Als der riesige Jet auf dem Kai-tak-Airport die Landebahn anflog, hingen die Nebel wie durchsichtige Tücher über Victoria Harbor. Dichter Dunst hing in der Morgenluft und ließ einen schwülen Tag in der Kronkolonie erwarten. Auf dem Wasser dümpelten die Dschunken und Sampans neben den schwerfälligen Frachtern und den breiten Lastkähnen und den Fähren mit ihren mehrstöckigen Aufbauten, zwischen denen gelegentlich eine Marinestreife durch den Hafen fegte. Als das Flugzeug sich auf die Piste des Flughafens senkte, sahen die zackigen Reihen von Wolkenkratzern auf der Insel Hongkong wie Marmorgiganten aus, die über den Nebel hinausreichten und bereits die ersten Strahlen der Morgensonne reflektierten. Webb studierte das Bild, das sich ihm bot. Eine schreckliche Spannung zog und zerrte an ihm, während ihn gleichzeitig eine Art von distanzierter Neugier fast zu verzehren drohte. Irgendwo, dort unten in dem brodelnden, unendlich übervölkerten Territorium, war Marie - das war der Gedanke, der sein ganzes Fühlen beherrschte und nicht aufhörte, ihn zu quälen. Und doch war ein Teil seines Wesens erfüllt von der eiskalten Spannung eines Wissenschaftlers, der in das umwölkte Okular eines Mikroskops späht und etwas zu erkennen versucht, was sein Auge und sein Geist verstehen können. Das Vertraute und das Fremdartige mischten sich, und das Ergebnis war Verwirrung und Furcht. In den Sitzungen mit Panov in Virginia hatte David Hunderte von Reiseprospekten und illustrierten Broschüren gelesen, in denen all die Orte beschrieben waren, die der legendäre Jason Borowski je besucht hatte; das Ganze war eine andauernde, häufig schmerzhafte Übung in Selbsterkenntnis, oder besser ein Herumtasten in der eigenen Vergangenheit. Immer wieder tauchten dann Fragmente wie Blitze auf, wobei die plötzlichen Erinnerungen erstaunlich genau waren und er eigene
Beschreibungen liefern konnte, die nicht aus den Reiseprospekten stammten. Als er jetzt in die Tiefe blickte, sah er vieles, von dem er wußte, daß er es kannte, und an das er sich doch nicht eindeutig erinnern konnte. So wandte er den Blick ab und konzentrierte sich auf den Tag, der vor ihm lag.
Er hatte dem Regent-Hotel in Kowloon vom Dulles Airport aus ein Telegramm geschickt und auf den Namen Howard Cruett ein Zimmer bestellt, auf den Namen des blauäugigen Inhabers des von Cactus gefälschten Reisepasses. Er hatte hinzugefügt: »Ich glaube, für unsere Firma ist ein Arrangement für Suite sechs-neun-null getroffen worden, falls die zur Verfügung steht. Der Ankunftstag ist fest, der Flug noch nicht.«
Die Suite würde zur Verfügung stehen. Er mußte herausfinden, wer dafür gesorgt hatte, daß sie zur Verfügung stand. Das war der erste Schritt auf Marie zu. Und davor oder danach oder währenddessen mußte er einkaufen - etliches würde leicht zu haben sein, anderes nicht, aber herankommen würde er an alles, was er brauchte. Dies war Hongkong, die Kronkolonie des Überlebens, ausgestattet mit den Werkzeugen für das Überleben. Und dies war auch der einzige zivilisierte Ort auf der Erde, wo zwar eine Vielfalt von Religionen gedieh, aber der einzige Gott, den alle anerkannten, Gläubige ebenso wie Ungläubige, war das Geld. Marie hatte gesagt: >Das ist die einzige Existenzberechtigung, die es hat.<
Die Morgenluft stank nach einer dicht zusammengedrängten, gehetzten Menschheit, und doch war der Gestank seltsamerweise nicht ganz und gar unangenehm. Die Bürgersteige wurden heftig mit Schläuchen abgespritzt, und Dampf stieg von dem in der Sonne trocknenden Pflaster auf, und durch die schmalen Gassen zog der würzige Duft von in Öl siedenden Kräutern, von Imbißwagen und Kiosken, die nach Kundschaft schrien. Die Geräusche verschmolzen ineinander und wurden zu einer Folge dauernder Crescendos, verlangten, daß man sie aufnahm, etwas kaufte oder wenigstens darüber
verhandelte. Hongkong war die Essenz des Überlebens; man arbeitete entweder wie wild oder man überlebte nicht. Adam Smith war hier übertroffen, war altmodisch; eine solche Welt hätte er sich nie vorstellen können. Sie sprach den Regeln Hohn, die er für eine freie Wirtschaft aufgestellt hatte; sie war Wahnsinn. Sie war Hongkong.
David hob die Hand, um ein Taxi herbeizuwinken, und wußte, daß er dies nicht das erstemal tat, kannte die Ausgangstür, auf die er nach der langen Zollprozedur zugestrebt war, wußte, daß er die Straßen kannte, durch die der Fahrer ihn fuhr - nicht daß er sich an sie erinnerte, aber irgendwie wußte er es doch. Das bereitete ihm gleichzeitig Behagen und erschreckte ihn zutiefst. Er wußte und wußte doch nicht. Er war eine Marionette, die manipuliert wurde, und er wußte trotzdem nicht, ob er die Puppe oder der Puppenspieler war.
»Das war ein Irrtum«, sagte David zu dem Angestellten hinter dem ovalen Marmortresen mitten in der Halle des Regent. »Ich will keine Suite. Ich hätte lieber etwas Kleineres, ein Einzelzimmer oder ein Doppelzimmer reichen mir.«
»Aber es ist doch so vorbestellt worden, Mr. Cruett«, erwiderte der verwirrte Angestellte und benutzte den Namen, den er in Webbs falschem Paß gelesen hatte.
»Wer hat die Suite bestellt?«
Der junge Asiate sah auf eine Unterschrift auf der Reservierung, die der Computer ausgedruckt hatte. »Der stellvertretende Manager, Mr. Liang, hat gegengezeichnet.«
»Dann verlangt es wohl die Höflichkeit, daß ich mit Mr. Liang spreche, nicht wahr?«
»Ich fürchte, das wird nicht notwendig sein. Ich bin nicht sicher, ob etwas anderes frei ist.«
»Ich verstehe. Ich werde mir ein anderes Hotel suchen.«
»Man betrachtet Sie als äußerst wichtigen Gast, Sir. Ich gehe nach hinten und spreche mit Mr. Liang.«
Webb nickte, als der Angestellte mit dem Reservierungszettel in der Hand sich unter dem Tresen wegduckte und schnell durch die überfüllte Halle auf eine Tür hinter dem Tisch des Concierge zuging. David sah sich in der prunkvollen Halle um, die in gewissem Sinne schon draußen anfing, in dem riesigen, kreisförmig angelegten Hof mit den hohen Fontänen, und die sich ausdehnte durch die Reihe eleganter Glastüren und über den Marmorboden bis zu einem Halbkreis überdimensional hoher Buntglasfenster, die auf den Victoria Harbor hinausgingen. Das Tableau draußen war wie eine Kulisse für die Hallenbar vor der Glaswand. Es gab dort Dutzende kleiner Tische und lederner Hocker, die zum größten Teil besetzt waren, und zwischen denen uniformierte Kellner und Kellnerinnen herumhuschten. Das Ganze war eine Arena, aus der die Touristen ebenso wie die Geschäftsleute das Panorama des geschäftigen Hafens betrachten konnten. Der Blick nach draußen war Webb vertraut, aber sonst nichts. Er hatte dieses prunkvolle Hotel noch nie zuvor betreten, zumindest war da nichts an dem, was er sah, das irgendwelche Blitze des Erkennens aufflammen ließ.
Plötzlich fiel sein Blick auf den Angestellten, der jetzt durch die Halle zurückkam, ein paar Schritte vor einem Asiaten mittleren Alters, offenbar dem stellvertretenden Geschäftsführer des Hotels, Mr. Liang. Der jüngere Mann duckte sich wieder unter dem Tresen durch und nahm seine Position vor David wieder ein, und seine beflissenen Augen weiteten sich erwartungsvoll. Sekunden später trat der Manager auf David zu und verbeugte sich leicht aus der Hüfte, wie es seinem beruflichen Status gemäß war.
»Das ist Mr. Liang, Sir«, verkündete der Angestellte.
»Kann ich Ihnen zu Diensten sein?« fragte der Hotelmanager. »Und darf ich Ihnen sagen, daß es mir ein großes Vergnügen ist, Sie als unseren Gast zu begrüßen?«
Webb lächelte und schüttelte höflich den Kopf. »Ich fürchte, das muß ein andermal sein.«
»Sind Sie mit den Räumlichkeiten nicht zufrieden, Mr. Cruett?«
»Darum geht es überhaupt nicht, sie würden mir wahrscheinlich sehr gut gefallen. Aber wie ich Ihrem jungen Mann schon sagte, ziehe ich etwas Kleineres vor, ein Einzelzimmer oder ein Doppelzimmer, jedenfalls keine Suite. Aber ich habe bereits gehört, daß möglicherweise nichts frei ist.«
»Sie haben in Ihrem Telegramm aber ausdrücklich Suite sechs-neun-null erwähnt, Sir.«
»Das ist mir klar, und ich bitte dafür um Nachsicht. Ein übereifriger Vertreter hat das getan.« Webb runzelte freundlichrätselhaft die Stirn und fragte höflich: »Übrigens, wer hat das alles vorbestellt? Ich ganz sicher nicht.«
»Ihr Vertreter vielleicht«, meinte Liang mit ausdruckslosem Blick.
»Der? Der wäre dazu nie befugt. Nein, er hat gesagt, es sei eine der Firmen hier gewesen. Wir können das natürlich nicht annehmen, aber ich würde trotzdem gerne wissen, wer ein so großzügiges Angebot gemacht hat. Sie können mir das doch ganz bestimmt sagen, Mr. Liang, nachdem Sie die Reservierung persönlich gegengezeichnet haben.«
Die ausdruckslosen Augen schienen sich von ihm zu entfernen, und dann blinzelten sie; für David genügte das, aber die Scharade mußte zu Ende gespielt werden. »Ich glaube, irgendein Angestellter- wir haben sehr viele Angestellte - ist mit der Bitte zu mir gekommen, Sir. Es gibt so viele Reservierungen, wir haben so viel zu tun, daß ich mich nicht erinnern kann.«
»Es gibt doch ganz sicher Instruktionen, an wen die Rechnung zu gehen hat.«
»Wir haben viele hochgeschätzte Kunden, deren Wort am Telefon ausreicht.«
»Hongkong hat sich verändert.«
»Verändert sich täglich mehr, Mr. Cruett. Möglicherweise will es Ihnen Ihr Gastgeber selbst sagen. Es wäre ungehörig, sich solchen Wünschen zu widersetzen.«
»Ihr Vertrauen ist bewundernswert.«
»Dahinter steht natürlich ein Code im Computer des Kassiers.« Liang bemühte sich um ein Lächeln; es war falsch.
»Nun, nachdem Sie sonst nichts haben, werde ich es auf eigene Faust versuchen. Ich habe Freunde im Pen«, sagte Webb und meinte damit das ehrwürdige Peninsula-Hotel auf der anderen Straßenseite.
»Das wird nicht nötig sein. Wir können umdisponieren.«
»Aber Ihr Angestellter hat doch gesagt -«
»Der ist nicht stellvertretender Geschäftsführer des Regent, Sir.« Liang warf dem jungen Mann hinter der Theke einen bösen Blick zu.
»Auf meinem Bildschirm ist aber nichts frei«, wandte der Angestellte ein.
»Seien Sie still!« Liang lächelte sofort wieder, ebenso unecht wie zuvor, als ihm bewußt wurde, daß er ohne Zweifel mit seiner schroffen Anordnung die Scharade verloren hatte. »Er ist so jung - alle sind sie so jung und unerfahren -, aber sehr intelligent, sehr eifrig ... Wir halten uns immer einige Zimmer in Reserve für den Fall, daß es irgendwelche Mißverständnisse gibt.« Wieder sah er den Angestellten an und sagte schroff, ohne daß sein Lächeln sich dabei geändert hätte: »Ting, ruan-ji!« Dann redete er schnell auf chinesisch weiter, wobei Webb jedes Wort verstand, ohne sich davon etwas anmerken zu lassen. »Hör zu, du knochenloses Huhn! Du wirst in meiner Gegenwart keine Auskünfte mehr geben, wenn ich dich nicht ausdrücklich dazu auffordere! Wenn du das noch einmal machst, fliegst du auf den Müll. Und jetzt teilst du diesem Idioten Zimmer zwei-null-zwei zu. Es wird als gebucht geführt, das stornierst du. Tu, was ich dir sage.« Jetzt wandte der Hotelmanager sich wieder David zu, und sein Lächeln prägte sich noch stärker aus. »Das ist ein sehr angenehmes Zimmer, mit einem herrlichen Hafenblick, Mr. Cruett.«
»Ich bin Ihnen sehr dankbar«, sagte David, und sein Blick bohrte sich in den des plötzlich unsicher gewordenen Liang. »Das erspart mir die Mühe, in der ganzen Stadt herumzutelefonieren und den Leuten zu agen, wo ich bin.« Dann hielt er mit halb erhobener rechter Hand inne, wie jemand, der weitersprechen möchte. David Webb folgte einem seiner Instinkte, einem Instinkt, den Jason Borowski entwickelt hatte. Er wußte, daß dies der Augenblick war, um Furcht zu erzeugen. »Wenn Sie sagen, ein Zimmer mit einem herrlichen Ausblick, meinen Sie wahrscheinlich you hao jingse de fangian. Habe ich recht? Oder klingt mein Chinesisch albern?«
Der Hotelmann starrte den Amerikaner an. »Ich hätte es selbst nicht besser formulieren können«, sagte er leise. »Der Angestellte wird sich um alles kümmern. Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Aufenthalt, Mr. Cruett.«
»Das Angenehme muß sich an der Leistung messen, Mr. Liang. Das ist entweder ein sehr altes oder ein sehr neues chinesisches Sprichwort, ich weiß nicht genau, welches von beiden.«
»Ich argwöhne, daß es sich um ein neues handelt, Mr. Cruett. Es ist für passive Reflexion zu aktiv, die Seele von Konfuzius, wie Sie sicher wissen.«
»Ist das keine Leistung?«
»Sie sind mir zu schnell, Sir.« Liang verbeugte sich. »Wenn Sie irgend etwas brauchen, lassen Sie es mich bitte unverzüglich wissen.«
»Ich glaube kaum, daß das nötig sein wird, aber trotzdem vielen Dank. Offen gestanden, es war ein langer, anstrengender Flug. Ich werde die Telefonzentrale daher bitten, bis zum Abendessen keine Gespräche durchzustellen.«
»Oh?« Liangs Unsicherheit wurde jetzt noch deutlicher; er hatte Angst. »Aber wenn irgend etwas Dringendes -«
»Es gibt nichts, was nicht warten könnte. Und nachdem ich nicht in Suite sechs-neun-null bin, kann das Hotel ja einfach sagen, daß man mich erst später erwartet. Das ist doch plausibel, oder nicht? Ich bin schrecklich müde. Vielen Dank, Mr. Liang.«
»Ich danke Ihnen, Mr. Cruett.« Wieder verbeugte sich der Hotelmanager und suchte Webbs Augen nach einem letzten Zeichen ab. Als er keines fand, drehte er sich schnell und nervös um und strebte seinem Büro zu.
Du mußt das Unerwartete tun. Den Feind verwirren, ihn aus dem Gleichgewicht bringen ... Jason Borowski. Oder war das Alexander Conklin?
»Wirklich ein sehr schönes Zimmer, Sir!« rief der erleichterte Angestellte aus. »Sie werden sehr zufrieden sein.«
»Mr. Liang ist sehr liebenswürdig«, sagte David. »Ich sollte mich für Ihre Hilfe erkenntlich zeigen - was ich auch tun werde.« Webb holte seine Geldspange heraus und griff unauffällig nach einem Zwanzig-Dollar-Schein. Er streckte dem anderen die Hand mit dem Geldschein hin. »Wann geht Mr. Liang nach Hause?« Der verwirrte, aber überglückliche junge Mann blickte nach rechts und links und redete dabei zusammenhanglos: »Ja! Sie sind sehr liebenswürdig, Sir. Das ist ganz bestimmt nicht nötig, Sir, aber vielen Dank. Mr. Liang verläßt sein Büro jeden Nachmittag um fünf Uhr. Ich gehe um die Zeit auch. Ich würde natürlich bleiben, wenn die Direktion das verlangen würde, weil ich mir sehr große Mühe gebe, mein Bestes für die Ehre des Hotels zu tun.«
»Ich bin ganz sicher, daß Sie das tun«, sagte Webb. »Und Sie machen das auch sehr gut. Meinen Schlüssel, bitte. Mein Gepäck trifft erst später ein wegen einer Umbuchung.«
»Selbstverständlich, Sir!«
David saß in dem Sessel an dem getönten Fenster und blickte über den Hafen zur Insel Hongkong hinüber. Namen drängten sich ihm auf, von Bildern begleitet - Causeway Bay, Wanchai, Repulse Bay, Aberdeen, das Mandarin, und schließlich, ganz klar in der Ferne, der Victoria Peak mit seinem grandiosen Ausblick über die ganze Kronkolonie. Und dann sah er vor seinem geistigen Auge die Menschenmassen, die sich durch die überfüllten, farbenfrohen, häufig so schmutzigen Straßen drängten, und die überfüllten Hotelhallen und Bars mit ihren Kronleuchtern und dem weichen Licht, wo die gut gekleideten letzten Repräsentanten des britischen Empire sich widerstrebend unter die immer mächtiger werdenden chinesischen Spekulanten und Unternehmer mischten - die alte Krone und das neue Geld mußten sich miteinander arrangieren ... Gassen? Aus irgendeinem Grund tauchten vor seinem inneren Auge jetzt überfüllte, heruntergekommene Seitengassen auf. Gestalten hetzten durch die schmalen Gassen, stießen an Käfige mit kleinen, kreischenden Vögeln und sich windenden Schlangen verschiedener Größe - Waren, von Händlern auf den untersten Sprossen der Stufenleiter des Handels. Männer und Frauen jeglichen Alters, von Kindern bis Greisen, in Lumpen gekleidet, schwerer, würziger Rauch, der sich langsam nach oben kräuselte und den Raum zwischen den verfallenden Gebäuden erfüllte und das Licht verschluckte, so daß die dunklen Steinmauern noch düsterer wirkten. Das alles sah er vor sich, und alles hatte eine Bedeutung für ihn, aber er begriff es nicht. Er hatte keine Anhaltspunkte. Zum Wahnsinnigwerden war das.
Marie war dort draußen. Er mußte sie finden! Er sprang auf und wäre am liebsten mit dem Kopf gegen die Wand gerannt, um Klarheit in diese Verwirrung zu bekommen, und wußte doch, daß es ihm nicht weiterhelfen würde - nichts half ihm, das einzige, was ihm helfen würde, war die Zeit, und der Druck, den die Zeit mit sich brachte, konnte er nicht ertragen.
Er mußte Marie finden, sie an sich drücken, sie schützen - so wie sie ihn einst geschützt hatte, indem sie an ihn geglaubt hatte, als er selbst nicht mehr an sich geglaubt hatte. Er trat an den Spiegel über der Kommode und musterte sein blasses, verhärmtes Gesicht. Eines war klar. Er mußte schnell planen und handeln, aber nicht als der Mann, den er im Spiegel sah. Er mußte alles ins Spiel bringen, was er als Jason Borowski gelernt und vergessen hatte. Von irgendeinem Ort in seinem Inneren mußte er die Vergangenheit heraufbeschwören, die sich ihm entziehen wollte, und mußte Instinkten vertrauen, an die er sich nicht erinnerte.
Er hatte den ersten Schritt getan; die Verbindung stand, das wußte er. So oder so, Liang würde ihm etwas liefern, wahrscheinlich eine Information auf dem untersten Niveau, aber es würde immerhin ein Anfang sein - ein Name, ein Ort oder ein Briefkasten, ein erster Kontakt, der zürn nächsten führen würde und dann zu einem weiteren. Er mußte jetzt schnell handeln, das annehmen, was man ihm gab, durfte seinem Feind keine Zeit zum Manövrieren lassen, mußte denjenigen, den er erreichte, so bedrängen, daß die Alternative zur Zusammenarbeit mit ihm der Tod war. Aber um weiterzukommen, mußte er vorbereitet sein. Es galt, Dinge einzukaufen und eine Fahrt durch die Kronkolonie zu unternehmen. Er wollte eine Stunde auf dem Rücksitz eines Automobils sitzen und beobachten und aus seinem lädierten Gedächtnis ausgraben, was sich nur irgend ausgraben ließ.
Er griff sich den in rotes Leder gebundenen Führer, der im Hotelzimmer auslag, setzte sich auf die Bettkante, schlug ihn auf und blätterte schnell durch die Hochglanzseiten. Das New World Shopping Centre, eine großartige offene Anlage mit fünf Etagen, in der Sie unter einem Dach die besten Waren aus allen vier Himmelsrichtungen finden...
Trotz aller Übertreibung fand sich das >Centre< dicht neben dem Hotel; für seine Zwecke würde das reichen. Mietwagen. Eine Flotte von Daimler-Limousinen steht auch stundenweise für geschäftliche oder touristische Zwecke zur Verfügung. Bestellung über den Concierge. Wählen Sie 62. Limousinen deuteten auf erfahrene Chauffeure, die sich in dem verwirrenden Durcheinander von Straßen, Nebenstraßen, Avenuen in Hongkong, Kowloon und den New Territories auskannten und auch sonst in vielen Dingen Erfahrungen besaßen.
Solche Männer kannten sich auch im Untergrund der Städte aus, in denen sie arbeiteten. Wenn er sich nicht sehr täuschte, und sein Instinkt sagte ihm, daß er das nicht tat, würde er auf diese Weise noch zu etwas anderem kommen, was er dringend brauchte. Zu einer Waffe. Außerdem gab es im Central District von Hongkong eine Bank, die eine Abmachung hatte mit einem Schwesterinstitut auf den Cayman-Inseln, Tausende von Meilen entfernt. Er mußte jene Bank aufsuchen, dort unterschreiben, was man ihm vorlegte, und sie dann wieder mit mehr Geld verlassen, als ein vernünftiger Mensch in Hongkong bei sich trug - oder sonstwo, was das anging. Er würde irgendeinen Ort finden, um das Geld dort zu verstecken, ganz bestimmt nicht eine Bank, denn dort konnte er nicht jederzeit darüber verfügen. Jason Borowski wußte: Wenn man einem Menschen sein Leben verspricht, spurt er; wenn man ihm sein Leben und viel Geld verspricht, hat das die doppelte Wirkung: völlige Unterwerfung.
David griff nach dem Notizblock und dem Bleistift, die neben dem Telefon auf dem Nachttisch lagen; er machte wieder eine Liste. Die kleinen Dinge wuchsen mit jeder Stunde immer mächtiger an, und so viele Stunden hatte er nicht mehr. Es war jetzt fast elf Uhr vormittags. Der Hafen glitzerte in der mittäglichen Sonne. Es gab bis halb fünf noch so vieles zu tun. Dann würde er unauffällig irgendwo in der Nähe des
Personalausgangs Position beziehen, vielleicht auch in der Hotelgarage, um dem wachsgesichtigen Liang zu folgen und ihn in eine Falle zu locken, denn dies war seine erste Spur.
Drei Minuten später war seine Liste fertig. Er riß das Blatt ab, stand auf und griff nach seinem Jackett, das er über den Schreibtischstuhl gehängt hatte. Plötzlich klingelte das Telefon durchdringend und zerriß die Stille des Hotelzimmers. Er mußte die Augen schließen und jeden Muskel anspannen, um nicht zum Telefon zu rennen, mußte die Hoffnung verdrängen, daß es ihm Maries Stimme übermitteln würde, selbst wenn sie eine Gefangene war. Er durfte den Hörer nicht abnehmen. Instinkt, Jason Borowski. Er hatte die Lage nicht im Griff. Wenn er jetzt den Hörer abnahm, hatten sie ihn im Griff.
Er ließ es klingeln, während er voll Sorge durch das Zimmer und zur Tür hinausging.
Zehn Minuten nach zwölf kehrte er mit einer Anzahl Plastiktüten aus verschiedenen Geschäften im Shopping Centre zurück. Er ließ sie auf das Bett fallen und holte seine Einkäufe heraus. Unter anderem hatte er einen dunklen, leichten Regenmantel, einen dunklen Segeltuchhut, ein Paar graue Tennisschuhe, schwarze Hosen und einen Pullover gekauft, ebenfalls schwarz; das war die Kleidung, die er nachts tragen würde. Dann noch eine Spule mit Angelleine - laut Test hielt sie fünfundsiebzig Pfund aus - mit zwei etwa handtellergroßen Ösen, durch die man ein etwa ein Meter langes Stück Leine schlingen und an beiden Enden befestigen konnte, ein Briefbeschwerer in Gestalt einer Glocke, ein Eispickel und ein zweischneidiges Jagdmesser mit einer schmalen, vier Zoll langen Klinge in einer Lederscheide. Dies waren die stummen Waffen, die er Tag und Nacht bei sich tragen würde. Ein Gegenstand fehlte noch, aber er würde ihn auftreiben.
Während er seine Einkäufe untersuchte, wobei er sich auf die Ösen und die Fischerleine konzentrierte, fiel ihm ein schwach blinkendes Licht auf. Auf, ab ... auf, ab. Es war lästig, weil er nicht herausfinden konnte, wo es herkam, und wie so häufig, mußte er sich den Kopf darüber zerbrechen, ob das Licht tatsächlich da war oder es sich nur um eine Illusion seines gestörten Bewußtseins handelte. Dann wanderten seine Augen zum Nachttisch; durch die dem Hafen zugewandten Fenster strömte helles Licht herein und hüllte auch das Telefon ein, aber da war das pulsierende Licht, in der linken unteren Ecke des Apparats - kaum sichtbar, aber doch nicht zu übersehen. Es war das Signal für eine Nachricht am Empfang, ein kleiner roter Punkt, der eine Sekunde lang leuchtete, dann wieder eine Sekunde lang dunkel wurde, und in gleichen Intervallen auf und ab blinkte. Eine Nachricht war kein Anruf, überlegte er. Er ging an den Nachttisch, studierte die Gebrauchsanweisung auf dem kleinen Plastikkärtchen, nahm dann den Hörer auf und drückte den entsprechenden Knopf.
»Ja, Mr. Cruett?« sagte die Telefonistin in der Zentrale.
»Sie haben eine Nachricht für mich?« fragte er.
»Ja, Sir. Mr. Liang hat versucht, Sie zu erreichen -«
»Ich dachte, meine Anweisungen seien eindeutig gewesen«, unterbrach sie Webb. »Ich wollte keine Anrufe, bis ich der Zentrale Bescheid sage.«
»Ja, Sir, aber Mr. Liang ist stellvertretender Geschäftsführer -er leitet das Hotel, wenn sein Vorgesetzter nicht hier ist, was heute morgen ... heute nachmittag der Fall ist. Er hat uns gesagt, es sei sehr dringend. Er hat Sie in der letzten Stunde alle paar Minuten angerufen. Ich verbinde Sie jetzt, Sir.«
David legte auf. Er war noch nicht bereit für Liang, oder besser gesagt, Liang war noch nicht für ihn bereit - zumindest nicht auf die Weise, wie David das wollte. Liang stand vermutlich am Rande der Panik, denn er war der erste und unterste Kontaktmann, und es war ihm mißlungen, das Opfer dort unterzubringen, wo man das gewollt hatte - in einer Suite mit Mikrofonen, wo der Feind jedes Wort hören konnte. Aber der Rand der Panik reichte nicht. David wollte, daß Liang jene Grenze überschritt. Und die schnellste und sicherste Methode, diesen Zustand herbeizuführen, war die, keinen Kontakt zuzulassen, keine Diskussion, keine um Entschuldigung bittenden Erklärungen.
Webb nahm die Kleider vom Bett und legte sie mit den Sachen, die er aus der Flugtasche geholt hatte, in zwei Schubladen der Kommode; die Ösen und die Angelleine stopfte er dazwischen. Dann legte er den Briefbeschwerer auf die Speisekarte des Etagenservice, schob das Jagdmesser in seine Jacketttasche. Er sah auf den Eispickel herunter, und plötzlich kam ihm ein Gedanke, der wieder aus einem seltsamen Instinkt geboren war. Ein von Angst verzehrter Mann würde dann überreagieren, wenn ihn der unerwartete Anblick von etwas Erschreckendem verblüffte. Das Bild würde ihn schockieren und seine Ängste verstärken. David holte ein Taschentuch aus der Brusttasche, griff nach dem Eispickel und wischte den Griff sauber. Indem er das tödliche Instrument mit dem Tuch festhielt, ging er schnell auf den kleinen Vorraum zu, warf einen prüfenden Blick auf die Wand und trieb den Pickel in Augenhöhe in die weiße Wand gegenüber der Tür. Das Telefon klingelte und klingelte dann beständig weiter. Webb öffnete die Tür und ging hinaus und eilte den Korridor hinunter, auf die Aufzüge zu, bog dann aber kurz davor ab und wartete im nächsten Gang.
Er hatte sich nicht verrechnet. Die blitzenden Schiebetüren glitten auseinander, und Liang kam aus dem mittleren Aufzug herausgerannt, auf Webbs Korridor zu. David hetzte um die Ecke, auf die Aufzüge zu und ging dann schnell und leise an die Ecke seines eigenen Korridors. Er konnte sehen, wie der nervöse Liang ein paarmal die Türglocke drückte und schließlich immer hartnäckiger an die Tür klopfte. Eine weitere Tür öffnete sich, und zwei Paare traten lachend heraus. Einer der Männer warf Webb einen fragenden Blick zu, zuckte dann aber die Achsel, als die anderen nach links bogen. David wandte seine Aufmerksamkeit wieder Liang zu. Der Hotelmanager wirkte jetzt völlig verzweifelt; er klingelte wieder und schlug gegen die Tür. Dann hielt er inne und legte das Ohr an die Tür, griff dann in die Tasche und holte einen Schlüsselbund heraus.
Webb zog sofort den Kopf zurück, als der Chinese sich umdrehte und den Korridor hinauf und hinunter blickte, während er den Schlüssel ins Schloß schob. David brauchte nichts zu sehen; er wollte nur hören.
Er brauchte nicht lange zu warten. Zuerst war ein unterdrückter, kehliger Schrei zu hören, und dann das laute Krachen der Tür. Der Eispickel hatte seine Wirkung getan. Webb rannte zu seinem Versteck hinter dem letzten Aufzug zurück und preßte sich wieder gegen die Wand. Liang war sichtlich erschüttert; sein Atem ging unregelmäßig, während er ein paarmal den Liftknopf drückte. Schließlich ertönte eine Glocke, und die Metalltüre des zweiten Aufzugs öffnete sich. Liang rannte hinein.
David hatte keinen bestimmten Plan, wußte aber vage, was er zu tun hatte, denn eine andere Möglichkeit gab es nicht. Er ging mit schnellen Schritten an den Lifttüren vorbei und rannte dann den Rest der Strecke zu seinem Zimmer. Er sperrte auf, riß den Telefonhörer an sich und drückte die Ziffern, die er sich gemerkt hatte. »Concierge, bitte?« sagte eine angenehme Stimme, die nicht asiatisch klang. Wahrscheinlich ein Inder.
»Spreche ich mit dem Concierge?« fragte Webb.
»Ja, Sir.«
»Keinem seiner Assistenten?«
»Nein, leider nicht. Wollten Sie mit einem bestimmten Assistenten sprechen? Jemanden, der etwas Bestimmtes für Sie erledigt, vielleicht?«
»Nein, ich möchte mit Ihnen sprechen«, sagte David leise. »Ich befinde mich hier in einer Situation, die streng vertraulich behandelt werden muß. Kann ich mich bei Ihnen darauf verlassen? Ich kann sehr großzügig sein.«
»Sie sind ein Gast im Hotel?«
»Ja, das bin ich.«
»Und es handelt sich natürlich um nichts Ungehöriges. Nichts, was dem Etablissement Schaden zufügen würde.«
»Im Gegenteil, es würde nur seinen Ruf fördern, daß es vorsichtigen Geschäftsleuten behilflich ist, die Geschäfte im Territorium machen wollen. Große Geschäfte.«
»Ich stehe zu Ihren Diensten, Sir.«
Eine Daimler-Limousine mit dem erfahrensten Chauffeur, der zur Verfügung stand, würde in zehn Minuten für ihn an der Rampe an der Salisbury Road bereitstehen. Der Concierge würde am Wagen warten und würde als Gegenleistung für die vertrauliche Behandlung seines Wunsches zweihundert Dollar in amerikanischer Währung erhalten, was etwa fünfzehnhundert Dollar in Hongkong-Währung entsprach. Die Mietsumme würde bar für vierundzwanzig Stunden entrichtet werden, und kein Name würde fallen - nur der einer willkürlich ausgewählten Firma. Und »Mr. Cruett« würde, von einem Pagen geleitet, einen Personalaufzug in die untere Etage des Regent benutzen dürfen, wo es einen Ausgang gab, der zum New World Centre führte, von dem aus es einen direkten Zugang zu dem vereinbarten Treffpunkt an der Salisbury Road gab.
Nachdem das Geld seinen Besitzer gewechselt hatte, stieg David auf den Rücksitz des Daimler; das faltige, müde Gesicht eines uniformierten Fahrers in mittleren Jahren, dessen gelangweilter Gesichtsausdruck durch den gequälten Versuch, freundlich zu sein, nur teilweise gemildert wurde, ermutigte ihn.
»Willkommen, Sir! Mein Name ist Pak-fei, und ich werde mir große Mühe geben, Ihnen zu Diensten zu sein! Sie sagen mir, wohin Sie wollen, und ich bringe Sie hin. Ich weiß alles!«
»Das hatte ich gehofft«, sagte Webb leise.
»Wie bitte, Sir?«
»Wo bushi lüke«, sagte David und erklärte damit, daß er kein Tourist sei. »Aber da ich seit Jahren nicht mehr hier war«, fuhr er auf chinesisch fort, »möchte ich mich aufs neue mit der Umgebung vertraut machen. Wie wäre es mit der normalen langweiligen Inseltour und dann einer schnellen Fahrt durch Kowloon? Ich muß in etwa zwei Stunden zurück sein ... Und ab jetzt wollen wir Englisch sprechen.«
»Ah! Sie sprechen gut Chinesisch, sehr hohe Klasse, aber ich verstehe alles, was Sie sagen. Aber nur zwei zhongtou -«
»Stunden«, unterbrach ihn Webb. »Wir sprechen Englisch, vergessen Sie das nicht, und ich möchte nicht mißverstanden werden. Aber diese zwei Stunden und Ihr Trinkgeld und die restlichen zweiundzwanzig Stunden und das Trinkgeld dafür werden davon abhängen, wie gut wir miteinander auskommen, nicht wahr?«
»Ja, ja!« rief Pak-fei, ließ den Motor des Daimler aufheulen und schoß rücksichtslos in den dichten Verkehr der Salisbury Road hinaus. »Ich werde mir Mühe geben, sehr ausgezeichneten Dienst zu bieten!«
Das tat er, und die Namen und Bilder, die sich David im Hotelzimmer aus der Vergangenheit aufgedrängt hatten, wurden durch greifbare Bilder verstärkt. Er kannte die Straßen des Central District, er kannte das Mandarin-Hotel und den Hongkong-Club ebenso wie den Chater Square mit dem Obersten Gerichtshof der Kronkolonie gegenüber den Bankgiganten von Hongkong. Hier war er zu Fuß durch die überfüllten Straßen zu dem Gewimmel vor der Star-Fähre gegangen, der Verkehrsverbindung der Insel mit Kowloon. Queen's Road, Hillier, Possession Street ... das grellbunte Wanchai-Viertel, alles nahm für ihn jetzt wieder Gestalt an, in dem Sinne, daß er schon einmal dort gewesen war, jene Orte aufgesucht hatte, sie kannte, die Straßen kannte, selbst die Abkürzungswege. Er erkannte die gewundene Straße nach Aberdeen und war nicht erstaunt, als er die grellbemalten schwimmenden Restaurants sah und dahinter das unglaubliche Gewirr von Dschunken und Sampans der Leute, die dort wohnten, in einer schwimmenden Stadt der ewig Entrechteten; sogar das Klappern und die Rufe der Mah-Jongg-Spieler konnte er hören und sich ausmalen, wie sie abends im schwachen Schein schwankender Laternen ihrer Spielleidenschaft frönten. An den Stranden von Shek O und Big Wave hatte er sich mit Männern und Frauen getroffen - Kontaktleuten und Verbindungsleuten, reflektierte er - und dann war er am überfüllten Strand von Repulse Bay im Meer geschwommen, hinter sich die nachgemachten Götterstatuen und die abbröckelnde Eleganz des alten Kolonialhotels. Das alles hatte er gesehen, das alles kannte er, und doch gab es für ihn keine Beziehung dazu.
Er sah auf die Uhr; sie waren jetzt seit beinahe zwei Stunden unterwegs. Er hatte auf der Insel noch etwas zu erledigen, und anschließend würde er Pak-fei auf die Probe stellen. »Fahren Sie zum Chater Square zurück«, sagte er. »Ich habe in einer der Banken zu tun. Sie können auf mich warten.«
Geld war nicht nur ein gesellschaftliches und industrielles Schmiermittel, sondern in genügend großen Beträgen auch der Schlüssel zur Beweglichkeit. Ohne Geld kamen Männer auf der Flucht nicht weiter, waren in ihrer Wahl der Waffen eingeschränkt, und die Verfolger, die sich von der Beliebigkeit der Fluchtmethoden oft narren ließen, verfügten nicht über die Mittel, die Jagd fortzusetzen. Und je höher der Betrag, desto leichter war es, an ihn heranzukommen; man bedenke nur, wie mühsam es ist, ein Darlehen von höchstens 500 Dollar zu bekommen, wenn die Sicherheiten bescheiden sind, und wie leicht das geht, wenn man 500000 Dollar Kredit hat. In der Bank am Chater Square lief alles schnell und professionell; man stellte
David ohne Frage einen Aktenkoffer für den Transport des Geldes zur Verfügung und bot ihm einen Leibwächter an, der ihn zum Hotel begleiten konnte. Er lehnte ab, unterzeichnete die entsprechenden Papiere und brauchte keine weiteren Fragen zu beantworten. Er kehrte zu dem Wagen zurück, der auf der verkehrsreichen Straße auf ihn wartete.
Er lehnte sich nach vorne, stützte die linke Hand auf den weichen Bezug des Vordersitzes, nur wenige Zoll vom Kopf des Fahrers entfernt. Zwischen Daumen und Zeigefinger hielt er eine amerikanische Hundert-Dollar-Note. »Pak-fei«, sagte er, »ich brauche eine Pistole.«
Langsam drehte der Fahrer den Kopf. Er sah den Schein an und drehte sich dann noch weiter herum, um Webb anzusehen. Der ganze verkrampfte Überschwang war dahin, die ganze Servilität. Statt dessen zeigte das faltige Gesicht jetzt keinerlei Ausdruck, und die Schlitzaugen wirkten wie Abgründe. »Kowloon«, sagte er. »Im Mongkok.« Er nahm die hundert Dollar.