeengt haben, wie Sie ihn zu einem Boten gemacht haben, der sterben muß!«

»Ich hatte keine Wahl. Sie haben es ja selbst gesagt, er hat mich gefunden. Ich mußte ihm die Wahrheit sagen.«

»Dann, und ich wiederhole, dann sollten Sie einen anderen schicken! Ein Killerteam, das von einem Strohmann angeheuert ist, ohne Verbindung zu uns, ein Team, das einfach für einen professionellen Mord bezahlt wird, dessen Ziel Sheng ist. Webb weiß, wie man an Sheng herankommt, das hat er Ihnen gesagt. Ich werde ihn überreden, daß er Ihnen die Codes gibt, und Sie kaufen ein Killerteam!«

»Sie stellen uns wohl mit den Ghadafis dieser Welt auf eine Stufe?«

»Das ist so kindisch, daß mir die Worte fehlen -«

»Vergessen Sie's«, unterbrach Havilland. »Wenn man je eine Spur fände, die zu uns führt - und das könnte man -, müßten wir unsere Raketen auf China abschießen, ehe die etwas auf uns werfen können. Unvorstellbar.«

»Was Sie hier tun, ist unvorstellbar!«

»Es gibt wichtigere Prioritäten als das Überleben eines einzelnen Individuums, Mr. Conklin, und ich kann nur wiederholen, daß Sie das ebensogut wissen wie ich. Das war Ihr Beruf - wenn Sie mir das bitte verzeihen wollen -, aber der vorliegende Fall liegt auf einer höheren Ebene als alles, was Sie bisher erlebt haben. Nennen wir es eine geopolitische Ebene.«

»Sie Arschloch!«

»Jetzt kommen Ihre Schuldgefühle ans Licht, Alex - wenn ich Sie Alex nennen darf -, sonst würden Sie mich nicht persönlich beleidigen. Ich habe niemals Jason Borowski auf die Abschußliste gesetzt. Meine größte Hoffnung ist, daß er Erfolg hat, daß es ihm gelingt, Sheng zu töten. Wenn das geschieht, ist er frei; China, der ganze Ferne Osten, ist ein Ungeheuer los, und der Welt wird ein chinesisches Sarajewo erspart, Das ist meine Aufgabe, Alex.«

»Dann sagen Sie es ihm wenigstens! Warnen Sie ihn!«

»Das kann ich nicht. Ebensowenig wie Sie das in meiner Lage könnten. Man sagt einem tueur ä gages

»Würden Sie mir das übersetzen, Sie elegantes Arschloch?«

»Ein Mann, den man auf Killermission schickt, muß Zuversicht haben, muß auf seine Überzeugungen vertrauen können. Er darf keine Sekunde über seine Motive oder seine Gründe nachdenken. Er darf überhaupt keine Zweifel haben. Gar keine. Er muß völlig von seiner Aufgabe besessen sein. Das ist seine einzige Chance für den Erfolg.«

»Und wenn er keinen Erfolg hat? Wenn er umgebracht wird?«

»Dann fangen wir so schnell wie möglich wieder von vorne an und setzen jemand anderen ein. McAllister wird in Macao bei ihm sein und die Codes erfahren, mit denen man Sheng erreichen kann. Borowski hat sich damit einverstanden erklärt. Wenn es zum Schlimmsten kommt, könnten wir ja seine Theorie mit dem erfundenen Verschwörer ausprobieren. Er sagt, dafür sei es jetzt zu spät, aber er könnte sich ja irren. Sie sehen, ich schrecke keineswegs davor zurück, etwas dazuzulernen, Alex.«

»Sie schrecken vor gar nichts zurück«, sagte Conklin zornig und stand auf. »Aber Sie haben etwas vergessen - etwas vergessen, was Sie zu David gesagt haben. Das Ganze enthält einen unübersehbaren Fehler.«

»Und der wäre?«

»Ich werde nicht zulassen, daß Sie damit durchkommen.«

Alex hinkte zur Tür. »Man kann von einem Mann eine ganze Menge verlangen, aber dann kommt einmal ein Punkt, wo man nicht noch mehr von ihm verlangen kann. Sie sind erledigt, Sie elegantes Arschloch. Webb wird die Wahrheit erfahren, die ganze Wahrheit.«

Conklin öffnete die Tür. Er sah sich dem Rücken eines hochgewachsenen Ledernacken gegenüber, der eine präzise Kehrtwendung vollführte und den Karabiner präsentierte, als die Tür aufging.

»Aus dem Weg, Soldat«, sagte Alex.

»Tut mir leid, Sir!« bellte der Ledernacken, und seine Augen blickten glasig durch den CIA-Mann hindurch.

Conklin drehte sich zu dem Diplomaten hinter dem Schreibtisch um. Havilland zuckte die Achseln. »Vorschrift«, sagte er.

»Ich hab gedacht, diese Leute wären jetzt hier weg. Ich hab gedacht, man hätte sie zum Flughafen gebracht.«

»Die, die Sie gesehen haben, sind auch dort. Die hier kommen aus dem Konsulat. Downing Street hat dankenswerterweise ein paar Vorschriften gelockert, und so ist das hier jetzt offiziell US-Territorium. Wir haben Anspruch auf militärischen Schutz.«

»Ich will Webb sprechen!«

»Das geht jetzt nicht. Er muß gleich weg.«

»Für wen, zum Teufel, halten Sie sich eigentlich?«

»Ich heiße Raymond Oliver Havilland. Ich bin Sonderbotschafter und im Auftrag der Regierung der

Vereinigten Staaten von Amerika tätig. In Krisenzeiten sind meine Anweisungen ohne Widerspruch auszuführen. Dies ist eine Krise. Sie können mich am Arsch lecken, Alex.«

Conklin schloß die Tür und ging schwerfällig zu seinem Sessel zurück. »Was kommt jetzt als nächstes, Herr Botschafter? Bekommen wir alle drei eine Kugel in den Schädel, oder ziehen Sie eine Lobotomie vor?«

»Ich bin sicher, daß wir uns verständigen können.«

Sie hielten einander fest. Marie wußte, daß er nur zum Teil er selbst war. Alles war wieder wie in Paris, als sie einen verzweifelten Mann namens Jason Borowski gekannt hatte, der versuchte, am Leben zu bleiben, aber nicht sicher war, ob er es schaffen würde oder es überhaupt versuchen sollte. Ein Mann, dessen Selbstzweifel für ihn in mancher Hinsicht ebenso lebensgefährlich waren wie seine Feinde, die ihn umbringen wollten. Aber es war nicht ganz so wie in Paris, diesmal gab es keine Selbstzweifel, keine fieberhaft erdachten Taktiken, um den Verfolgern zu entkommen, kein verzweifeltes Rennen, um die Jäger ihrerseits in die Falle zu locken. Was sie an Paris erinnerte, war eher die Distanz, die sie zwischen ihm und sich spürte. David versuchte, an sie heranzukommen - David, der großzügige, einfühlsame David -, aber Jason Borowski wollte ihn nicht loslassen. Diesmal war Jason der Jäger, nicht der Gejagte, und das stärkte seine Willenskraft.

»Warum, David? Warum?«

»Das habe ich dir gesagt. Weil ich es kann. Weil ich es muß. Weil es getan werden muß.«

»Das ist keine Antwort, mein Liebling.«

»Also gut.« Webb löste sich von seiner Frau, schob sie ein Stück von sich weg, hielt sie an den Schultern fest, sah ihr in die Augen. »Ich tue es für uns.«

»Für uns?«

»Ja. Sonst würde ich diese Bilder mein Leben lang immer vor mir sehen. Sie würden immer wieder zurückkehren und mich zerstören, weil ich dann wüßte, was ich hinter mir zurückgelassen habe, und damit könnte ich nicht fertig werden, und dann würde ich abstürzen und dich mitreißen, weil du bei aller Intelligenz nicht genug Verstand hast, rechtzeitig abzuspringen.«

»Lieber stürze ich mit dir ab, als ohne dich zu leben. Versteh mich recht: Für mich ist die Hauptsache, daß du am Leben bleibst.«

»Das ist kein Argument.«

»Aber immerhin etwas, worüber du nachdenken solltest.«

»Ich werde nur sagen, was zu tun ist, nicht selbst handeln.«

»Was, zum Teufel, soll das jetzt wieder bedeuten?«

»Ich möchte, daß Sheng erledigt wird, umgebracht, das ist mein absoluter Ernst. Er verdient es nicht, weiter zu leben, aber ich werde ihn nicht persönlich erledigen -«

»Spiel nicht den lieben Gott, das paßt nicht zu dir!« unterbrach ihn Marie scharf. »Laß doch andere darüber entscheiden. Halt du dich raus und bring dich in Sicherheit.«

»Du hast mir nicht richtig zugehört. Ich war dort und habe ihn gesehen - ihn gehört. Er verdient es nicht, daß er weiterlebt. Er hat das Leben als ein wertvolles Geschenk bezeichnet. Darüber läßt sich streiten, je nachdem, um was für ein Leben es sich handelt, aber für ihn bedeutet Leben überhaupt nichts. Er will töten - vielleicht muß er das, ich weiß es nicht; da mußt du Panov fragen -, das steht in seinen Augen geschrieben. Er ist Hitler und Mengele und Dschingis-Khan ... der Kettensägenmörder - was auch immer, aber er muß weg. Und ich muß dafür sorgen, daß er verschwindet.«

»Aber warum?« flehte Marie. »Du hast mir immer noch nicht geantwortet!«

»Das habe ich, aber du hast mir nicht zugehört. Ich würde ihn so oder so jeden Tag sehen, seine Stimme hören. Ich würde ihn dabei beobachten, wie er mit von Schrecken gelähmten Menschen spielt, ehe er sie umbringt, sie abschlachtet. Versuche doch zu verstehen. Ich habe es versucht und bin kein Experte dafür, aber ich habe einiges über mich gelernt. Nur ein Idiot lernt nichts über sich selbst. Es sind die Bilder, Marie, die verdammten Bilder, die immer wiederkehren, Türen, die sich öffnen - Erinnerungen, von denen ich nichts wissen will, die ich aber doch nicht los werde. Einfach ausgedrückt, ich kann das nicht mehr ertragen. Ich kann nicht zulassen, daß meine Sammlung von Schreckensbildern sich vergrößert. Siehst du, ich will, daß es besser wird - ich erwarte nicht, daß ich wieder ganz gesund werde, doch damit könnte ich leben -, aber ich will auf keinen Fall wieder in diese Hölle zurück. Um unser beider willen.«

»Und du meinst, du wirst diese Bilder los, wenn du für den Tod eines Menschen sorgst?«

»Ich glaube, das wird helfen, ja. Alles ist relativ, und ich wäre nicht hier, wenn Echo nicht sein Leben weggeworfen hätte, damit ich leben kann. So was auszusprechen ist ein bißchen aus der Mode, aber wie die meisten Menschen habe auch ich ein Gewissen. Vielleicht ist es auch Schuldgefühl, weil ich überlebt habe. Ich muß es einfach tun.«

»Du hast dich selbst davon überzeugt?«

»Ja, das habe ich. Ich bin am besten dafür ausgerüstet.«

»Und du sagst, du gibst nur die Anweisungen, führst sie nicht selber aus?«

»Anders möchte ich es nicht haben. Ich komme zurück, weil ich noch ein langes Leben mit dir zusammen führen möchte, Lady.«

»Und was für eine Garantie bekomme ich? Wer wird denn die Anleitungen ausführen?«

»Der Zuhälter, der uns in all das hineingeritten hat.«

»Und wer ist der Zuhälter?«

»McAllister. Der Mann, der an Anstand glaubt und so lange ein scheinheiliges Gesicht macht, bis die Herren an der Macht von ihm verlangen, daß er als Zuhälter auftritt. Wahrscheinlich wird er Havilland zu Hilfe rufen, und das soll mir recht sein. Zu zweit werden sie es schaffen.«

»Aber wie?«

»Es gibt Männer - und Frauen -, die bereit sind zu töten, wenn nur der Preis hoch genug ist. Diese Leute haben vielleicht kein Ego wie der legendäre Jason Borowski oder der reale Schakal Carlos, aber in diesem gottverfluchten, stinkenden Reich der Finsternis gibt es sie überall. Edward, dieser Zuhälter, hat uns gesagt, daß er sich überall im Fernen Osten Feinde gemacht hat, von Hongkong bis zu den Philippinen, von Singapur bis Tokio. Und alles im Namen Washingtons, das hier Einfluß wollte. Wenn man sich Feinde macht, weiß man, wer sie sind, und kennt die Signale, die man aussenden muß, um sie zu erreichen. Und das wird er jetzt tun, mit Hilfe von Havilland. Ich werde alles vorbereiten, aber irgendein anderer wird die Tat selbst begehen, und es ist mir völlig egal, wie viele Millionen es sie kostet. Ich werde aus der Ferne zusehen, um sicher zu sein, daß der Schlächter getötet wird, daß Echo das bekommt, was ihm zusteht, daß China ein Ungeheuer los wird, das es sonst in einen schrecklichen Krieg stürzen könnte - aber das ist alles, was ich tun werde. Zusehen. McAllister ahnt davon noch nichts. Aber er kommt mit mir.«

»Wer spricht jetzt?« fragte Marie. »David oder Jason?«

Ihr Mann machte eine Pause, dachte nach. »Borowski«, sagte er schließlich. »Es muß Borowski sein, bis ich zurück bin.«

»Und das weißt du?«

»Das akzeptiere ich. Ich habe keine andere Wahl.«

Ein leises, schnelles Klopfen an der Schlafzimmertür: »Mr. Webb. Ich bin's, McAllister. Es ist Zeit.«

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