Kapitel 6

Er saß auf den Felsen über dem Strand und wußte, daß er jetzt ganz klar denken mußte. Er mußte herausfinden, was er da vor sich hatte und was man von ihm erwartete, und wenn er sich darüber klargeworden war, dann mußte er überlegen, wie er es anstellen mußte, den- oder diejenigen auszumanövrieren, die ihn manipulierten. Unter gar keinen Umständen durfte er in Panik geraten, nicht einmal den Anschein der Panik erwecken - ein in Panik geratener Mann war gefährlich, war ein Risiko, das man eliminieren mußte. Wenn er durchdrehte, würde er damit den

Tod von Marie und seinen eigenen heraufbeschwören. So einfach war das. Und heikel. Und brutal.

Das war keine Aufgabe für David Webb. Jason Borowski mußte die Sache in die Hand nehmen. Herrgott! Es war verrückt! Mo Panov hatte gesagt, er solle einen Spaziergang am Strand machen, als Webb - und jetzt mußte er als Borowski hier sitzen und sich Dinge ausdenken, so wie Borowski sie sich ausdenken würde. Er mußte einen Teil seiner selbst verleugnen und den anderen akzeptieren.

Doch seltsam, das war nicht unmöglich, nicht einmal unerträglich, denn Marie war fort. Seine Liebe, seine einzige Liebe - du darfst nicht so denken. Jason Borowski sprach: Sie ist ein wertvoller Besitz, den man dir weggenommen hat! Du mußt sie zurückholen. Jason Borowski sprach. Nein, kein Besitz, mein Leben!

Jason Borowski: Dann brich alle Regeln! Finde sie! Hol sie dir zurück!

David Webb: Ich weiß nicht, wie ich das machen soll. Hilf mir!

Benutze mich! Du mußt das benutzen, was du von mir gelernt hast. Du besitzt die Werkzeuge, besitzt sie schon seit Jahren. Du warst der Beste in Medusa. Und das wichtigste von allem: Du hattest immer die Kontrolle über dich. Das hast du gepredigt, das hast du gelebt. Und du bist am Leben geblieben.

Kontrolle.

Ein so einfaches Wort. Eine unglaubliche Forderung.

Webb stieg von den Felsen und ging wieder den Weg durch das wilde Gras zur Straße hinauf, auf das alte Haus zu, und verabscheute die plötzliche, beängstigende Leere, die in ihm war. Und während er so ging, blitzte ein Name durch seine Gedanken; und dann war er wieder da und blieb hängen. Langsam nahm das Gesicht, das zu dem Namen gehörte, Gestalt an - sehr langsam, denn der Mann weckte in David einen Haß, der nicht gemildert wurde durch die Trauer, die er gleichzeitig in ihm hervorrief.

Alexander Conklin hatte versucht, ihn zu töten - zweimal -, und beide Male wäre es ihm beinahe gelungen, und Alex Conklin - so ging es ebenso aus seiner Aussage hervor wie aus seinen eigenen zahlreichen psychiatrischen Sitzungen mit Mo Panov und den vagen Erinnerungen, die David liefern konnte -war ein enger Freund des Beamten im auswärtigen Dienst, Webb, und seiner laotischen Frau und ihrer Kinder gewesen, damals, vor einem ganzen Leben, in Kambodscha. Als der Tod aus dem Himmel zugeschlagen und den Fluß mit Blut gefärbt hatte, war David blindlings nach Saigon geflohen, von unkontrollierbarer Wut getrieben, und sein Freund beim CIA, Alex Conklin, hatte für ihn in dem illegalen Bataillon, das sie Medusa nannten, einen Platz gefunden.

Wenn du die Dschungelausbildung überlebst, wirst du ein Mann sein, um den sie sich reißen. Aber du mußt auf sie aufpassen - auf jeden einzelnen von ihnen, jede verdammte Minute. Sie würden dir den Arm abschneiden, bloß um deine Uhr zu bekommen.

Das waren die Worte, an die Webb sich erinnerte, und er erinnerte sich ganz deutlich, daß die Stimme Alexander Conklins sie gesprochen hatte.

Er hatte das brutale Training überlebt und war zu Delta geworden. Sonst kein Name, nur ein Buchstabe im Alphabet. Delta eins. Und dann, nach dem Krieg, war Delta zu Kain geworden. Kain ist für Delta und Carlos ist für Kain. Das war die Herausforderung, die man Carlos, dem Meuchelmörder, entgegengeschleudert hatte. Geschaffen von Treadstone 71, ein Killer namens Kain würde den Schakal fangen.

Und als Kain, von dem die Unterwelt in Europa wußte, daß in Wirklichkeit Jason Borowski aus Asien dahintersteckte, hatte Conklin ihn, seinen Freund, verraten. Ein bißchen Vertrauen von

Alex hätte alles ganz anders gemacht, aber das brachte Alex nicht fertig; seine eigene Verbitterung schloß eine solche Wohltat aus. Er glaubte das Schlimmste von seinem ehemaligen Freund, weil sein eigenes Gefühl des Märtyrertums ihn zwang, das glauben zu wollen. Das half ihm, seine eigene in die Brüche gegangene Selbstachtung wieder aufzubauen, indem es ihn überzeugte, daß er besser als sein ehemaliger Freund war. Eine Landmine hatte Conklins Fuß bei einem Einsatz mit Medusa zerschmettert, und damit hatte seine brillante Laufbahn als Feldstratege ihr Ende gefunden. Ein verkrüppelter Mann konnte nicht draußen im Feld bleiben, wo sonst sein wachsender Ruf ihn die Erfolgsleiter hätte hinauftragen können, die Männer wie Allen Dulles und James Angleton erklettert hatten, und über die besonderen Fähigkeiten, die der bürokratische Nahkampf in Langley verlangte, verfügte Conklin nicht. Er verkümmerte, ein einstmals außergewöhnlicher Taktiker, der heute zusehen mußte, wie kleinere Geister an ihm vorbeizogen, wie man seinen Rat und seine Erfahrung nur noch insgeheim suchte. So war der Kopf der Medusa in den Hintergrund verbannt, gefährlich, jemand, den man sich am besten vom Leibe hielt.

Bis ihn, nach zwei Jahren, ein Mann, den man als den Mönch kannte - ein Rasputin der Geheimoperationen -, aufsuchte, weil man einen gewissen David Webb für einen außergewöhnlichen Einsatz ausgewählt hatte und weil Conklin ihn jahrelang gekannt hatte. Treadstone 71 wurde geschaffen, Jason Borowski wurde sein Produkt, und Carlos, der Schakal, sein Ziel. Und dann überwachte Conklin zweiunddreißig Monate lang diese allergeheimste aller geheimen Operationen, bis Jason Borowski verschwand und mit ihm über fünf Millionen Dollar vom Züricher Konto Treadstones.

Da es keine dem widersprechenden Beweise gab, nahm Conklin das Schlimmste an: Der legendäre Borowski hatte die Seite gewechselt. Das Leben in der Unterwelt war ihm zuviel geworden, und die Versuchung, sich mit mehr als fünf Millionen

Dollar davonzumachen, war zu verlockend gewesen, als daß er ihr hätte widerstehen können. Dies galt ganz besonders für jemanden, den man als das Chamäleon kannte, einen vielsprachigen Spezialisten für Untergrundarbeit, mit der Gabe, sein Aussehen und seinen Lebensstil mühelos zu verändern, so daß er sich buchstäblich in Nichts auflösen konnte. Man hatte eine Falle für einen Meuchelmörder mit einem Köder versehen, und dann war der Köder verschwunden und hatte sich als raffinierter Dieb entpuppt. Für den verkrüppelten Alexander Conklin war dies unerträglicher Verrat. Wenn man alles in Betracht zog, was man ihm angetan hatte, wo sein Fuß doch nicht mehr als eine schmerzhaft peinliche tote Last war, eingehüllt in fremdes Fleisch, seine einstmals brillante Karriere ein Scherbenhaufen, sein persönliches Leben erfüllt von einer Einsamkeit, wie sie nur totale Ergebenheit dem Geheimdienst gegenüber erzeugen konnte - eine Hingabe, die nicht erwidert wurde -, welches Recht hatte da ein anderer, die Seite zu wechseln? Welcher andere Mann hatte das gegeben, was er gegeben hatte? So wurde sein einstmals enger Freund David Webb zum Feind Jason Borowski. Nicht nur zum Feind, sondern gleichsam zur fixen Idee. Er hatte mitgeholfen, die Legende zu schaffen; er würde sie vernichten. Sein erster Versuch erfolgte mit zwei bezahlten Killern am Stadtrand von Paris.

David schauderte bei der Erinnerung daran, sah immer noch einen besiegten Conklin davonhinken, eine verkrüppelte Gestalt im Visier von Webbs Pistole.

Der zweite Versuch war für David verschwommen. Vielleicht würde er sich nie ganz an ihn erinnern können. Er hatte im Haus von Treadstone in der 71. Straße in New York stattgefunden. Conklin hatte eine geniale Falle aufgebaut, aber Webbs Überlebenswille hatte den Anschlag scheitern lassen, und seltsamerweise die Anwesenheit von Carlos, dem Schakal.

Später, als sich die Wahrheit herausstellte, daß nämlich der >Verräter< keinen Gedanken ai Verrat hatte, sondern nur ein geistiges Gebrechen, das man Amnesie nannte, brach Conklin zusammen. In den qualvollen Monaten von Davids Rekonvaleszenz in Virginia versuchte Alex mehrfach verzweifelt, seinen einstmals engen Freund zu besuchen, um zu erklären, um seinen Teil der blutigen Geschichte zu erzählen -um sich mit jeder Faser seines Wesens zu entschuldigen.

Doch David fand kein Verzeihen in seiner Seele.

»Wenn er durch diese Türe tritt, werde ich ihn töten«, hatte er gesagt.

Das würde sich jetzt ändern, dachte Webb, und seine Schritte wurden schneller. Was für Fehler Conklin auch an sich haben mochte, es gab nur wenige Männer im Geheimdienst, die über seine Kenntnisse und seine Verbindungen verfügten. David hatte monatelang nicht an Alex gedacht; aber jetzt dachte er an ihn und erinnerte sich plötzlich an das letzte Mal, wo sein Name im Gespräch aufgetaucht war. Mo Panov hatte sein Urteil gefällt.

»Ich kann ihm nicht helfen, weil er nicht will, daß man ihm hilft. Er wird seine letzte Flasche Whisky im Himmel trinken müssen. Mich würde es wundern, wenn er bis zu seiner Pensionierung am Jahresende durchhält. Andererseits, wenn er so weitersäuft, könnte es sein, daß die ihn in eine Zwangsjacke stecken und darin aus dem Verkehr ziehen. Ich habe keine Ahnung, wie er es schafft, jeden Tag zur Arbeit zu gehen. Aber die Aussicht auf Pension ist die beste Überlebenstherapie -besser als alles, was Freud uns hinterlassen hat.«

Es lag höchstens fünf Monate zurück, daß Panov diese Worte gesprochen hatte. Und Conklin war immer noch im Dienst.

Tut mir leid, Mo. Sein Überleben - so oder so - ist mir gleichgültig. Soweit es mich betrifft, ist sein Status >tot<.

Aber jetzt war er nicht tot, dachte David, als er die Stufen zur Terrasse hinaufrannte. Alex Conklin war sehr lebendig, ob nun betrunken oder nicht, und selbst wenn er mehr Bourbon als Blut in den Adern hatte, verfügte er doch noch über seine Verbindungsleute, die Kontakte aus einem langen Leben der Hingabe an eine Schattenwelt, die ihn am Ende ausgestoßen hatte. In jener Welt gab es Verbindlichkeiten, Schulden, und solche Schulden wurden aus Furcht bezahlt.

Alexander Conklin. Die Nummer eins auf Jason Borowskis Todesliste.

Er öffnete die Tür und stand wieder in der Halle, aber diesmal sahen seine Augen das Chaos nicht. Statt dessen befahl ihm der Logiker in ihm, in sein Arbeitszimmer zurückzugehen und zu tun, was zu tun war; er mußte sich zur Ordnung rufen, denn ohne Ordnung gab es nichts als Konfusion, und Konfusion führte zu Fragen - und die konnte er sich nicht leisten. In der Realität, die er jetzt zu schaffen im Begriff war, mußte alles präzise sein, um die Neugierigen von der Realität abzulenken, die wirklich war.

Er setzte sich an seinen Schreibtisch und versuchte sich zu konzentrieren. Vor ihm lag wie immer das Spiralheft aus dem Collegeladen. Er schlug die erste liniierte Seite auf und griff nach einem Bleistift ... Er konnte ihn nicht aufheben! Seine Hand zitterte so sehr, daß sein ganzer Körper bebte. Er hielt den Atem an und machte eine Faust, krampfte sie so zusammen, daß die Fingernägel sich ins Fleisch bohrten. Er schloß die Augen, öffnete sie wieder und zwang seine Hand, zu dem Bleistift zurückzukehren, befahl ihr, ihre Arbeit zu tun. Langsam, ungeschickt, packten seine Finger den dünnen gelben Stab und brachten den Bleistift in die richtige Position. Die Worte waren kaum lesbar, aber sie waren da.

Die Universität - den Präsidenten anrufen und den Dekan. Familienkrise, nicht Kanada - kann überprüft werden. Erfinden - ein Bruder in Europa vielleicht. Ja, Europa. Sonderurlaub -kurzer Sonderurlaub. Sofort. Werde mich wieder melden.

Haus - Verwaltung anrufen, dieselbe Geschichte. Jack bitten, regelmäßig nachzusehen. Hat Schlüssel. Thermostaten auf 16° drehen.

Post - Formular auf dem Postamt ausfüllen. Alle Post einlagern.

Zeitungen - abbestellen.

Die Kleinigkeiten, die gottverdammten Kleinigkeiten - die unwesentlichen Alltäglichkeiten wurden entsetzlich wichtig, und man mußte sich um sie kümmern, damit es überhaupt keine Anzeichen einer überstürzten Abreise ohne Rückkehr geben konnte. Das war sehr wichtig; er mußte sich bei jedem Wort daran erinnern. Man mußte dafür sorgen, daß die Fragen auf ein Minimum reduziert blieben, daß sich die unvermeidlichen Spekulationen auf ein Maß beschränkten, das man im Griff behalten konnte. Und das hieß: Er mußte mit dem naheliegenden Schluß fertig werden, daß die Leibwächter, die er in letzter Zeit gehabt hatte, irgendwie mit seinem Urlaub in Verbindung standen. Die plausibelste Erklärung war, die kurze Dauer seiner Abwesenheit hervorzuheben und die ganze Angelegenheit einfach abzutun, zum Beispiel mit >Übrigens, falls Sie sich fragen sollten, ob das etwas damit zu tun hat, daß ... nun, das hat es nicht. Das ist vorbei; hat ohnehin nicht viel genützt.< Wenn er mit dem Rektor der Universität und dem Dekan sprach, würde er besser wissen, wie er antworten mußte; ihre eigenen Reaktionen würden ihn lenken. Wenn ihn überhaupt etwas lenken konnte. Wenn er imstande war, zu denken! Du darfst nicht zurückrutschen! Du mußt vorwärtsgehen, bewege deinen Bleistift! Du mußt dieses Blatt füllen mit Dingen, die es zu tun gibt, und dann noch ein Blatt und noch eines! Pässe, Initialen auf Geldbörse und Brieftasche und Hemden - sie mußten mit den Namen übereinstimmen, die er verwendete; Reservierungen bei Fluggesellschaften - Verbindungsflüge, keine direkten Routen - Gott! Wohin? Marie, wo bist du?

Hör auf! Du mußt dich zusammenreißen. Du bist dazu fähig. Du mußt dazu fähig sein. Du hast keine Wahl, also sei, was du einmal warst. Du mußt eiskalt sein.

Und dann wurde die Schale, die er um sich herum aufzubauen im Begriff war, von dem ohrenzerfetzenden Klang des Telefons zerschmettert, das neben seiner Hand auf dem Schreibtisch stand. Er sah es an, schluckte, fragte sich, ob er imstande sein würde, auch nur entfernt normal zu klingen. Es klingelte erneut, und das Klingeln war penetrant. Du hast keine Wahl. Er nahm den Hörer ab, packte ihn mit solcher Kraft, daß seine Fingerknöchel weiß wurden. Irgendwie schaffte er es, das eine Wort herauszuquetschen: »Ja?«

»Hier spricht die Vermittlung für Luft-Boden-Gespräche, Satellitenübertragung -«

»Wer? Was haben Sie gesagt?«

»Ich habe ein Funkgespräch für einen Mr. Webb. Sind Sie Mr. Webb, Sir?«

»Ja.« Und dann zerbarst die Welt, die er kannte, in tausend zackige Spiegel, und jeder war ein Bild schreiender Qual.

»David!«

»Marie?«

»Keine Panik, David! Hörst du mich, keine Panik!« Ihre Stimme drang durch das Rauschen; sie gab sich große Mühe, nicht zu schreien, konnte aber nicht anders.

»Bist du in Ordnung? Auf dem Zettel stand, du seist verletzt -verwundet!«

»Mir fehlt nichts. Ein paar Kratzer, das ist alles.«

»Wo bist du?«

»Über dem Meer, soviel werden sie dir sagen. Mehr weiß ich nicht; man hat mir Beruhigungsmittel gegeben.«

»O Gott! Ich halte das nicht aus! Sie haben dich entführt!« »Reiß dich zusammen, David. Ich weiß, was sie dir damit antun, aber sie nicht. Verstehst du mich? Sie wissen es nicht!«

Damit sandte sie ihm eine verschlüsselte Nachricht; sie war nicht schwer zu dechiffrieren. Er mußte der Mann sein, den er haßte. Er mußte Jason Borowski sein, und der Meuchelmörder lebte und es ging ihm gut und er wohnte im Körper von David Webb.

»In Ordnung. Ich war dabei, den Verstand zu verlieren!«

»Deine Stimme wird über Lautsprecher verstärkt ...«

»Natürlich.«

»Die lassen mich zu dir sprechen, damit du weißt, daß ich lebe.«

»Haben sie dir weh getan?«

»Nicht absichtlich.«

»Was, zum Teufel, sind das für >Kratzer

»Ich hab mich gewehrt, um mich geschlagen. Ich bin schließlich auf einer Ranch aufgewachsen.«

»O mein Gott -«

»David, bitte! Du darfst nicht zulassen, daß die dir das antun!«

»Mir? Dir tun sie es an!«

»Ich weiß, Darling. Ich denke, die stellen dich auf die Probe, verstehst du?«

Wieder die Botschaft. Sei Jason Borowski, um ihrer beider willen - um ihrer beider Leben willen. »In Ordnung. Ja, in Ordnung.« Er versuchte, sich zu beherrschen, seine Stimme unter Kontrolle zu bringen. »Wann ist es passiert?« fragte er.

»Heute morgen, etwa eine Stunde nachdem du weggegangen warst.«

»Heute morgen? Herrgott, den ganzen Tag? Wie?«

»Sie kamen an die Tür. Zwei Männer -« »Wer?«

»Man hat mir erlaubt zu sagen, daß sie aus dem Fernen Osten sind. Ich weiß tatsächlich nicht mehr als das. Sie haben mich aufgefordert, sie zu begleiten, und ich habe mich geweigert. Ich bin in die Küche gerannt und habe ein Messer gesehen. Ich habe einen von ihnen in die Hand gestochen.«

»Der Handabdruck an der Tür ...«

»Ich verstehe nicht.«

»Das ist unwichtig.«

»Ein Mann will mit dir reden, David. Hör ihn dir an, aber nicht im Zorn - nicht in Wut - kannst du das verstehen!«

»Ja, in Ordnung. Schon gut. Ich verstehe.«

Jetzt war die Stimme des Mannes zu hören. Sie kam stockend, aber präzise, mit fast britischem Akzent, jemand, den ein Engländer die englische Sprache gelehrt hatte, oder jedenfalls jemand, der in England gelebt hatte. Trotzdem war nicht zu verkennen, daß es sich um einen Asiaten handelte. Der Akzent deutete auf Südchina, der Tonfall, die kurzen Vokale und scharfen Konsonanten klangen kantonesisch.

»Wir wollen Ihrer Frau nichts zuleide tun, Mr. Webb, aber wenn es notwendig ist, wird es unvermeidbar sein.«

»Das würde ich nicht tun, wenn ich Sie wäre«, sagte David kalt.

»Jason Borowski?«

»Ja.«

»Diese Bestätigung ist der erste Schritt in unserer Übereinkunft. «

»Welcher Übereinkunft?«

»Sie haben einem Mann etwas von großem Wert genommen.«

»Sie haben mir etwas von großem Wert genommen.«

»Sie ist am Leben.«

»Das sollte sie auch besser bleiben.«

»Eine andere ist tot. Sie haben sie getötet.«

»Wissen Sie das genau?« Borowski würde nicht ohne weiteres zustimmen, wenn es nicht seinen Zwecken diente.

»Sehr genau.«

»Was für Beweise haben Sie?«

»Man hat Sie gesehen. Ein großer Mann, der sich im Schatten hielt und mit den Bewegungen einer Bergkatze durch Hotelkorridore rannte und über Feuerleitern kletterte.«

»Dann hat man mich aber doch nicht wirklich gesehen, oder? Das konnte man auch nicht. Ich war Tausende von Meilen weg.« Borowski würde sich stets eine Hintertür offenlassen.

»Was ist in unserem Jetzeitalter schon Entfernung?« Der Asiate hielt inne und fügte dann scharf hinzu: »Sie haben vor zweieinhalb Wochen fünf Tage Urlaub genommen.«

»Und wenn ich Ihnen jetzt sagte, daß ich in Boston an einem Symposion über die Sung- und Yuan-Dynastien teilgenommen habe - was keineswegs Urlaub ist, sondern zu meinen Obliegenheiten gehört -«

»Es verblüfft mich«, unterbrach der Mann höflich, »daß Jason Borowski sich so jämmerlich schwacher Ausreden bedient.«

Er hatte nicht nach Boston fahren wollen. Das Thema des Symposions war von seinen Vorlesungsfächern Lichtjahre entfernt, aber er war offiziell aufgefordert worden teilzunehmen. Die Aufforderung kam aus Washington, im Rahmen des Kulturaustauschs, und war durch die Fakultät für Orientalistik der Universität zu ihm gelangt. Herrgott! Jedes einzelne Rädchen war an seiner Stelle! »Eine Ausrede wofür?«

»Um an einem Ort zu sein, wo man nicht war. Viele Menschen, die sich zwischen den Ausstellungsgegenständen drängten, und gewisse Leute, die man bezahlt hat, zu beschwören, daß Sie dort waren.«

»Das ist lächerlich, hirnrissig. Ich bezahle nicht.«

»Man hat Sie bezahlt.«

»Mich? Wie?«

»Über dieselbe Bank, die Sie das letztemal benutzt haben. In Zürich. Die Gemeinschaftsbank in Zürich - in der Bahnhofstraße natürlich.«

»Seltsam, daß ich keinen Kontoauszug bekommen habe«, sagte David.

»Als Sie als Jason Borowski in Europa waren, haben Sie nie Bankauszüge gebraucht, weil Sie ein Dreifach-Null-Konto hatten - und das ist in der Schweiz absolut geheim. Aber wir haben bei den Papieren eines Mannes - eines toten Mannes natürlich - einen Überweisungsbeleg gefunden, der auf die Gemeinschaftsbank ausgestellt war.«

»Natürlich. Aber nicht bei dem Mann, den angeblich ich getötet habe.«

»Nein. Aber bei einem, der den Befehl gegeben hat, diesen Mann zu töten, und zugleich etwas, was für meinen Auftraggeber einen sehr hohen Wert besitzt.«

»Dieses Etwas von hohem Wert ist eine Trophäe, nicht wahr?«

»Trophäen gewinnt man, Mr. Borowski. Genug. Sie sind Sie. Begeben Sie sich ins Regent-Hotel in Kowloon. Tragen Sie sich unter irgendeinem Namen ein, der Ihnen gefällt, aber verlangen Sie Suite sechs-neun-null - sagen Sie, man habe sie Ihres Wissens für Sie reserviert.«

»Wie bequem. Meine eigenen Räumlichkeiten.«

»Das spart Zeit.«

»Es wird mich aber Zeit kosten, hier alles vorzubereiten.«

»Wir gehen davon aus, daß Sie niemand Anlaß geben, Alarm zu schlagen, und daß Sie sich so schnell auf den Weg machen, wie Sie können. Seien Sie Ende der Woche dort.«

»Verlassen Sie sich auf beides. Lassen Sie mich noch einmal mit meiner Frau sprechen.«

»Bedaure, das kann ich nicht.«

»Herrgott, Sie können doch alles hören, was wir sagen.«

»Sie werden in Kowloon mit ihr sprechen.«

Ein Klicken, dann das Echo und dann nichts mehr, nur Rauschen. Er legte den Hörer auf und merkte, daß er ihn mit solcher Kraft festgehalten hatte, daß sein Daumen und Zeigefinger verkrampft waren. Er löste die Hand von dem Apparat und schüttelte sie heftig und war zugleich dankbar, daß der Schmerz es ihm ermöglichte, langsam wieder in die Wirklichkeit zurückzukehren. Er packte die rechte Hand mit der linken, hielt sie fest und preßte seinen linken Daumen ... und während er zusah, wie seine Finger sich lösten, wußte er, was er zu tun hatte - zu tun, ohne auch nur eine Stunde an die so wichtigen unwichtigen Alltäglichkeiten zu vergeuden. Er mußte Conklin in Washington erreichen, die Kanalratte, die auf der 71. Straße in New York versucht hatte, ihn am hellichten Tag zu töten. Alex, ob betrunken oder nüchtern, machte keinen Unterschied zwischen den Stunden des Tages und der Nacht, denn wo es um seine Arbeit ging, gab es weder Tag noch Nacht, nur das konturenlose Licht der Neonröhren in Büros, die nie schlössen. Wenn es sein mußte, würde er Alexander Conklin so lange unter Druck setzen, bis ihm das Blut aus den Rattenaugen quoll; er würde erfahren, was er wissen mußte, und Conklin konnte ihm die Information verschaffen.

Webb erhob sich leicht schwankend aus dem Sessel und ging in die Küche, wo er sich einen Drink eingoß und dankbar zur Kenntnis nahm, daß seine Hand nicht mehr so heftig zitterte wie vorher.

Gewisse Dinge konnte er delegieren. Jason Borowski delegierte nie etwas, aber er war immer noch David Webb, und es gab in der Universität etliche Leute, denen er vertrauen konnte - nicht etwa, daß er ihnen die Wahrheit hätte anvertrauen können, aber eine nützliche Lüge. Als er dann in sein Arbeitszimmer und zum Telefon zurückkehrte, hatte er sich seinen Verbindungsmann ausgewählt. Verbindungsmann - V-Mann, beim Himmel! Ein Wort aus der Vergangenheit, von dem er geglaubt hatte, er würde es vergessen können. Aber der junge Mann würde das tun, worum er ihn bat; schließlich würde er eines Tages sein Berater, ein gewisser David Webb, seine Arbeit benoten. Nutze den Vorteil, ob völlige Dunkelheit oder grelles Sonnenlicht herrscht. Aber nutze ihn, um Angst einzujagen oder auch voll Zartgefühl - was eben gerade nützt.

»Hallo, James? Hier David Webb.«

»Tag, Mr. Webb. Was hab ich denn verbockt?«

»Gar nichts, Jim. Mir hat man einiges verbockt, und ich könnte ein wenig private Hilfe brauchen. Wäre Ihnen das möglich?«

»Dieses Wochenende? Das Spiel?«

»Nein, bloß morgen früh. Vielleicht eine Stunde, wenn überhaupt. Und etwas, was in Ihren Studienpapieren gar nicht schlecht aussehen wird, falls Ihnen das nicht zu hochgestochen klingt ...«

»Nämlich?«

»Nun, im Vertrauen gesagt - und ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mit niemandem darüber sprechen würden -, ich muß für eine Woche, vielleicht für zwei verreisen und will nachher gleich die Fakultät anrufen und vorschlagen, daß Sie für mich einspringen. Ihnen wird das keine Schwierigkeiten bereiten. Es geht um den Mandschu-Umsturz und die Chinesisch-Russischen Verträge, die ja heute ziemlich bekannt sind.«

»Also neunzehnhundert bis etwa neunzehnhundertsechs«, sagte der Doktorand voll Selbstgefühl. »Sie können das ja ein wenig ausbauen, und übersehen Sie die Japaner und Port Arthur und den alten Teddy Roosevelt nicht. Stellen Sie da Beziehungen her; das habe ich auch gemacht.«

»Das geht. Das mach ich. Ich werd mir die entsprechenden Quellen heraussuchen. Und was ist morgen?«

»Ich muß noch heute abreisen, Jim. Meine Frau ist bereits vorausgefahren. Haben Sie einen Bleistift zur Hand?«

»Ja, Sir.«

»Sie wissen ja, was man von den Zeitungen sagt, die sich am Gartentor auftürmen. Es wäre nett, wenn Sie die Zustellung anrufen, und dann gehen Sie bitte auf die Post und sagen Sie denen, sie sollen alles einlagern - unterschreiben Sie eben, was die Ihnen vorlegen. Und dann rufen Sie die Hausverwaltung Scully an und sprechen Sie mit Jack oder Adele und sagen Sie ihnen, die sollen ...«

Damit war dieser Punkt abgehakt. Das nächste Telefonat verlief viel einfacher, als David das erwartet hatte, da der Rektor der Universität vom Präsidenten bei einem Dinner geehrt werden sollte und sich daher viel mehr für seine bevorstehende Rede als für einen obskuren - wenn auch ungewöhnlichen -Gastdozenten und dessen Urlaub interessierte. »Bitte, sprechen Sie mit dem Dekan, Mr. Webb. Ich hab im Augenblick noch den ganzen Spendenkram am Hals.«

Mit dem Dekan ging es nicht so leicht. »David, hat das etwas mit diesen Leuten zu tun, die letzte Woche dauernd mit Ihnen herumliefen? Ich meine, alter Junge, schließlich bin ich einer der wenigen hier, die wissen, daß Sie in Washington mit Staatsgeheimnissen zu tun hatten.«

»Überhaupt nichts, Doug. Das war von Anfang an Unsinn; aber was mich jetzt beschäftigt, ist was anderes. Mein Bruder ist ernsthaft verletzt worden, sein Wagen ist ein Wrack. Ich muß für ein paar Tage nach Paris, vielleicht eine Woche, länger wird es nicht dauern.«

»Ich war vor zwei Jahren in Paris. Die Leute fahren dort alle wie die Irren.«

»Auch nicht schlimmer als in Boston, Doug, und viel besser als in Kairo.«

»Nun, ich denke, das wird sich irgendwie regeln lassen. Eine Woche ist ja nicht so schlimm, Johnson ist wegen seiner Lungenentzündung fast einen Monat ausgefallen -«

»Ich habe bereits das Nötige veranlaßt - Ihre Zustimmung vorausgesetzt. Jim Crowther, ein junger Doktorand, wird meine Vorlesungen übernehmen. Er ist mit dem Stoff vertraut.«

»O ja, Crowther, ein tüchtiger junger Mann, trotz seines Bartes. Ich habe zu Bärtigen nie Vertrauen gehabt, aber schließlich war ich auch in den sechziger Jahren hier.«

»Versuchen Sie doch mal, sich einen Bart stehen zu lassen. Das macht Sie vielleicht frei.«

»Das spar ich mir lieber. Sind Sie auch ganz sicher, daß das nichts mit diesen Leuten aus dem Außenministerium zu tun hat? Ich muß die Fakten haben, David. Wie heißt Ihr Bruder? In welchem Krankenhaus in Paris liegt er?« »Ich kenne das Krankenhaus nicht, aber Marie wird das wissen - sie ist heute morgen schon geflogen. Wiedersehn, Doug. Ich ruf Sie morgen oder übermorgen an. Ich muß zum Logan Airport in Boston.«

»David?«

»Ja?«

»Warum habe ich eigentlich das Gefühl, daß Sie nicht ganz ehrlich mit mir sind?«

Webb erinnerte sich. »Weil ich mich noch nie in dieser Lage befunden habe«, sagte er. »Weil ich noch nie einen Freund um eine Gefälligkeit bitten mußte, wo es um jemanden geht, an den ich lieber nicht denken möchte.«

David legte den Hörer auf.

Der Flug von Boston nach Washington war zum Verrücktwerden. Das kam von dem verknöcherten Professor der Pedanterie - was er wirklich lehrte, fand David nicht heraus -, der auf dem Platz neben ihm saß. Die Stimme des Mannes war so penetrant wie die behäbigen Töne eines Schauspielers im Fernsehen, der die Rolle des uralten Chefs einer Maklerfirma übernommen hatte und immer nur sagte: »Die haben es nicht besser verdient!«

Der Satz wiederholte sich unablässig in Webbs Bewußtsein, ganz gleich, was der Mann sagte - und er sagte eine ganze Menge. Erst als sie auf dem National Airport landeten, gestand der Pedant die Wahrheit.

»Ich muß Sie schrecklich gelangweilt haben, verzeihen Sie mir. Ich habe furchtbare Angst vor dem Fliegen, also rede ich die ganze Zeit. Albern, nicht wahr?«

»Ganz und gar nicht, aber warum haben Sie das nicht gesagt? Ist doch schließlich kein Verbrechen.«

»Angst vor Spott, denke ich.«

»Das werde ich mir merken, wenn ich das nächste Mal neben jemandem wie Ihnen sitze.«

Webb lächelte nur ganz kurz. »Vielleicht könnte ich dann helfen.«

»Das ist sehr freundlich von Ihnen. Und sehr anständig. Danke. Vielen, vielen Dank.«

»Keine Ursache.«

David holte sich seinen Koffer vom Laufband und ging hinaus, um sich ein Taxi zu nehmen, und ärgerte sich, daß die Taxifahrer keine einzelnen Fahrgäste annahmen, sondern darauf bestanden, daß zwei oder mehr, die dieselbe Richtung hatten, sich zusammentaten. Eine Frau teilte den Rücksitz mit ihm, eine sehr attraktive Frau, die Körpersprache und flehende Blicke einsetzte - was ihn beides kalt ließ.

Er trug sich im Jefferson-Hotel in der 16. Straße unter einem falschen Namen ein, den er erst im Taxi erfunden hatte. Die Wahl des Hotels hingegen war wohlüberlegt; es war nur eine Straße von Conklins Wohnung entfernt, die der CIA-Beamte seit fast zwanzig Jahren bewohnte, wenn er nicht im Außendienst war. David hatte sich die Adresse beschafft, ehe er Virginia verlassen hatte, wieder ganz seinem Instinkt folgend.

Die Telefonnummer hatte er auch, wußte aber, daß die nutzlos war; er durfte Conklin nicht anrufen. Der würde dann nur seine Verteidigung vorbereiten, mehr geistig als physisch, und Webb wollte einen unvorbereiteten Mann; er wollte ohne Vorwarnung auf der Begleichung einer Schuld bestehen, die jetzt fällig war.

David sah auf die Uhr; es war zehn Minuten vor Mitternacht, ein Zeitpunkt, der ebensogut war wie jeder andere und besser als die meisten. Er wusch sich, wechselte das Hemd und grub schließlich eine der zwei zerlegten Pistolen aus seinem Koffer, nahm sie aus der dicken, mit Metallfolie gefütterten Tasche. Er setzte die einzelnen Teile zusammen, prüfte den Abzug und schob den Ladestreifen hinein. Er brachte die Waffe in Anschlag und beobachtete seine Hand und stellte befriedigt fest, daß da kein Zittern war. Die Waffe fühlte sich sauber und selbstverständlich an. Noch vor acht Stunden hätte er nicht geglaubt, daß er imstande sein würde, eine Waffe in der Hand zu halten, aus Angst, er könnte sie abfeuern. Aber das war vor acht Stunden gewesen, nicht jetzt. Jetzt fühlte sie sich vertraut an, wie ein Teil seiner selbst, ein Teil von Jason Borowski.

Er verließ das Jefferson und ging die 16. Straße hinunter, bog an der Ecke nach rechts und blickte auf die absteigenden Nummern der alten Mietshäuser, die ihn an die Backsteingebäude der Upper East Side von New York erinnerten. In dieser Beobachtung lag eine seltsame Logik, wenn man an die Rolle dachte, die Conklin im Treadstone-Projekt gespielt hatte, dachte er. Treadstone einundsiebzig in Manhattan war ein Backsteinbau gewesen, ein eigenartiges Gebäude, bei dem er unwillkürlich den Eindruck gehabt hatte, es sei von Ratten bevölkert. Er sah es ganz deutlich vor sich, hörte deutlich die Stimmen, ohne verstehen zu können, was sie sagten - die Brutkammer von Jason Borowski.

Tu es wieder.

Wer ist das?

Was für einen Hintergrund hat er?

Mit welcher Methode tötet er?

Falsch! Du hast unrecht! Tu es noch einmal!

Wer ist das? Was für eine Verbindung zu Carlos liegt vor?

Verdammt, du mußt nachdenken! Du darfst keine Fehler machen!

Ein Backsteingebäude. Wo man sein anderes Ich geschaffen hatte, den Mann, den er jetzt so brauchte.

Da war es, Conklins Haus mit der Wohnung im ersten Stock zur Straße. Es brannte Licht; Alex war zu Hause und wach. Webb überquerte die Straße und merkte erst jetzt, daß es nieselte. Das Licht der Straßenlaternen verschwamm in der feuchten Luft, so daß die Riffelglasschirme so etwas wie Heiligenscheine trugen. Er ging die Stufen hinauf und öffnete die Tür, die zu dem kleinen Vorraum führte; er trat ein und überflog die Namen unter den Briefkästen der sechs Wohnungen. Jede hatte ihre eigene Sprechanlage.

Für phantasievolle Umwege war jetzt keine Zeit. Wenn Panovs Urteil zutraf, würde seine Stimme ausreichen. Er drückte Conklins Klingelknopf und wartete auf Antwort; sie kam nach einer knappen Minute.

»Ja? Wer ist da?«

»Harry Babcock, hiarr«, sagte David mit übertriebenem Akzent. »Ich muß Sie sprechen, Alex.«

»Harry, was zum Teufel ...? Aber klar doch. Kommen Sie rauf!« Der Summer dröhnte, dann brach das Geräusch kurz ab -ein abgerutschter Finger. David rannte die schmale Treppe ins Obergeschoß, hoffte, vor Conklins Tür zu stehen, wenn der sie öffnete. Er war den Bruchteil einer Sekunde schneller als Alex, der mit glasigem Blick die Tür zurückzog und zu schreien anfing. Webb sprang mit einem Satz vor, preßte die Hand über Conklins Gesicht und riß den CIA-Mann gleichzeitig herum und trat die Tür zu.

Daß er körperlich einen anderen Menschen angegriffen hatte, lag so lange zurück, daß er sich gar nicht genau erinnern konnte, wann das gewesen war. Es hätte ihm fremd, ja peinlich sein müssen, aber das war es nicht. Es war völlig natürlich. O Gott!

»Ich werde jetzt die Hand wegnehmen, Alex, aber wenn du laut wirst, kommt sie wieder. Und dann überlebst du das nicht, ist das klar?« David zog die Hand zurück und riß dabei Conklins Kopf nach hinten.

»Das ist eine gottverdammte Überraschung«, sagte der CIA-Mann hustend und taumelte zurück, als David ihn losließ. »Ich brauch was zu trinken.«

»Wie ich höre, ist das deine übliche Diät.«

»Wir sind, was wir sind«, antwortete Conklin und griff ungeschickt nach einem leeren Glas, das auf dem Tisch vor einer wuchtigen, abgewetzten Couch stand. Er trug es zu einem kupfernen Bartisch an der Wand, auf dem eine Bourbonflasche neben der anderen stand. Nichts zum Mixen, kein Wasser, nur ein Eiskübel; das war keine Bar für Gäste. Sie diente nur dem Bewohner, und das rötlich schimmernde Metall zeigte, daß es sich um eine Extravaganz handelte, die der Bewohner sich selbst leistete. Der Rest des Wohnzimmers lag nicht auf dem gleichen Niveau. Irgendwie war dieser kupferne Bartisch eine Aussage.

»Welchem Umstand«, fuhr Conklin fort, während er sein Glas füllte, »verdanke ich dieses zweifelhafte Vergnügen? In Virginia wolltest du mich nicht empfangen - du hast gesagt, du würdest mich umbringen, und das ist Tatsache. Das hast du auch gesagt.

Du würdest mich umbringen, wenn ich durch die Tür käme, das hast du gesagt.«

»Du bist betrunken.«

»Wahrscheinlich. Aber das bin ich um diese Zeit gewöhnlich. Willst du mir einen Vortrag halten? Viel nützen wird es dir nicht, aber wenn du Lust hast, kannst du es ja versuchen.«

»Du bist krank.«

»Nein, ich bin betrunken, das hast du gesagt. Wiederhole ich mich?«

»Bis zum Kotzen.«

»Das tut mir leid.« Conklin stellte die Flasche hin, trank ein paarmal aus seinem Glas und sah dann Webb an. »Ich bin nicht durch deine Tür gekommen, sondern du durch meine. Aber ich nehme an, das ist ohne Belang. Bist du hierher gekommen, um endlich deine Drohung wahrzumachen, die Prophezeiung zu erfüllen, das Unrecht der Vergangenheit zu rächen, oder wie auch immer du es nennen willst? Diese ziemlich auffällige Ausbuchtung unter deinem Jackett ist ja wohl keine Flasche Whisky.«

»Ich bin nicht mehr besessen vom Wunsch, dich tot zu sehen, aber - ja - es könnte sein, daß ich dich töte. Du könntest diesen Wunsch in mir sehr leicht provozieren.«

»Das ist ja toll. Und wie?«

»Indem du mir nicht das lieferst, was ich brauche - und du kannst es liefern.«

»Du mußt etwas wissen, was ich nicht weiß.«

»Ich weiß, daß du zwanzig Jahre mehr oder weniger finstere Operationen hinter dir hast und daß du die meisten davon selbst ausgeheckt hast.«

»Geschichte«, murmelte der CIA-Mann und trank.

»Die kann man wieder auferstehen lassen. Im Gegensatz zu meinem Gedächtnis ist das deine intakt. Ich brauche Informationen, brauche Antworten.«

»Wozu? Wofür?«

»Die haben meine Frau weggeholt«, sagte David ausdruckslos. »Die haben mir Marie weggenommen.«

Conklins Augen blinzelten, während sie den anderen fixierten. »Sag das noch einmal. Ich glaube nicht, daß ich richtig gehört habe.«

»Du hast mich gehört! Und ihr Schweine steckt dabei alle miteinander unter derselben beschissenen Decke!«

»Aber ich doch nicht! Ich würde niemals - ich könnte gar nicht! Was, zum Teufel, sagst du da? Marie ist weg?«

»Sie sitzt in einem Flugzeug über dem Pazifik. Ich soll ihr nachkommen. Ich soll nach Kowloon fliegen.«

»Du bist verrückt! Du hast den Verstand verloren!«

»Hör mir zu, Alex. Du hörst jetzt ganz genau zu ...«

Wieder flössen die Worte aus ihm heraus, aber diesmal so beherrscht, wie er es bei Morris Panov nicht geschafft hatte. Conklin verfügte selbst in betrunkenem Zustand über eine schärfere Auffassungsgabe als die meisten nüchternen Männer in der Welt des Geheimdienstes, er mußte verstehen. Webb durfte nicht dulden, daß es in seiner Darstellung irgendwelche Lücken gab; sie mußte von Anfang an klar sein - von dem Augenblick an, wo er an dem Telefon in der Sporthalle mit Marie gesprochen und gehört hatte, wie sie sagte: >David, komm nach Hause. Hier ist jemand, mit dem du sprechen mußt. Schnell, Liebling. < Während er sprach, hinkte Conklin unsicher durchs Zimmer zur Couch und setzte sich; seine Augen ließen Webbs Gesicht nicht los. Als David am Ende war und sein Hotel eine Straße weiter genannt hatte, schüttelte Alex den Kopf und griff nach seinem Glas.

»Das ist unheimlich«, sagte er nach einer Schweigepause, in der er mit ungeheurer Konzentration gegen den Alkoholnebel ankämpfte; er setzte das Glas ab. »Es ist, als hätte jemand einen Plan verwirklicht, der dann ins Auge gegangen ist.«

»Ins Auge gegangen?«

»Gründlich daneben.«

»Wie?«

»Ich weiß nicht«, fuhr der ehemalige Taktiker, leicht schwankend, fort, und gab sich Mühe, nicht zu lallen. »Man gibt dir ein Drehbuch, das stimmen kann oder auch nicht, und dann ändern sich die Ziele - statt auf dich hat man es auf deine Frau abgesehen - und man spielt es zu Ende. Du reagierst in vorhersehbarer Weise, aber bei der Erwähnung von Medusa macht man dir unmißverständlich klar, daß du dir eine blutige Nase holst, wenn du so weitermachst.«

»Das ist doch auch vorhersehbar.«

»Aber so macht man das nicht. Plötzlich ist Medusa die Hauptgefahr und deine Frau nicht mehr wichtig. Jemand hat sich verkalkuliert. Irgend etwas ist aus dem Ruder gelaufen, etwas ist passiert.«

»Du hast den Rest der heutigen Nacht und morgen, um mir die Antworten zu besorgen. Ich nehme die Maschine um neunzehn Uhr nach Hongkong.«

Conklin lehnte sich vor und schüttelte langsam den Kopf. Mit zitternder Hand griff er wieder nach dem Bourbon. »Du bist im falschen Teil der Stadt«, sagte er und schluckte. »Ich hab gedacht, du weißt das; du hast ja was über das Saufen gesagt. Ich kann dir nichts nützen. Ich bin erledigt, abgehakt, eine Art Sozialfall. Keiner sagt mir etwas, und warum sollten die das? Ich bin ein Fossil, Webb. Niemand will mit mir etwas zu tun haben. Ich bin fertig, und es dauert nicht mehr lange, dann stehe ich auf der Abschußliste. Das ist, glaube ich, eine Formulierung, die du in deinem verrückten Schädel behalten hast.«

»Ja. >Bringt ihn um. Er weiß zuviel.c«

»Vielleicht willst du mich auf die Abschußliste bringen, ist es das? Setzt ihn ins Brot, weckt die schlafende Medusa und sorgt dafür, daß er es von seinesgleichen bekommt. Dann wären wir quitt.«

»Du hast mich auf die Abschußliste gesetzt«, sagte David.

»Ja, das habe ich«, stimmte Conklin ihm zu, nickte und sah auf die Waffe. »Weil ich Delta kannte, und soweit es mich betraf, war alles möglich - schließlich hatte ich dich im Einsatz gesehen. Mein Gott, du hast in Tarn Quan einem Mann den Kopf weggeblasen - einem deiner eigenen Männer -, weil du geglaubt hast - du hast es nicht gewußt, du hast es nur geglaubt -, er würde auf dem Ho-Tschi-Minh-Pfad den Feind herbeifunken! Keine Anklage, keine Verteidigung, einfach bloß noch eine schnelle Hinrichtung mehr im Dschungel. Später stellte sich heraus, daß du recht hattest, aber du hättest auch unrecht haben können! Du hättest ihn gefangennehmen können; wir hätten dann möglicherweise etwas aus ihm herausgebracht. Aber Delta schrieb sich die Regeln selber. Sicher, du hättest in Zürich die Seite wechseln können!«

»Ich kenne die Einzelheiten über Tarn Quan nicht, aber die kannten andere«, sagte David mit ruhigem Zorn. »Ich mußte dort neun Männer herausholen - für einen zehnten war kein Platz. Er hätte uns aufhalten können, oder sogar wegrennen und unsere Position verraten.«

»Gut. Deine Regeln. Du bist doch erfinderisch - dann finde doch hier eine Parallele und drück um Himmels willen ab, wie du es bei ihm gemacht hast - der echte Jason Borowski! Ich habe dir doch in Paris gesagt, daß du es tun sollst!« Schwer atmend hielt Conklin inne, und seine blutunterlaufenen Augen fixierten Webb; seine Stimme klang jetzt gequält. Er flüsterte: »Ich habe es dir damals gesagt, und sage es dir jetzt wieder. Mach doch Schluß mit mir. Ich selbst hab doch nicht den Mumm dazu.«

»Wir waren Freunde, Alex!« schrie David. »Du bist in unser Haus gekommen! Du hast mit uns gegessen und mit den Kindern gespielt! Im Fluß bist du mit ihnen geschwommen ...« O mein Gott! Jetzt kam alles zurück. Die Bilder, die Gesichter ... Herrgott, die Gesichter ... die Leichen, die in Tümpeln aus Wasser und Blut schwammen ... Du mußt dich beherrschen! Die Bilder von dir weghalten! Weghalten! Nur jetzt. Jetzt!

»Das war in einem anderen Land, David. Und außerdem - ich glaube, es wäre dir lieber, wenn ich die Zeile nicht ganz zitiere.«

»»Außerdem ist die Hure tot.< Nein, ich würde es vorziehen, wenn du den Satz nicht wiederholen würdest.«

»Ganz gleich wie«, sagte Conklin heiser und trank einen großen Schluck Whisky. »Wir waren beide recht belesen, nicht wahr? ... Ich kann dir nicht helfen.«

»Doch, das kannst du. Das wirst du auch.«

»Hör auf, Soldat, das geht nicht.«

»Man hat Schulden bei dir. Treib sie ein. Ich verlange, daß du deine Schulden bei mir bezahlst.«

»Tut mir leid. Du kannst jederzeit dieses Ding da abdrücken, aber wenn du es nicht tust, dann werde ich mich nicht selbst auf die Abschußliste setzen oder alles wegwerfen, was mir zusteht. Wenn man mich auf die Weide schickt, dann habe ich vor, dort zu grasen. Die haben genug genommen. Ich will etwas davon zurück.« Der CIA-Agent erhob sich von der Couch und ging schwerfällig auf die kupferbelegte Bar zu. Sein Hinken war noch schlimmer, als Webb es in Erinnerung hatte; der rechte Fuß taugte nicht viel mehr als ein Beinstumpf. Es war deutlich zu sehen, daß jeder Schritt ihm weh tat.

»Das Bein ist schlimmer geworden, nicht wahr?« fragte David knapp.

»Ich werde damit leben.«

»Und auch damit sterben«, sagte Webb und hob die Pistole. »Weil ich nicht ohne meine Frau leben kann, und weil dir das scheißegal ist. Weißt du, was das aus dir macht, Alex? Nach allem, was du uns angetan hast, all den Lügen, Fallen, dem Dreck, mit dem du uns -«

»Dich!« unterbrach Conklin, schenkte sich das Glas voll und starrte dabei die Waffe an. »Nicht sie.«

»Indem du einen von uns tötest, bringst du uns beide um, aber das wolltest du nicht begreifen.«

»Soviel Luxus hatte ich nie.«

»Weil dein elendes Selbstmitleid das nicht zugelassen hat! Darin willst du dich einfach suhlen und überläßt es dem Schnaps, für dich zu denken. Wenn diese Scheiß-Landmine nicht gewesen wäre, wäre ich jetzt so etwas wie der Direktor oder der Mönch oder der Graue Fuchs - >der Angleton der achtziger Jahre<. Jämmerlich bist du. Du hast dein Leben, deinen Verstand -«

»Herrgott, nimm mir doch beides! Schieß doch! Drück doch ab, aber laß mir wenigstens etwas!« Conklin goß plötzlich den ganzen Whisky im Glas auf einmal in sich hinein; ein langgezogenes, würgendes Husten folgte. Nach dem Anfall sah er David an. Seine Augen waren wäßrig, und die roten Äderchen in ihnen waren deutlich zu sehen. »Meinst du, ich würde nicht versuchen, dir zu helfen, wenn ich das könnte, du Arschloch?« flüsterte er heiser. »Glaubst du, all das Denken, das ich mir gestatte, macht mir Spaß? Du bist es, der hier stur ist und nicht klar denkt, David. Aber das verstehst du nicht, wie?« Der CIA-Mann hielt das Glas mit zwei Fingern vor sich und ließ es auf den harten Holzboden fallen; es zerschellte, und die Splitter flogen nach allen Richtungen davon. Dann sprach er, seine Stimme klang dabei hoch und gedehnt, und ein trauriges Lächeln stahl sich auf seine Lippen. »Ich kann nicht noch einen Mißerfolg ertragen, alter Freund, und ich würde es nicht schaffen, glaub mir das. Ich wäre schuld am Tod von euch beiden, und ich glaube einfach nicht, daß ich damit leben könnte.«

Webb senkte die Waffe. »Nicht mit dem, was du in deinem Kopf hast, mit dem, was du gelernt hast. Jedenfalls werde ich das Risiko eingehen; ich habe keine große Auswahl, und ich wähle dich. Um ehrlich zu sein, ich kenne sonst niemanden. Außerdem habe ich ein paar Ideen, vielleicht sogar einen Plan, aber man muß das jetzt schnell in Gang setzen.«

»Oh?« Conklin hielt sich an der Bar fest, um sich zu stützen.

»Darf ich Kaffee machen, Alex?«

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