Kapitel 31

Havilland stellte sich Conklin im Korridor des Krankenhauses vor dem Einsatzraum, den die Polizei sich eingerichtet hatte. Der Diplomat hatte sich dazu entschlossen, in der überlaufenen, weißgetünchten Halle mit dem CIA-Mann zu sprechen, eben weil dort so reger Betrieb herrschte - Schwestern und Assistenzärzte, Chirurgen und Internisten, sie alle waren auf den Korridoren in beständiger Bewegung, sprachen miteinander und benutzten Telefone, die dauernd zu klingeln schienen. Unter diesen Umständen würde sich Conklin mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht auf eine laute, hitzige Auseinandersetzung einlassen; der Botschafter konnte seine Argumente unter diesen Umständen besser vortragen.

»Borowski hat Verbindung mit uns aufgenommen«, sagte Havilland.

»Gehen wir hinaus«, sagte Conklin.

»Das geht nicht«, erwiderte der Diplomat. »Lin kann jeden Augenblick sterben, es kann aber auch sein, daß man uns gleich zu ihm läßt. Auf die Chance dürfen wir nicht verzichten.«

»Dann gehen wir wieder hinein.«

»In dem Raum sind noch fünf Leute. Sie wollen genausowenig wie ich, daß die uns hören.«

»Herrgott, Sie haben auch auf alles eine Antwort, wie?«

»Ich muß an uns alle denken. Nicht nur an ein paar Leute, sondern uns alle.«

»Was wollen Sie von mir?«

»Die Frau natürlich, das wissen Sie.«

»Das weiß ich - natürlich. Und was bieten Sie?«

»Mein Gott, Jason Borowski!« »Ich will David Webb. Ich will Maries Mann. Ich will wissen, daß er lebt und daß es ihm gutgeht und daß er in Hongkong ist. Ich möchte ihn mit eigenen Augen sehen.«

»Das ist unmöglich.«

»Dann sollten Sie mir sagen, warum das unmöglich ist.«

»Ehe er sich zeigt, erwartet er, daß er binnen dreißig Sekunden nach der Kontaktaufnahme mit seiner Frau sprechen kann. So lautet die Vereinbarung.«

»Aber Sie sagten doch gerade, er hätte Kontakt hergestellt.«

»Er schon. Aber wir nicht. Das konnten wir uns ohne Marie Webb am Telefon nicht leisten.«

»Jetzt komme ich nicht mehr mit!« sagte Conklin ärgerlich.

»Er hatte Bedingungen gestellt, so ähnlich wie die Ihren, was durchaus verständlich ist. Sie haben beide -«

»Was für Bedingungen?« unterbrach ihn der CIA-Mann.

»Sein Anruf bedeutete, daß er den Mann hatte - das war die bilaterale Übereinkunft.«

»Herr und Heiland! >Bilateral

»Beide Seiten hatten sich damit einverstanden erklärt.«

»Ich weiß, was das bedeutet! Sie wollen mich einfach verarschen, sonst nichts.«

»Schreien Sie nicht so ... Für den Fall, daß wir seine Frau nicht binnen dreißig Sekunden ans Telefon holen könnten, sollten wir am Telefon einen Schuß hören, und der Schuß würde bedeuten, daß der Killer tot ist, daß Borowski ihn umgebracht hatte.«

»Der gute alte Delta.« Conklins Lippen verzogen sich zu einem schwachen Lächeln. »Der hat noch nie einen Trick ausgelassen. Und ich nehme an, da kommt noch was, habe ich recht?«

»Ja«, sagte Havilland grimmig. »Ein Übergabepunkt ist zwischen beiden Seiten zu vereinbaren -«

»Nicht bilateral?«

»Halten Sie den Mund! ... er will sehen, wie seine Frau allein auf ihn zukommt, ohne fremde Hilfe. Wenn er zufrieden ist, wird er mit seinem Gefangenen hervortreten, wahrscheinlich mit der Pistole am Kopf des Gefangenen, und dann wird der Austausch durchgeführt werden. Vom ersten Kontakt bis zum Austausch soll alles innerhalb weniger Minuten ablaufen, jedenfalls darf es nicht mehr als eine halbe Stunde dauern.«

»Ja, damit keiner von außen her irgend etwas unternehmen kann.« Conklin nickte. »Aber wenn Sie nicht geantwortet haben, woher wissen Sie dann, daß er Kontakt aufgenommen hat?«

»Lin hat die Telefonleitung angezapft und nach Victoria Peak geschaltet. Borowski wurde erklärt, die Leitung sei im

Augenblick unterbrochen, und als er versuchte, sich das bestätigen zu lassen - was er unter den gegebenen Umständen ja mußte -, hat man ihn mit dem Peak verbunden. Wir haben ihn so lange hingehalten, bis wir den Standort des Telefonautomaten anpeilen konnten, den er benutzte. Wir wissen, wo er ist. Unsere Leute sind jetzt zu ihm unterwegs und haben Anweisung, sich unauffällig zu verhalten. Wenn er etwas riecht oder sieht, wird er unseren Mann umbringen.«

»Angepeilt?« Alex musterte mit finsterer Miene das Gesicht des Diplomaten. »Er hat sich von Ihnen so lange hinhalten lassen, daß dafür Zeit war?«

»Er ist außer sich vor Sorge, darauf haben wir gebaut.«

»Webb vielleicht«, sagte Conklin. »Nicht Delta. Nicht wenn er darüber nachdenkt.«

»Er wird wieder anrufen«, beharrte Havilland. »Er hat keine Wahl.«

»Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht. Wie lange liegt sein letzter Anruf zurück?«

Der Botschafter sah auf die Uhr. »Zwölf Minuten.«

»Und der erste?«

»Etwa eine halbe Stunde.«

»Und Sie erfahren es jedesmal, wenn er anruft?«

»Ja. Die Information wird an McAllister weitergeleitet.«

»Stellen Sie fest, ob Borowski es wieder versucht hat.«

»Warum?«

»Weil er, wie Sie das ausgedrückt haben, außer sich vor Sorge ist und weiterhin anrufen wird. Er kann nicht anders.«

»Was wollen Sie damit sagen?«

»Daß Sie möglicherweise einen Fehler gemacht haben.«

»Wo? Wie?«

»Das weiß ich nicht, aber eines weiß ich: Ich kenne Delta.«

»Was könnte er tun, ohne uns zu erreichen?«

»Töten«, sagte Alex leise.

Havilland drehte sich um, blickte den überfüllten Korridor hinunter und ging auf den Empfangstisch der Etage zu. Er sprach kurz mit einer Schwester; die nickte und griff nach einem Telefonhörer. Er sprach nicht lange und legte dann auf. Als er zu Conklin zurückkehrte, war seine Stirn gefurcht. »Seltsam«, meinte er. »McAllister hat dasselbe Gefühl wie Sie. Edward hat erwartet, daß Borowski alle fünf Minuten anrufen würde, mindestens alle fünf Minuten.«

»Oh?«

»Er muß davon ausgehen, daß die Leitung jeden Augenblick wieder funktionieren könnte.« Der Botschafter schüttelte den Kopf, als könne er damit abtun, was ihm unwahrscheinlich erschien. »Wir sind alle viel zu angespannt. Es könnte eine ganze Anzahl von Erklärungen geben, angefangen damit, daß er kein Kleingeld hat, bis zu Verdauungsstörungen.«

Die Tür zur Intensivstation ging auf, und der britische Arzt sah heraus. »Herr Botschafter?«

»Lin?«

»Ein ungewöhnlicher Mann. Was er mitgemacht hat, würde ein Pferd umbringen. Aber andererseits haben beide etwa die gleiche Größe, und ein Pferd hat keinen Überlebenswillen.«

»Dürfen wir zu ihm?«

»Das hätte keinen Sinn, er ist noch bewußtlos - manchmal bewegt er sich, aber er kann nicht zusammenhängend reden. Jede Minute Ruhe, ohne daß er einen Rückfall bekommt, ist ein Fortschritt.«

»Es ist Ihnen klar, wie dringend wir ihn sprechen müssen, ja?«

»Ja, Mr. Havilland, das ist mir klar. Vielleicht klarer, als Sie denken. Sie wissen, daß ich für das Entkommen der Frau verantwortlich war -«

»Ja, das weiß ich«, sagte der Diplomat. »Man hat mir aber auch gesagt, daß sie, wenn sie Sie täuschen konnte, wahrscheinlich auch den besten Internisten in der Mayo-Klinik getäuscht hätte.«

»Das kann ich nicht beurteilen, aber ich halte mich eigentlich schon für kompetent. Aber in dem Fall komme ich mir wie ein Idiot vor. Ich werde alles tun, was in meiner Macht steht, um Ihnen und meinem guten Freund Major Lin zu helfen. Wenn er die nächste Stunde überlebt, glaube ich, daß er eine Chance hat. Und wenn es dazu kommt, werde ich dafür sorgen, daß Sie mit ihm reden können, solange Sie sich auf knappe und einfache Fragen beschränken. Wenn ich glaube, daß er einen schweren Rückfall hat und nicht mehr zu retten ist, werde ich Sie ebenfalls rufen.«

»Ein fairer Vorschlag, Herr Doktor. Vielen Dank.«

»Das ist das mindeste, was ich tun kann. Wenzu würde es genauso wollen. Ich gehe jetzt wieder zu ihm.«

Das Warten begann. Havilland und Alex Conklin kamen ebenfalls zu einer bilateralen Übereinkunft. Wenn Borowski das nächstemal versuchte, Schlangenweib zu erreichen, sollte ihm gesagt werden, daß die Leitung in zwanzig Minuten wieder funktionieren würde. In der Zeit würde Conklin in das Haus am Victoria Peak gebracht werden und sich darauf vorbereiten, das Gespräch zu führen. Er würde den Austausch einleiten und David sagen, daß Marie in Sicherheit sei und sich bei Morris Panov befinde. Die beiden Männer kehrten in den Vorraum der Intensivstation zurück und setzten sich einander gegenüber, und mit jeder lautlos verstreichenden Minute wuchs die Belastung.

Doch die Minuten dehnten sich zu Viertelstunden und die in eine ganze Stunde. Dreimal rief der Botschafter McAllister an, um nachzufragen, ob man etwas von Jason Borowski gehört habe. Nichts. Zweimal kam der englische Arzt heraus, um über Lins Zustand zu berichten. Der war unverändert, eine Tatsache, aus der sie Hoffnung schöpften. Einmal klingelte das Telefon, und die Köpfe von Havilland und Conklin fuhren zu der Schwester herum, die sich ganz ruhig meldete. Der Anruf war nicht für den Botschafter. Die Spannung nahm zu, und jedesmal, wenn sich die beiden Männer ansahen, las jeder in den Augen des anderen dieselbe Botschaft. Etwas stimmte nicht. Etwas war schiefgegangen. Ein chinesischer Arzt kam heraus und trat zu zwei Leuten, die hinten warteten, eine junge Frau und ein Priester; er redete leise auf sie ein. Die Frau stieß einen Schrei aus und fiel dann schluchzend dem Priester in die Arme. Es gab wieder eine Polizistenwitwe mehr. Sie wurde weggeführt, damit sie ihren Mann ein letztes Mal sah.

Stille.

Wieder klingelte das Telefon, und wieder starrten der Diplomat und der CIA-Mann zum Empfangstisch hinüber.

»Herr Botschafter«, sagte die Schwester, »für Sie. Der Herr sagt, es sei sehr dringend.« Havilland stand auf, ging zu ihr hinüber, nickte ihr dankend zu und griff nach dem Hörer.

Was auch immer es war, jetzt war es geschehen. Conklin beobachtete den Diplomaten; er hätte es nie für möglich gehalten, ihn jemals so zu Gesicht zu bekommen. Havilland wurde plötzlich aschfahl; die schmalen, normalerweise verkniffenen Lippen öffneten sich, die dunklen Augenbrauen schoben sich in die Höhe, und seine Augen wurden groß und glasig. Dann drehte er sich um und sprach mit kaum hörbarer Stimme zu Alex; es war das Flüstern der Angst.

»Borowski ist verschwunden. Sein Gefangener auch. Man hat zwei der Männer gefunden, gefesselt und schwer verletzt.« Er wandte sich wieder dem Telefon zu, und seine Augen verengten sich, während er zuhörte. »Großer Gott im Himmel!« rief er aus und drehte sich zu Conklin zurück.

Der CIA-Mann war nicht da.

David Webb war verschwunden, nur Jason Borowski blieb. Und doch war er gleichzeitig mehr und weniger als der Mann, der Carlos den Schakal gejagt hatte. Er war Delta, das Raubtier, das nur noch auf Rache aus war. Rache für ein Stück seines Lebens, ein Stück von unschätzbarem Wert, das man ihm wieder weggenommen hatte. Und wie ein rachsüchtiges Raubtier bewegte er sich in einer Art Trance, und jede Entscheidung war präzise, jede Bewegung tödlich. Er wollte jetzt nur noch töten; sein Menschenhirn war das eines Tieres geworden.

Er wanderte durch die schmutzigen Straßen des Yau Mi Ti, seinen Gefangenen im Schlepptau, gefesselt, und fand, was er suchte, zahlte Tausende von Dollar für Dinge, die nur einen Bruchteil davon wert waren. Und die Nachricht von dem seltsamen Mann und seinem noch seltsameren stummen Begleiter, der gefesselt war und um sein Leben fürchtete, sprach sich nach Mongkok herum. Andere Türen öffneten sich ihm, Türen, die Schmugglern vorbehalten waren, und die Nachricht über diesen Besessenen, der Tausende bei sich trug, war begleitet von übertriebenen Warnungen.

Er ist ein Besessener, ein Irrer, und er ist weiß und wird schnell töten. Es heißt, er habe zwei Männern, die unehrlich zu ihm waren, die Kehlen aufgeschlitzt. Es geht die Rede, ein Zhongguo ren sei erschossen worden, weil er ihn betrogen hat und das nicht geliefert, was er versprochen hatte. Er ist verrückt. Gebt ihm, was er will. Er zahlt mit harten Dollars. Wen interessiert das schon? Es ist nicht unser Problem. Laßt ihn kommen. Laßt ihn gehen. Nehmt einfach sein Geld.

Als es Mitternacht war, hatte Delta das Werkzeug, das er für sein tödliches Vorhaben brauchte. Für ihn zählte jetzt nur noch der Erfolg. Er mußte erreichen, was er sich vorgenommen hatte. Er mußte töten.

Wo war Echo? Er brauchte Echo. Der alte Echo war sein Maskottchen!

Echo war tot. Ein Wahnsinniger hatte ihn erschlagen, mit einem Zeremonienschwert in einem friedlichen Wald der Vögel. Erinnerungen.

Echo.

Marie.

Ich werde sie umbringen, weil sie dir das angetan haben!

Er hielt ein zerbeultes Taxi in Mongkok an, zeigte dem Fahrer ein paar Geldscheine und forderte ihn auf auszusteigen.

»Ja, was ist, Sir?« fragte der Mann in gebrochenem Englisch.

»Was ist Ihr Wagen wert?« sagte Delta.

»Ich nicht verstehen.«

»Wie viel? Geld? Für Ihren Wagen?«

»Du feng kuang!«

»Biu!« schrie Delta und sagte dem Fahrer damit, daß er nicht geistesgestört sei. »Wieviel wollen Sie für Ihren Wagen?« fuhr er auf chinesisch fort. »Morgen früh können Sie sagen, man hätte ihn gestohlen. Die Polizei wird ihn finden.«

»Der Wagen ist meine einzige Einkommensquelle, und ich habe eine große Familie! Sie sind verrückt!«

»Wie wäre es mit viertausend Dollar, amerikanische Dollar?«

»Nehmen Sie ihn!«

»Kuai!« sagte Jason, forderte den Mann auf, sich zu beeilen. »Helfen Sie mir mit diesem Kranken. Er hat die Schüttelkrankheit, und man muß hn festbinden, damit er sich nicht verletzt.«

Der Besitzer des Taxis half Jason, den Killer auf den Rücksitz zu legen, ohne dabei den Blick von den großen Scheinen zu wenden, die Borowski in der Hand hielt; er hielt den Mann fest, als Delta dem Gefangenen die Nylonschnüre um Knöchel, Knie und Ellbogen schlang und ihn erneut mit den Stoffetzen knebelte, die er aus dem Kopfkissenbezug gerissen hatte, und ihm die Augen verband. Da er nicht verstand, was chinesisch geschrien wurde, konnte der Gefangene nur passiven Widerstand leisten. Es war nicht nur der Schmerz, den ihm die gefesselten Handgelenke bereiteten, es war noch etwas, was ihm klar wurde, wenn er den Mann anstarrte, in dessen Gewalt er sich befand. An Jason Borowski hatte sich eine Veränderung vollzogen; er war in eine andere Welt gegangen, eine viel dunklere Welt. In seinen Augen stand der Tod.

Als sie durch den überfüllten Tunnel von Kowloon zur Insel Hongkong hinüberfuhren, bereitete Delta sich auf den Angriff vor, machte sich ein Bild von den Hindernissen, die ihm im Wege stehen würden, und überlegte sich die Gegenmaßnahmen, die er ergreifen würde. Er bereitete sich auf das Schlimmste vor.

Er hatte in den Dschungeln von Tarn Quan dasselbe getan. Da war nichts, was er nicht in Betracht gezogen hatte, und er hatte sie alle herausgebracht - alle, bis auf einen. Ein Stück Dreck, einen Mann, der keine Seele hatte, nur Gier nach Gold. Einen Verräter, der das Leben seiner Kameraden für einen kleinen Vorteil verkaufte. Dort hatte alles angefangen. Im Dschungel von Tarn Quan. Delta hatte das Stück Dreck hingerichtet, hatte ihm eine Kugel in den Kopf gejagt, während dieses Stück Dreck über Funk dem Vietcong ihre Position durchgab. Das Stück Dreck war ein Mann von Medusa, der Jason Borowski hieß und den er im Dschungel von Tarn Quan liegenließ, damit er dort verfaulte. Das war der Anfang des Wahnsinns gewesen. Und doch hatte Delta sie alle herausgebracht, darunter auch einen Bruder, an den er sich nicht erinnern konnte. Durch zweihundert Meilen feindliches Territorium hatte er sie gebracht, weil er das Wahrscheinliche bedacht und sich das Unwahrscheinliche vorgestellt hatte -wobei letzteres für ihr Entkommen viel wichtiger war, weil sein Verstand auf das Unerwartete vorbereitet war. Jetzt war es dasselbe. Es gab nichts, was ein abgeschottetes Haus am Victoria Peak gegen ihn ins Feld führen konnte, dem er nicht gewachsen war, das er nicht überwinden konnte. Der Tod würde dem Tod antworten.

Er sah die hohen Mauern um das Grundstück und fuhr einfach weiter, ganz langsam, wie ein Gast oder ein Tourist das tun würde, der sich auf der Straße nicht auskannte. Er entdeckte das Glas der versteckten Scheinwerfer und registrierte den Stacheldraht auf der Mauer. Auch die zwei Wachposten hinter dem mächtigen Tor nahm er zur Kenntnis. Sie hielten sich im Schatten auf, aber das Tuch ihrer Uniformjacken - Uniformen der Ledernacken - reflektierte das wenige Licht; ein Fehler, das Tuch hätte geschwärzt werden müssen, oder man hätte sie weniger militärisch einkleiden müssen. Für ein geübtes Auge war das abgeschottete Haus nicht zu verkennen. Für den

Ungeübten war es ganz eindeutig die Residenz eines wichtigen Diplomaten, eines Botschafters vielleicht, der wegen der gefährlichen Zeiten schutzbedürftig war. Der Terrorismus herrschte überall; man mußte sich vor Geiselnahmen schützen, sich verteidigen. Bei Sonnenuntergang wurden Cocktails serviert, zum leisen Gelächter der Elite, die die Regierungen beeinflußte, aber draußen waren die Gewehre bereit, wurden gespannt, wenn die Dunkelheit sich senkte, waren schußbereit. Delta begriff. Deshalb hatte er seinen vollen Beutel dabei.

Er lenkte den zerbeulten Wagen an den Straßenrand. Es war nicht nötig, ihn hier zu tarnen; er würde nicht zurückkommen. Es war ihm gleichgültig. Er hatte Marie verloren; alles war aus. Welche Leben er auch immer geführt hatte, sie waren zu Ende. David Webb. Delta. Jason Borowski. Sie waren die Vergangenheit. Er wollte nur Frieden. Der Schmerz war unerträglich geworden. Frieden. Aber zuerst mußte er töten. Seine Feinde, Maries Feinde. All den Feinden der Männer und Frauen überall auf der Welt, die von den namenlosen, gesichtslosen Manipulatoren getrieben wurden, würde eine Lektion erteilt werden. Natürlich nur eine kleine, belanglose Lektion, denn nachher würden die Experten geschönte Erklärungen liefern, die durch gestelzte Wortwahl und Halbwahrheiten plausibel gemacht wurden. Lügen.

Verdrängt die Zweifel, schaltet die Fragen aus, regt euch genauso auf wie die Bevölkerung und marschiert zum Trommelklang des Konsens. Das Ziel ist die Hauptsache, und die belanglosen Spieler sind nichts als notwendige Größen in den tödlichen Gleichungen. Benutzt sie, saugt sie aus, bringt sie um, wenn es sein muß, aber sorgt dafür, daß die Arbeit getan wird, weil wir das sagen. Wir sehen Dinge, die andere nicht sehen können. Stellt uns keine Fragen. Ihr habt keinen Zugang zu unserem Wissen.

Jason stieg aus dem Wagen, öffnete die Hintertür und durchschnitt mit seinem Messer die Fesseln an den Knöcheln und den Knien des Killers. Dann nahm er ihm die Augenbinde ab, ließ den Knebel aber, wo er war. Er packte seinen Gefangenen an der Schulter und Der Schlag war lähmend! Der Killer fuhr herum, schmetterte Borowski das rechte Knie in die linke Niere und ließ die ineinander verschlungenen, gefesselten Hände gegen Jasons Kehle krachen, während Delta sich zusammenkrümmte. Ein zweites Mal traf Borowski sein Knie in die Rippen; er fiel zu Boden, während der Killer auf die Straße hinausrannte. Nein. Das darf nicht geschehen! Ich brauche seine Pistole, seine Treffsicherheit. Das gehört zur Strategie!

Delta richtete sich auf, obwohl der Schmerz in der Brust und in der Nierengegend ihn zu sprengen drohte, und stürzte hinter der rennenden Gestalt her. In wenigen Sekunden würde die Dunkelheit den Killer umhüllen! Der Mann von Medusa rannte schneller, hatte den Schmerz vergessen, konzentrierte sich mit dem Teil seines Bewußtseins, der noch funktionierte, ganz auf die rennende Gestalt vor ihm. Schneller, schneller! Plötzlich kamen unten vom Hügel Scheinwerferbündel heraufgeschossen, erfaßten den laufenden Mann. Der Killer warf sich zur Seite, um dem Licht auszuweichen. Borowski blieb bis zum letzten Augenblick auf der rechten Seite des Asphalts, er wußte, daß er wertvolle Meter gewann, während der Wagen vorbeiraste. Jetzt stolperte der Killer auf dem weichen Straßenrand, er konnte die Arme nicht gebrauchen; schnell, unsicher, kroch er auf den Asphalt zurück, richtete sich auf und begann wieder zu laufen. Doch es war zu spät. Delta warf sich auf seinen Gefangenen, trieb ihm die Schulter in den Rücken; beide Männer gingen zu Boden. Das kehlige Brüllen, das der Killer ausstieß, war wie der Schrei eines wütenden Tieres. Jason drehte seinen Gefangenen um und trieb ihm brutal das Knie in den Leib.

»Hör mir zu, du Abschaum!« sagte er atemlos, und der Schweiß rann ihm über das Gesicht. »Ob Sie sterben oder nicht, ist mir gleichgültig. In ein paar Minuten interessieren Sie mich nicht mehr. Aber bis dahin sind Sie Teil des Planes, meines

Planes! Und ob Sie dann sterben oder nicht, wird von Ihnen abhängen, nicht von mir. Ich gebe Ihnen eine Chance, und das ist mehr, als Sie je für eines Ihrer Opfer getan haben. Und jetzt stehen Sie auf! Tun Sie, was ich Ihnen sage, oder ich puste Ihnen Ihre Chance mit Ihrem Schädel weg - und das ist genau das, was ich denen versprochen habe.«

Sie hatten inzwischen den Wagen wieder erreicht und blieben stehen. Delta hob seinen Beutel auf, entnahm ihm die Pistole, die er aus Beijing mitgebracht hatte, und zeigte sie dem Killer. »Auf dem Flughafen in Jinan haben Sie mich um eine Waffe angebettelt, erinnern Sie sich?« Der Killer nickte; seine Augen waren geweitet, sein Mund von dem Knebel auseinandergezerrt. »Sie gehört Ihnen«, fuhr Jason Borowski mit ausdrucksloser Stimme fort. »Sobald wir über der Mauer dort vorn sind - Sie vor mir -, gebe ich sie Ihnen.« Der Killer runzelte die Stirn, seine Augen verengten sich. »Das habe ich vergessen«, sagte Delta. »Sie konnten es ja nicht sehen. Dort vorn, vielleicht fünfhundert Fuß die Straße hinauf, ist ein abgeschottetes Haus. Wir gehen hinein. Ich bleibe dort und erledige jeden, den ich erledigen kann. Sie? Sie haben neun Schuß, und ich gebe Ihnen noch einen Bonus dazu.« Delta nahm ein Paket Plastiksprengstoff aus Mongkok aus seinem Beutel und zeigte es seinem Gefangenen. »So wie ich die Lage einschätze, schaffen Sie es unmöglich zurück über die Mauer; die würden Sie umlegen. Also ist Ihr einziger Fluchtweg durch das Tor; das liegt irgendwo schräg rechts von Ihnen. Um dorthin zu kommen, müssen Sie sich den Weg freischießen. Der Zünder an der Bombe läßt sich auf zehn Sekunden einstellen. Sie können es machen, wie Sie wollen, mir ist es egal. Kapiert?«

Der Killer hob die gefesselten Hände und deutete auf den Knebel. Die Laute, die aus seiner Kehle drangen, ließen erkennen, daß Jason seine Arme befreien und den Knebel entfernen sollte.

»An der Mauer«, sagte Delta. »Wenn ich fertig bin, schneide ich Ihnen die Fesseln durch. Aber wenn Sie versuchen, den Knebel herauszunehmen, ehe ich es Ihnen sage, ist Ihre Chance dahin.« Der Killer starrte ihn an und nickte.

Jason Borowski und sein Gefangener gingen die Straße am Victoria Peak hinauf auf das abgeschottete Haus zu.

Conklin hinkte die Krankenhaustreppe hinunter, so schnell er das konnte, hielt sich an dem Geländer in der Mitte fest und sah sich verzweifelt nach einem Taxi in der Zufahrt um. Doch da war keines; nur eine Schwester war zu sehen, die allein dastand und im Schein der Außenbeleuchtung die South China Times las. Sie blickte immer wieder auf und sah zum Eingang des Parkplatzes hinüber.

»Entschuldigen Sie, Miss«, sagte Alex atemlos. »Sprechen Sie englisch?«

»Ein wenig«, erwiderte die Frau, die offensichtlich sein Hinken und seine erregte Stimme registriert hatte. »Haben Sie Schwierigkeiten?«

»Große Schwierigkeiten. Ich muß ein Taxi finden. Ich habe es sehr eilig, muß jemanden erreichen und kann das nicht telefonisch tun.«

»Man wird Ihnen am Empfang eines rufen. Die rufen mir jeden Abend eines, wenn ich weggehe.«

»Sie warten ... «

»Hier kommt es«, sagte die Frau, als die Scheinwerfer um die Ecke bogen.

»Miss!« rief Conklin. »Das ist sehr dringend. Ein Mann liegt im Sterben, und ein weiterer stirbt vielleicht, wenn ich ihn nicht erreiche! Bitte, darf ich -«

»Bie zhaoji«, rief die Schwester und sagte damit, er solle sich beruhigen. »Sie sind in Eile, ich nicht. Nehmen Sie mein Taxi. Ich bestelle mir ein anderes.«

»Danke«, sagte Alex, als das Taxi am Randstein anhielt. »Danke!« sagte er noch einmal, öffnete die Tür und stieg ein. Die Frau nickte freundlich, zuckte dann die Achseln und ging wieder die Treppe hinauf. Die zwei Flügel der Glastüre oben flogen auf, und Conklin sah durch das Rückfenster, wie die Schwester fast mit zwei von Lins Männern zusammengestoßen wäre. Einer hielt sie auf und sagte etwas; der andere rannte weiter und spähte mit zusammengekniffenen Augen in die Dunkelheit hinaus. »Schnell!« sagte Alex zu dem Fahrer, als sie das Tor passierten. »Kuai diar, falls das stimmt.«

»Ja, geht schon«, antwortete der Fahrer müde in fließendem Englisch. »>Schnell< ist aber besser.«

Die Mündung der Nathan Road war der Zugang zur farbenfrohen Welt der Goldenen Meile. Die grellbunt flammenden Lichter, die tanzenden, flackernden, schimmernden Lichter waren die Mauern dieser überfüllten Straßenschlucht, wo die Käufer auf die Suche gingen und die Verkäufer mit schrillen Rufen Aufmerksamkeit verlangten. Das war der Bazar aller Bazare, und ein Dutzend Sprachen und Dialekte wetteiferte um das Gehör der gierigen Massen. Hier in diesem konzentrierten Chaos des Kommerz stieg Alex Conklin aus dem Taxi. Mühsam ausschreitend, von seinem Klumpfuß behindert, eilte er die Ostseite der Straße hinauf, und seine Augen schweiften wie die einer zornigen Wildkatze, die im Revier der Hyänen ihre Jungen sucht.

Er kam zur vierten Kreuzung, der letzten Kreuzung. Wo waren sie? Wo waren der schlanke Panov und die hochgewachsene, auffällige Marie mit den kastanienbraunen Haaren? Seine Instruktionen waren klar gewesen, unzweideutig. Bis zur vierten Kreuzung im Norden, auf der rechten Seite, der Ostseite. Mo Panov hatte sie wiederholt ... O Gott! Er hatte nach zwei Menschen Ausschau gehalten, von denen einer wie Hunderte von Männern auf diesem überfüllten Straßenabschnitt aussah. Aber sein Blick hatte nach einer hochgewachsenen rothaarigen Frau gesucht - die sie nicht mehr war! Ihr Haar war grau gefärbt worden, mit weißen Strähnen! Alex eilte zurück auf die Salisbury Road zu, und jetzt waren seine Augen auf das eingestimmt, was er suchen sollte, nicht auf das, was seine schmerzlichen Erinnerungen ihm vorgegaukelt hatten.

Da waren sie! Am Rand einer Menge, die einen Straßenverkäufer umgab, dessen Karren mit Seidenstoffen aller Art und aller Marken vollgehäuft war - halbwegs echter Seide, aber mit gefälschten Markennamen.

»Kommen Sie mit!« sagte Conklin und packte sie beide am Arm.

»Alex!« rief Marie.

»Alles in Ordnung?« fragte Panov.

»Nein«, sagte der CIA-Mann. »Nichts ist in Ordnung.«

»Es ist David, nicht wahr?« Marie packte Conklins Arm.

»Nicht jetzt. Schnell. Wir müssen hier weg.«

»Sind sie hier?« stieß Marie hervor, und ihr grauhaariger Kopf blickte nach rechts und links. In ihren Augen stand Angst.

»Wer?«

»Ich weiß nicht«, schrie sie, um den Lärm der Menge zu übertönen.

»Nein, sie sind nicht hier«, sagte Conklin. »Kommen Sie, ein Taxi erwartet uns am Peninsula-Hotel.«

Die drei gingen die Nathan Road hinunter, was Alex - wie Marie und Morris Panov erkannten - sichtliche Mühe bereitete. »Wir können doch langsamer gehen, oder?« fragte der Psychiater.

»Nein, das können wir nicht.« »Sie haben Schmerzen«, sagte Marie.

»Lassen Sie das! Alle beide. Ich kann mit diesem Scheißdreck nichts anfangen.«

»Dann sagen Sie uns doch, was geschehen ist!« schrie Marie, während sie eine mit Karren überfüllte Straße überquerten, denen sie ausweichen mußten, ebenso wie den Touristen dazwischen, die sich aufgemacht hatten, um auf der Goldenen Meile den großen Schnapp zu machen.

»Da ist das Taxi«, sagte Conklin, als sie sich der Salisbury Road näherten. »Schnell. Der Fahrer weiß, wo wir hin müssen.«

Als sie im Taxi saßen, Panov zwischen Marie und Alex, packte sie Conklins Arm. »Es ist doch David, oder?«

»Ja. Er ist zurück. Er ist hier in Hongkong.«

»Dem Himmel sei Dank.«

»Das hoffen Sie. Das hoffen wir.«

»Was hat das zu bedeuten?« fragte der Psychiater scharf.

»Etwas ist schiefgegangen. Das Drehbuch ist im Eimer.«

»Herrgott noch mal!« explodierte Panov. »Würden Sie bitte englisch sprechen.«

»Er meint«, sagte Marie und starrte den CIA-Mann an, »daß David entweder etwas getan hat, was er nicht hätte tun sollen, oder etwas nicht getan hat, was er hätte tun sollen.«

»So könnte man es ausdrücken.« Conklins Augen wanderten nach rechts, zu den Lichtern von Victoria Harbor hinüber und der Insel Hongkong dahinter. »Ich konnte einmal Deltas Schritte berechnen, gewöhnlich sogar, ehe er sie tat. Und dann, später, als er Borowski war, konnte ich ihm auf den Fersen bleiben, wenn andere das nicht konnten, weil ich seine Alternativen kannte und wußte, für welche er sich entscheiden würde. Bis er durchdrehte und niemand mehr etwas vorhersagen konnte, weil er die Verbindung mit dem Delta verloren hatte, der in ihm steckte. Aber Delta ist jetzt zurückgekommen, und wie es vor so langer Zeit so oft geschah, haben seine Feinde ihn unterschätzt. Ich hoffe, daß ich unrecht habe - Herrgott, ich hoffe, ich habe unrecht!«

Dem Killer die Pistole in den Nacken pressend, arbeitete Delta sich lautlos durch das Unterholz vor der hohen Mauer. Sein Gefangener sträubte sich; sie waren jetzt auf drei Meter an den Eingang herangerückt. Delta trieb dem Mann die Waffe ins Fleisch und flüsterte: »Es gibt keine Tretfallen an der Mauer oder auf dem Boden. Sonst würden die Baumratten sie alle paar Sekunden auslösen und die Scheinwerfer einschalten. Weiter! Ich sage Ihnen schon, wann Sie stehenbleiben müssen.«

Der Befehl kam, als sie nur noch einen reichlichen Meter vom Tor entfernt waren. Delta packte seinen Gefangenen am Kragen und riß ihn herum, ohne die Pistole von seinem Hals zu nehmen. Dann griff der Mann von Medusa in die Tasche, holte einen Klumpen Plastiksprengstoff heraus und streckte den Arm, soweit er konnte, auf das Tor zu. Er drückte den Klebestreifen des Päckchens gegen die Mauer; den winzigen digitalen Zeitzünder im weichen Innenteil der Sprengladung hatte er auf sieben Minuten gestellt, weil sieben eine Glückszahl war, und damit er und der Killer Zeit hatten, sich hundert Meter weit zu entfernen. »Los!« flüsterte er.

Sie bogen um die Mauerecke und schoben sich dann an der Wand entlang bis zur Mitte, zu einem Punkt, wo man im Mondlicht das Ende der Mauer erkennen konnte. »Warten Sie hier«, sagte Delta und griff in den Beutel, den er sich wie einen Patronengurt um die Brust gebunden hatte. Er holte einen rechteckigen schwarzen Kasten heraus, der zwölf Zentimeter lang, acht hoch und fünf tief war. An dem Kasten hing ein aufgerollter, zwölf Meter langer dünner Plastikschlauch. Bei dem Gerät handelte es sich um einen batteriebetriebenen Lautsprecher; den stellte er jetzt auf die Mauer und legte hinten an dem Kasten einen Schalter um; ein rotes Licht leuchtete auf.

Er rollte den dünnen Schlauch ab und stieß den Killer nach vorne. »Noch sechs oder sieben Meter«, sagte er. Jetzt erreichten sie die Stelle, die Delta brauchbar erschien. Die Äste einer Trauerweide reichten über die Mauer und hingen nach unten durch. Deckung. »Hier!« flüsterte er schroff und brachte den Killer zum Stehen, indem er ihn an der Schulter packte. Er holte den Drahtschneider aus seinem Beutel und stieß den Killer gegen die Mauer; jetzt standen sie einander gegenüber. »Ich schneide jetzt die Fesseln durch, aber Sie sind noch nicht frei. Ist das klar?« Der Brite nickte, und Delta durchschnitt die Schnüre zwischen den Ellbogen und den Handgelenken seines Gefangenen, hielt dabei aber die ganze Zeit die Pistole auf den Kopf des Mannes gerichtet. Er trat zurück und beugte das rechte Bein vor dem Killer nach vorne, während er ihm den Drahtschneider reichte. »Stellen Sie sich auf mein Bein und schneiden Sie den Stacheldraht durch. Wenn Sie ein Stück hochspringen und darunter greifen, erreichen Sie ihn. Aber keine Dummheiten. Sie haben noch keine Pistole, wohl aber ich, und Sie haben ja wahrscheinlich inzwischen mitgekriegt, daß ich keine Rücksicht nehme.«

Der Gefangene tat, wie ihm aufgetragen war. Er brauchte nicht hoch zu springen; der linke Arm des Briten glitt zwischen dem Stacheldraht durch, und seine Hand krallte sich oben an der Mauer fest. Er durchschnitt den Draht lautlos, hielt ihn mit einer Hand fest, um das Geräusch zu mindern. Sie hatten jetzt eine Öffnung, die eineinhalb Meter breit war. »Klettern Sie hinauf«, sagte Delta.

Das tat der Brite, und als sein linkes Bein sich über die Mauer schwang, sprang Delta in die Höhe, packte die Hosen des Killers und zog sich selbst an der Mauer hoch, schwang das linke Bein darüber. Jetzt saß er rittlings neben dem Killer auf der Mauer.

»Gut gemacht, Major Alcott-Price«, sagte er, ein kleines, rundes Mikrofon in der Hand und mit der anderen die Waffe auf den Kopf des Killers richtend. »Jetzt dauert es nicht mehr lange. An Ihrer Stelle würde ich das Terrain genau studieren.«

Von Conklin zur Eile gedrängt, jagte der Fahrer sein Taxi die Straße zum Victoria Peak hinauf. Sie passierten einen stehengebliebenen Wagen am Straßenrand; in der eleganten Umgebung wirkte er irgendwie deplaziert, und Alex schluckte, als er ihn sah, und fragte sich voller Angst, ob der Wagen wirklich defekt war, wie es schien. »Da ist das Haus!« schrie der CIA-Mann. »Um Himmels willen, schnell! Hinauf zur -«

Er brachte den Satz nicht zu Ende, konnte ihn nicht zu Ende sprechen. Vor ihnen erfüllte eine dröhnende Explosion die Nacht. Feuer und Steinbrocken flogen nach allen Richtungen davon, als zuerst ein großer Teil der Mauer zusammenbrach und dann das mächtige eiserne Tor in gespenstisch wirkendem Zeitlupentempo hinter den Flammen nach vorne fiel.

»Großer Gott, ich hatte recht«, sagte Alexander Conklin leise zu sich. »Delta ist zurückgekehrt. Er will sterben. Er wird sterben.«

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