Kapitel 3

Marie, großer Gott, Marie, es ist wieder passiert! Es war, als hätte sich eine Schleuse geöffnet, und ich wurde nicht damit fertig. Ich habe es versucht, meine Liebste. Ich habe mir solche Mühe gegeben, aber ich wurde weggespült und wäre beinahe ertrunken! Ich weiß, was du sagen wirst, wenn ich es dir erzähle, und deshalb werde ich es dir nicht erzählen, obwohl ich weiß, du wirst es in meinen Augen sehen, es in meiner Stimme hören - irgendwie wirst du das, so wie nur du das kannst. Du wirst sagen, ich hätte zu dir heimkommen müssen, mit dir sprechen, mit dir Zusammensein, damit wir gemeinsam damit fertig werden. Gemeinsam! Mein Gott! Wieviel kannst du eigentlich ertragen? Wie unfair kann ich sein, wie lange kann das noch so weitergehen? Ich liebe dich so sehr, in vieler

Hinsicht, daß es einfach Zeiten gibt, wo ich es allein tun muß. Und wenn es nur wäre, um dich einmal eine Weile aus der Verantwortung zu entlassen, um dich eine Weile zu Atem kommen zu lassen, ohne daß deine Nerven bis zum Zerreißen gespannt sind und du dich um mich kümmern mußt. Aber siehst du, meine Liebe, ich kann es tun! Ich habe es heute abend getan, und ich bin immer noch in Ordnung. Ich habe mich jetzt beruhigt. Ich bin in Ordnung. Und jetzt werde ich zu dir nach Hause zurückkehren, besser, als ich war. Das muß ich, weil es ohne dich nichts gibt, das mir bleibt.

Das Gesicht schweißüberströmt, rannte David Webb mit einem Trainingsanzug, der ihm am Körper klebte, atemlos durch das kalte Gras des Sportplatzes, an den Tribünen vorbei und den Asphaltweg auf die Turnhalle der Universität zu. Die Herbstsonne war hinter den Universitätsgebäuden verschwunden, und ihr Glühen hing noch jenseits der fernen Wälder von Maine und tauchte den Abendhimmel in rötliches Feuer. Herbstliche Kühle lag in der Luft, und er fröstelte. Seine Ärzte würden das nicht erfahren dürfen.

Dennoch hatte er im wesentlichen ihren Rat befolgt. Die Ärzte der Regierung hatten ihm gesagt, wenn es dazu kommen sollte - und es würde dazu kommen -, daß plötzlich in seinem Bewußtsein quälende Bilder oder Erinnerungsfetzen auftauchten, er am besten damit fertig würde, wenn er sich bis zur Erschöpfung auspumpte. Sein EKG zeigte, daß er ein gesundes Herz hatte, seine Lungen waren in Ordnung, wenn er auch unvernünftigerweise rauchte. Und da sein Körper also belastbar war, wäre dies die beste Methode, sein seelisches Gleichgewicht zu erhalten. Was er in solchen Zeiten brauchte, war Gelassenheit.

»Was ist denn gegen ein paar Drinks und Zigaretten einzuwenden?« hatte er zu den Ärzten gesagt, um keinen Zweifel daran zu lassen, daß er Trinken und Rauchen eigentlich vorgezogen hätte. »Das Herz schlägt schneller, der Körper leidet nicht darunter, und für das seelische Gleichgewicht ist es ganz sicher das Beste.«

»Das sind künstliche Aufputschmittel«, hatte der einzige Mann gesagt, auf den er wirklich hörte. »Und die führen nur zu noch mehr Depressionen, und Ihre Angst wächst. Nein, laufen Sie, schwimmen Sie, machen Sie Liebe mit Ihrer Frau - oder sonst jemandem. Seien Sie bloß kein Narr und kommen Sie hierher auf einer Bahre zurück ... Vergessen Sie sich selbst und denken Sie an mich. Ich habe mir Mühe mit Ihnen gegeben, also seien Sie nicht undankbar. Verschwinden Sie hier, Webb! Führen Sie Ihr Leben weiter - das, woran Sie sich daraus erinnern können - und genießen Sie es! Sie haben es besser als die meisten, das sollten Sie nie vergessen, sonst können wir uns unsere gemeinsamen monatlichen Exzesse nicht mehr leisten, und Sie können zum Teufel gehen! Und obwohl mir das gleichgültig wäre, würden die mir fehlen ... Gehen Sie, David! Für Sie ist jetzt Zeit.«

Außer Marie war Morris Panov der einzige, der so zu ihm reden konnte. Das war erstaunlich, denn zunächst war Mo keiner der Regierungsärzte gewesen; der Psychiater hatte sich offiziell weder für Einzelheiten aus David Webbs Vorgeschichte interessiert, noch hatte man ihm die Unbedenklichkeitsbescheinigung angeboten, die er gebraucht hätte, um herauszufinden, wie man sich der Lüge Jason Borowski entledigt hatte. Dafür hatte Panov alle möglichen peinlichen Enthüllungen angedroht, falls man ihm die Mitwirkung bei der Therapie nicht gestattet hätte. Seine Gründe waren einfach: Als David nämlich um ein Haar von falsch informierten Männern umgebracht worden wäre, war er, Panov, die Quelle der Falschinformation gewesen, ohne das im entferntesten zu wollen, und das hatte ihn wütend gemacht. Jemand, der nicht zur Panik neigte, war voll Panik zu ihm gekommen und hatte ihm >hypothetische< Fragen bezüglich eines vielleicht aus dem seelischen Gleichgewicht geratenen Untergrundagenten in einer Streßsituation gestellt. Die Ratschläge, die er darauf erteilt hatte, waren zurückhaltend und vorsichtig gewesen; er konnte für einen Patienten, den er nie gesehen hatte, keine Diagnose stellen und würde das auch nie tun - aber möglich war das sicher und auch nicht neu. Nur daß man selbstverständlich ohne körperliche und psychiatrische Untersuchung nichts Konkretes sagen konnte. Aber er hätte überhaupt nichts sagen sollen! Denn seine Worte hatten im Bewußtsein von Amateuren die Anordnung für Webbs Exekution - Jason Borowskis Todesurteil - besiegelt. Ein Akt, der buchstäblich im letzten Augenblick durch Davids eigenes Handeln verhindert worden war, während das Hinrichtungskommando immer noch auf seinem unsichtbaren Posten war.

So war Morris Panov nicht nur im Walter-Reed-Hospital und später auch in dem Ärztezentrum in Virginia in Erscheinung getreten, sondern er hatte die Führung übernommen. Dieser Arsch hat Amnesie, ihr Idioten! Seit Wochen versucht er, euch das in ganz klaren Worten begreiflich zu machen - aber das ist wahrscheinlich für eure Eierköpfe zu hoch.

Sie hatten monatelang zusammengearbeitet, als Patient und Arzt - und schließlich als Freunde. Daß Marie Mo anbetete, half dabei - lieber Gott, sie brauchte einen Verbündeten! Die Last, die David für seine Frau gewesen war, war unvorstellbar, angefangen bei jenen ersten Tagen in der Schweiz, als ihr die Pein dämmerte, die den Mann verzehrte, der sie gefangengenommen hatte, bis zu dem Augenblick, wo sie sich entschloß - ganz gegen seinen Willen -, ihm zu helfen, dabei nie das glaubend, was er selbst glaubte. Immer wieder hatte sie ihm gesagt, daß er der Killer nicht war, für den er sich hielt, der Meuchelmörder, als den andere ihn bezeichneten. An diesen Glauben klammerte er sich, und ihre Liebe war der Keim seiner langsamen Gesundung. Ohne Marie war er ein ungeliebter

Mann, den man fallengelassen hatte, und ohne Mo Panov konnte er allenfalls dahinvegetieren. Aber seit sie beide hinter ihm standen, konnte er auch die Nebel durchdringen und wieder die Sonne finden.

Und dies war der Grund, weshalb er jetzt eine Stunde lang über diese kalte, verlassene Piste rannte, anstatt nach seinem Nachmittagsseminar nach Hause zu fahren. Seine Seminare dauerten oft wesentlich länger, als in den Stundenplänen stand, und Marie plante daher nie ein Essen, wußte, daß sie zum Essen ausgehen und daß ihre zwei unauffälligen Bewacher irgendwo in der Dunkelheit hinter ihnen sein würden - so wie jetzt einer dort hinten über den Sportplatz ging und der andere ohne Zweifel in der Halle wartete. Wahnsinn!

Was ihn zu dem Lauf getrieben hatte, war ein Bild, das plötzlich in seinem Bewußtsein aufgetaucht war, als er vor ein paar Stunden in seinem Büro saß und Arbeiten korrigierte. Es war ein Gesicht - ein Gesicht, das er kannte und an das er sich erinnerte, das er sehr liebte. Das Gesicht eines Jungen, das vor seinem inneren Bildschirm alterte und schließlich zu einem kompletten Porträt in Uniform wurde, etwas unscharf, aber ein Teil seiner selbst. Und während ihm Tränen über die Wangen rannen, wußte er, daß es der tote Bruder war, von dem man ihm erzählt hatte, der Kriegsgefangene, den er vor Jahren inmitten alleserschütternder Explosionen im Dschungel von Tarn Quan befreit hatte, und ein Verbrecher mit dem Namen Jason Borowski, den er exekutiert hatte. Er wurde mit diesen Bildern nicht fertig; er hatte es gerade noch geschafft, das Seminar hinter sich zu bringen, und hatte dann Kopfschmerzen vorgeschützt. Er mußte den Druck irgendwie loswerden, mußte seine Vernunft einsetzen, um die Erinnerungen entweder zu akzeptieren oder sie von sich zu stoßen. Und die Vernunft sagte ihm, daß er heraus mußte, rennen, gegen den Wind, je stärker, desto besser. Er würde Marie nicht jedesmal quälen, wenn wieder ein Damm brach; dazu liebte er sie zu sehr. Wenn er fähig war, selbst damit fertig zu werden, dann mußte er das auch tun. Das war der Vertrag, den er mit sich selbst geschlossen hatte.

Er öffnete die schwere Tür und fragte sich einen Augenblick lang, warum eigentlich jeder Zugang zu einer Turnhalle so schwere Türen haben mußte. Er trat ein und ging durch einen Bogen über den plattenbelegten Boden, durch einen Korridor mit weißen Wänden, bis er schließlich die Tür des Umkleideraums erreichte. Er war froh, daß der Raum leer war; er war jetzt nicht zu belanglosen Gesprächen aufgelegt, und falls er dazu gezwungen gewesen wäre, hätte er ohne Zweifel einen mürrischen, wenn nicht gar befremdlichen Eindruck gemacht. Und auf die neugierigen Blicke konnte er auch verzichten. Er stand zu dicht vor dem Abgrund; er mußte sich langsam davon zurückziehen, vorsichtig, zuerst allein und dann mit Marie. Herrgott, wann würde das alles einmal aufhören? Wieviel durfte er eigentlich von ihr fordern? Aber er brauchte nie zu fordern -sie gab, ohne daß man sie bitten mußte.

Jetzt kam Webb zu den Schränken. Sein eigener war ganz am Ende. Er ging zwischen der langen hölzernen Bank und den Blechschränken durch, als sein Blick plötzlich auf einen Gegenstand ganz vorne fiel. Er rannte darauf zu - jemand hatte ein Blatt an seinen Schrank geklebt. Er riß es herunter und klappte es auf: Ihre Frau hat angerufen. Sie sollen so schnell wie möglich zurückrufen. Es sei dringend. Ralph.

Der Platzwart hätte ja schließlich so viel Verstand haben können, hinauszugehen und nach ihm zu rufen, dachte David zornig, während er das Kombinationsschloß betätigte und den Schrank öffnete. Er wühlte in seiner schlaff herunterhängenden Hose nach Kleingeld, rannte zu einem Telefonautomaten an der Wand, schob eine Münze in den Schlitz und ärgerte sich, daß seine Hand beim Wählen zitterte. Dann wußte er, warum das so war. Marie gebrauchte nie das Wort >dringend<. Sie vermied es, solche Worte zu benutzen.

»Ja?«

»Was ist denn los?«

»Ich hab mir schon gedacht, daß du dort sein würdest«, sagte seine Frau. »Mos Allheilmittel, von dem er garantiert, daß es dich gesund macht, wenn es dir keinen Herzinfarkt einträgt.«

»Also, was ist?«

»David, komm nach Hause. Hier ist jemand, mit dem du sprechen mußt. Schnell, Liebling.«

Staatssekretär Edward McAllister beschränkte sich bei seiner Vorstellung auf das Unerläßliche, ließ aber durchblicken, daß er kein kleines Rädchen in seiner Behörde war. Andererseits strich er seine Bedeutung nicht heraus; er war ein selbstbewußter Beamter, davon überzeugt, daß seine Fähigkeiten ihm die Gewähr dafür bieten würden, auch Regierungswechsel zu überstehen.

»Wenn Sie möchten, Mr. Webb, können wir mit unserem Gespräch ja warten, bis Sie es sich etwas bequemer gemacht haben.«

David trug immer noch seine verschwitzten Shorts und das T-Shirt; mit seinem Straßenanzug aus dem Schrank war er sofort zum Wagen gerannt. »Ich glaube nicht«, sagte er. »Ich glaube nicht, daß unser Gespräch warten kann - wenn man bedenkt, woher Sie kommen, Mr. McAllister.«

»Setz dich, David.« Marie St. Jacques Webb kam mit zwei Handtüchern ins Wohnzimmer. »Sie bitte auch, Mr. McAllister.« Sie reichte Webb ein Handtuch, und die beiden Männer nahmen vor dem offenen Kamin, in dem kein Feuer brannte, Platz. Marie trat hinter ihren Mann und begann, ihm mit dem zweiten Handtuch Hals und Schultern abzutupfen. Das Licht der Tischlampe hob den rötlichen Glanz ihres kastanienfarbenen Haars hervor, während ihre Gesichtszüge im

Schatten lagen. Ihr Blick ruhte auf dem Mann aus dem Außenministerium. »Bitte, fahren Sie fort«, meinte sie dann. »Wir waren uns ja schon vorher einig, daß die Regierung mich als vertrauenswürdig ansehen kann.«

»Stand das in Frage?« fragte David und blickte zuerst zu ihr und dann zu seinem Besucher, ohne dabei die in ihm aufsteigende Feindseligkeit zu verbergen.

»In keiner Weise«, erwiderte McAllister mit einem schwachen und doch offenen Lächeln. »Niemand, der weiß, was Ihre Frau geleistet hat, würde es wagen, sie auszuschließen. Sie hat das vollbracht, was anderen mißlang.«

»Das sagt alles«, pflichtete Webb ihm bei. »Natürlich ohne irgend etwas zu sagen.«

»He, David, mach es ihm nicht so schwer.«

»Tut mir leid. Sie hat recht.« Webb versuchte zu lächeln, was ihm freilich nicht sonderlich gut gelang. »Ich lasse mich von Vorurteilen lenken, und das sollte ich nicht, wie?«

»Nun, ich meine, daß Sie dazu ein gutes Recht haben«, antwortete der Staatssekretär. »Wenn ich Sie wäre, würde ich das ganz bestimmt auch. Obwohl wir einen sehr ähnlichen Hintergrund haben - ich war einige Jahre im Fernen Osten eingesetzt -, wäre niemand auf die Idee gekommen, mich mit der Aufgabe zu betrauen, die Sie übernommen haben. Was Sie durchgemacht haben, wäre mir unmöglich gewesen.«

»Das war es mir auch. Das liegt doch auf der Hand.«

»Nicht von meinem Standpunkt aus. Schließlich haben Sie es, weiß Gott, geschafft.«

»Jetzt schmeicheln Sie mir. Ich will Ihnen nicht zu nahe treten, aber Schmeichelei - von Ihrem Standpunkt aus - macht mich nervös.«

»Dann wollen wir zur Sache kommen, ja?«

»Bitte.«

»Ich kann nur hoffen, daß Ihr Vorurteil gegen mich nicht zu tief geht. Ich bin nicht Ihr Feind, Mr. Webb. Ich möchte Ihr Freund sein. Ich kann die richtigen Knöpfe drücken, um Ihnen zu helfen, Sie zu schützen.«

»Vor was?«

»Vor etwas, das niemand je erwartet hätte.«

»Raus damit.«

»In den nächsten dreißig Minuten wird Ihr Bewacherstab verdoppelt werden«, sagte McAllister und sah David dabei scharf an. »Das ist eine Entscheidung, die ich getroffen habe, und ich werde die Sicherheitsvorkehrungen vervierfachen, falls ich das für notwendig halte. Jeder, der neu auf diesem Universitätsgelände eintrifft, wird auf Herz und Nieren untersucht, das Gelände stündlich überprüft. Die Wachen werden nicht länger im Hintergrund bleiben und Sie lediglich im Auge behalten, sondern werden tatsächlich selbst sehr sichtbar sein. Auffällig und wie ich hoffe drohend.«

»Herrgott!« Webb fuhr mit einem Ruck in seinem Sessel vor.

»Carlos!«

»Das glauben wir nicht«, sagte der Mann aus dem Außenministerium und schüttelte den Kopf. »Wir können nicht ausschließen, daß es Carlos ist, aber die Wahrscheinlichkeit ist zu gering. Das wäre zu weit hergeholt.«

»Oh?« David nickte. »Ja, so muß es sein. Wenn es der Schakal wäre, würde das Gelände von Ihren Leuten wimmeln und man würde sie nicht sehen. Sie würden zulassen, daß er sich mir nähert, und ihn dabei schnappen, und wenn ich dabei ums Leben käme, wäre der Preis für Sie erträglich.«

»Nicht für mich. Sie brauchen das nicht zu glauben, aber ich meine das wirklich so.«

»Vielen Dank. Aber wovon reden wir dann?«

»Ihre Akte ist geknackt worden - das heißt, man hat sich Zugang zur Treadstone-Akte verschafft.«

»Zugang? Eine unerlaubte Weitergabe?«

»Zunächst nicht. Die Bewilligung lag vor, weil es eine Krise gab - und in gewissem Sinne hatten wir keine Wahl. Dann kam es zu einer Panne, und jetzt machen wir uns Sorgen. Um Sie.«

»Einzelheiten bitte. Wer hat sich die Akte verschafft?«

»Ein Mann von innen, ziemlich weit oben. Seine Legitimation war einwandfrei, niemand konnte sie in Frage stellen.«

»Wer?«

»Ein Brite von MI-6, von Hongkong aus operierend, ein Mann, auf den die CIA sich seit Jahren verlassen hatte. Er flog nach Washington und ging dort zu seinem Verbindungsmann und bat darum, ihm alles zu geben, was über Jason Borowski vorlag. Er behauptete, in der Kronkolonie gebe es eine Krise, die in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Treadstone-Projekt stehe. Er ließ keinen Zweifel daran, daß er es für das Beste halte, falls Informationen zwischen dem britischen und dem amerikanischen Geheimdienst ausgetauscht wurden, weiterhin ausgetauscht wurden - daß man seine Bitte unverzüglich erfülle.«

»Dafür mußte er doch sicher einen verdammt guten Grund liefern.«

»Das hat er.« McAllister hielt nervös inne, blinzelte ein paarmal und rieb sich dann mit den Fingern die Stirn.

»Nun?«

»Jason Borowski ist zurückgekehrt«, sagte McAllister ruhig. »Er hat wieder zugeschlagen. In Kowloon.«

Marie stöhnte auf; ihre Hand krampfte sch um die rechte Schulter ihres Mannes, und ihre großen, braunen Augen blickten zornig und zugleich verängstigt. Sie starrte den Mann aus dem

Außenministerium stumm an. Webb machte keine Bewegung, sondern studierte McAllister wie eine Kobra.

»Wovon, zum Teufel, reden Sie?« flüsterte er, und dann wurde seine Stimme lauter. »Jason Borowski - jener Jason Borowski - existiert nicht mehr. Es hat ihn nie gegeben!«

»Sie wissen das, und wir wissen es auch, aber in Asien lebt seine Legende noch. Sie haben sie geschaffen, Mr. Webb - nach meiner Ansicht auf brillante Weise.«

»Was weiß man über diesen MI-6-Mann? Wie alt ist er? Welchen Auftrag hat er augenblicklich? Wie sieht seine Personalakte aus? Sie haben sich doch ganz bestimmt genau informiert.«

»Natürlich haben wir das und keinerlei Unregelmäßigkeiten gefunden. London hat uns bestätigt, daß seine Akte ohne Makel ist und daß die Information, die er uns gebracht hat, stimmt. Die Polizei in Hongkong hat ihn als Mitglied des Stabs von MI-6 wegen der Brisanz dieser Ereignisse gerufen. Das Auswärtige Amt hat sich hinter ihn gestellt.«

»Falsch!« schrie Webb und schüttelte den Kopf. Dann senkte er die Stimme. »Man hat ihn umgedreht, Mr. McAllister! Jemand hat ihm ein kleines Vermögen dafür angeboten, sich diese Akte zu beschaffen. Er hat die einzige Lüge eingesetzt, die Aussicht auf Erfolg hatte, und Sie alle haben sie geschluckt!«

»Ich fürchte, es ist keine Lüge - wenigstens nicht, soweit er das wußte. Er hat dem Beweismaterial Glauben geschenkt, und London tut das auch. Es gibt in Asien wieder einen Jason Borowski.«

»Und wenn ich Ihnen jetzt sagte, daß das keineswegs das erstemal wäre, daß man der Zentrale eine Lüge aufgetischt hat, damit ein überarbeiteter, unterbezahlter, mit zu hohem Risiko belasteter Mann umgedreht werden kann. All die Jahre, all die Gefahren, und nichts, was er dafür vorweisen kann. Er entscheidet sich für die eine Chance, die sich ihm bietet, für den

Rest seines Lebens ausgesorgt zu haben. In seinem Fall ist das diese Akte!«

»Wenn das der Fall ist, wird ihm das nicht viel nützen. Er ist tot.«

»Er ist was ...?«

»Man hat ihn vor zwei Tagen in Kowloon erschossen, in seinem Büro, eine Stunde nachdem sein Flugzeug in Hongkong eingetroffen war.«

»Verdammt noch mal, so etwas gibt es nicht!« schrie David verwirrt. »Ein Mann, der zur Gegenseite übergeht, sichert sich ab. Er baut, bevor er handelt, Beweise gegen seinen Wohltäter auf und läßt ihn wissen, daß sein Material in die richtigen Hände gelangen wird, falls irgend etwas Häßliches passiert. Das ist seine Lebensversicherung, die einzige Lebensversicherung, die ihm nützt.«

»Er war sauber«, beharrte der Mann aus dem Außenministerium.

»Oder dumm«, wandte Webb ein.

»Niemand glaubt das.«

»Was glauben die dann!«

»Daß er irgendwelchen außergewöhnlichen Entwicklungen auf der Spur war, hinter etwas her, das zu Gewaltausbrüchen in der Unterwelt von Hongkong und Macao führen konnte. Das organisierte Verbrechen dort ist plötzlich unberechenbar geworden, so ähnlich wie in den Tong-Kriegen in den zwanziger und dreißiger Jahren. Immer mehr Morde. Rivalisierende Banden, die gegeneinander Krieg führen; Hafenbezirke, die zu Schlachtfeldern werden; Lagerhäuser, ja ganze Frachtschiffe, die aus Rache in die Luft gejagt werden, oder um Konkurrenten auszuschalten. Manchmal braucht es dazu bloß ein paar mächtige rivalisierende Gruppen - und einen Jason Borowski im Hintergrund.«

»Aber da es keinen Jason Borowski gibt, ist das Arbeit für die Polizei! Nicht für MI-6.«

»Mr. McAllister hat gerade gesagt, daß ihn die Polizei von Hongkong gerufen hat«, unterbrach Marie und musterte den Staatssekretär scharf. »MI-6 war offensichtlich bereit, sich der Sache anzunehmen. Warum?«

»Das sind die falschen Leute!« David blieb hartnäckig, und sein Atem ging in kurzen Stößen.

»Jason Borowski war kein Produkt der Polizeibehörden«, sagte Marie und trat neben ihren Mann. »Er war ein Produkt des amerikanischen Geheimdienstes, der sich dazu des Außenministeriums bedient hat. Aber ich nehme an, daß MI-6 sich aus einem wesentlich wichtigeren Grund eingeschaltet hat als nur, um einen Killer zu finden, der sich als Jason Borowski ausgibt. Habe ich recht, Mr. McAllister?«

»Sie haben recht, Mrs. Webb. Wesentlich wichtiger. In unseren Gesprächen in den letzten zwei Tagen waren einige Angehörige unserer Abteilung der Ansicht, daß Sie das sehr viel klarer begreifen würden als wir. Wir wollen es einmal ein wirtschaftliches Problem nennen, das zu ernsten politischen Unruhen führen könnte, nicht nur in Hongkong, sondern in der ganzen Welt. Sie waren als volkswirtschaftliche Beraterin der kanadischen Regierung tätig. Sie haben die Botschafter Kanadas und auch kanadische Wirtschaftsdelegationen in der ganzen Welt beraten.«

»Würde es euch beiden etwas ausmachen, das so zu erklären, daß es auch der kapiert, der hier das Geld verdient?«

»Jetzt ist nicht der Zeitpunkt, um Störungen auf dem Markt von Hongkong zuzulassen, Mr. Webb, selbst - und vielleicht ganz besonders - seinem illegalen Markt. Störungen, die im Verein mit Gewalttätigkeit auftreten, vermitteln den Eindruck einer instabilen Regierung, wenn nicht sogar tieferreichender Instabilität. Jetzt ist nicht die Zeit, um den Expansionspolitikern in Rotchina noch mehr Munition zu liefern, als sie bereits haben.«

»Würden Sie das bitte genauer erklären?«

»Die Pachtverträge«, antwortete Marie leise. »Diese Verträge laufen in gut zehn Jahren aus, und deshalb wurden mit Peking neue Vereinbarungen ausgehandelt. Trotzdem ist jeder nervös, alles ist verunsichert, und es wäre besser, wenn niemand weitere Unruhe erzeugt. Alles hängt jetzt davon ab, daß Ruhe und Ordnung gewahrt werden und wenigstens der Anschein von Stabilität erhalten bleibt.«

David sah sie an, und dann wanderte sein Blick wieder zu McAllister zurück. Er nickte. »Ich verstehe. Ich habe gelesen, was in den Zeitungen stand ... aber sehr viel verstehe ich davon trotzdem nicht.«

»Die Interessen meines Mannes liegen anderswo«, erklärte Marie, zu McAllister gewandt. »Ihn interessieren die Menschen und ihre Zivilisationen.«

»Stimmt«, nickte Webb. »Und?«

»Mein Interesse gilt dem Geld, wie man mehr daraus macht, den Transaktionen, der Börse, den Märkten und ihren Schwankungen - der Stabilität oder dem Gegenteil. Und wenn es überhaupt etwas gibt, was das Geld schlechthin verkörpert, dann ist das Hongkong. Geld ist mehr oder weniger die einzige Ware, die es produziert. Einen anderen Daseinszweck hat es nicht. Ohne Geld würden seine Industrien sterben; und dann würde die Pumpe heißlaufen.«

»Und wenn Sie die Stabilität wegnehmen, dann haben Sie das Chaos«, fügte McAllister hinzu. »Und das ist der Vorwand, auf den die alten Kriegsherren in China warten: Die Volksrepublik marschiert ein, um das Chaos zu beseitigen, die Agitatoren zu unterdrücken, und es bleibt nichts übrig als ein schwerfälliger Riese, der den Lebensnerv der ganzen Kolonie zerstört. Die kühleren Köpfe in Beijing werden zugunsten aggressiverer

Elemente ignoriert, die durch militärische Kontrollen ihr Gesicht wahren wollen. Banken brechen zusammen, der Handel im pazifischen Raum wird gelähmt. Chaos.«

»Und das würde China tun?«

»Hongkong, Kowloon, Macao und all die Territorien sind Teil ihrer sogenannten >Großen Nation unter dem Himmele, das steht deutlich in den China vertragen. Das Ganze ist eine Einheit, und Asiaten dulden keine ungehorsamen Kinder, das wissen Sie.«

»Und Sie wollen mir sagen, daß ein Mann, der vorgibt, Jason Borowski zu sein, das tun kann - eine solche Krise herbeiführen? Das glaube ich Ihnen einfach nicht!«

»Ich gebe zu, daß das wie eine Räuberpistole klingt, aber losgehen könnte sie. Sehen Sie, er hat die Legende auf seiner Seite, das ist ein Faktor von geradezu hypnotischen Ausmaßen. Man schreibt ihm zahlreiche Morde zu, und wäre es nur, um die wahren Killer zu schützen - Verschwörer der fanatischen Rechten und Linken, die Borowskis tödliches Image als das ihre nutzen. Wenn Sie einmal darüber nachdenken, dann ist die Legende genau auf diese Weise geschaffen worden, nicht wahr? Jedesmal, wenn jemand von einiger Bedeutung irgendwo im Süden Chinas ermordet wurde, dann haben Sie als Jason Borowski dafür gesorgt, daß man Ihnen den Mord zuschrieb. Als zwei Jahre um waren, waren Sie berühmt und berüchtigt zugleich, wobei Sie tatsächlich doch nur einen Menschen getötet haben, einen betrunkenen Informanten in Macao, der versucht hat, Sie zu erdrosseln.«

»Daran kann ich mich nicht erinnern«, sagte David.

McAllister nickte mitfühlend. »Ja, das hat man mir gesagt. Aber begreifen Sie denn nicht, wenn mächtige Politiker ermordet werden - sagen wir, der Gouverneur der Krone oder ein Abgesandter aus China oder so -, dann gerät die ganze Kolonie in Aufruhr.« McAllister hielt inne und schüttelte müde den Kopf. »Das ist freilich unsere Sorge, nicht die Ihre, und ich kann Ihnen sagen, daß sich die besten Leute, die wir im Geheimdienst haben, damit befassen. Ihre Sorge hat Ihnen zu gelten, Mr. Webb. Und im Augenblick macht mein Gewissen das auch zu meiner Sorge. Sie müssen beschützt werden.«

»Man hätte nie zulassen dürfen, daß irgend jemand diese Akte bekommt«, sagte Marie mit eisiger Stimme.

»Wir hatten keine Wahl. Wir arbeiten mit den Briten eng zusammen; wir mußten beweisen, daß Treadstone erledigt war, abgetan. Daß Ihr Mann Tausende von Meilen von Hongkong entfernt war.«

»Und das haben Sie ihnen gesagt?« schrie Webbs Frau. »Wie konnten Sie es wagen?«

»Wir hatten keine Wahl«, wiederholte McAllister und rieb sich die Stirn. »Wenn es zu gewissen Krisen kommt, müssen wir zusammenarbeiten. Das können Sie doch ganz sicher begreifen.«

»Ich kann nur nicht begreifen, warum es überhaupt je eine Akte über meinen Mann gegeben hat!« sagte Marie wütend.

»Das war notwendig, weil entsprechende Einsätze durch den Kongreß finanziert wurden. Das verlangt das Gesetz.«

»Hören Sie doch auf!« sagte David zornig. »Da Sie so gut über mich Bescheid wissen, wissen Sie auch, woher ich komme. Sagen Sie, wo sind all diese Akten über Medusa?«

»Darauf kann ich keine Antwort geben«, erwiderte McAllister.

»Das haben Sie aber gerade«, sagte Webb.

»Dr. Panov hat Sie - besser gesagt, Ihre Leute - angefleht, alle Treadstone-Aufzeichnungen zu vernichten«, beharrte Marie. »Oder wenigstens falsche Namen zu benutzen. Aber nicht einmal das wollten Sie tun. Was für Menschen sind Sie eigentlich?«

»Ich hätte beides genehmigt!« sagte McAllister, plötzlich überraschend eindringlich. »Es tut mir leid, Mrs. Webb. Sie müssen mir verzeihen. Das war vor meiner Zeit ... Ich bin genau wie Sie sehr verärgert. Vielleicht haben Sie recht, vielleicht hätte es nie eine Akte geben dürfen. Es gibt Möglichkeiten -«

»Blödsinn!« unterbrach ihn David mit hohler Stimme. »Das Ganze ist Teil einer anderen Strategie, einer weiteren Falle. Sie wollen Carlos haben, und es ist Ihnen völlig egal, was für Mittel Sie dazu einsetzen, wenn Sie ihn nur bekommen.«

»Mir ist es nicht egal, Mr. Webb. Und das brauchen Sie mir auch nicht zu glauben. Was ist der Schakal schon für mich - oder die Abteilung Ferner Osten? Er ist ein europäisches Problem.«

»Wollen Sie damit sagen, daß ich drei Jahre meines Lebens damit verbracht habe, einen Mann zu jagen, der überhaupt nichts zu bedeuten hatte?«

»Nein, selbstverständlich nicht. Die Zeiten ändern sich, die Perspektiven ändern sich. Das ist alles manchmal so sinnlos.«

»Großer Gott!«

»Jetzt beruhige dich, David«, sagte Marie und musterte den Mann aus dem Außenministerium, der bleich in seinem Sessel saß und die Hände um die Lehnen gekrampft hatte. »Wir alle sollten uns etwas entspannen.« Und dann sah sie ihren Mann an, und ihr Blick ließ den seinen nicht los. »Heute nachmittag ist doch etwas passiert, oder?«

»Das erzähle ich dir später.«

»Natürlich.« Marie sah McAllister an. Sein Gesicht wirkte plötzlich müde und faltig, älter als noch vor wenigen Minuten.

»Alles, was Sie uns gesagt haben, läuft doch auf irgend etwas hinaus, oder?« fragte sie. »Da ist doch noch etwas, was Sie uns sagen wollen, oder?« »Ja, und es fällt mir nicht leicht. Bitte vergessen Sie nicht, daß man mir den Vorgang erst kürzlich übertragen hat und ich erst seit wenigen Tagen Einblick in Mr. Webbs geheime Akte hatte.«

»Schließt das seine Frau und seine Kinder in Kambodscha ein?«

»Ja.«

»Dann sagen Sie uns bitte, was Sie zu sagen haben.«

Wieder streckten sich McAllisters schmale Finger aus und massierten nervös seine Stirn. »Nach dem, was wir erfahren haben - was London vor fünf Stunden bestätigt hat -, ist es möglich, daß Ihr Mann zur Zielperson geworden ist. Jemand wünscht seinen Tod.«

»Aber nicht Carlos, nicht der Schakal«, sagte Webb und beugte sich vor.

»Nein. Zumindest können wir keine Verbindung erkennen.«

»Was können Sie denn erkennen?« fragte Marie und setzte sich auf Davids Sessellehne. »Was haben Sie erfahren?«

»Der Beamte von MI-6 in Kowloon hatte einer Menge wichtiger Geheimpapiere in seinem Büro, die in Hongkong einen hohen Preis erzielt hätten. Aber man hat nur die Treadstone-Akte - die Akte über Jason Borowski -mitgenommen. Das war die Bestätigung, die London uns geliefert hat. Es ist, als wäre ein Signal ausgeschickt worden: Er ist der Mann, den wir wollen. Nur Jason Borowski.«

»Aber warum?« schrie Marie, und ihre Hand krampfte sich um Davids Handgelenk.

»Weil jemand umgebracht worden ist«, antwortete Webb leise. »Und weil jemand das Konto ausgleichen möchte.«

»Das ist es, woran wir gearbeitet haben«, stimmte McAllister zu und nickte. »Wir sind ein Stück weitergekommen.«

»Wer ist umgebracht worden?« fragte der ehemalige Jason Borowski.

»Ehe ich antworte, sollten Sie wissen, daß alles, was wir haben, aus den Ermittlungen stammt, die unsere Leute in Hongkong alleine angestellt haben. Im großen und ganzen ist das reine Spekulation; Beweise gibt es nicht.«

»Was soll das heißen, >alleinegegeben!«

»Weil sie uns einen Beweis geliefert haben, daß ein Mann im Namen von Treadstone, im Namen eines unserer Geschöpfe, getötet hat. Sie. Sie wollten uns nicht sagen, woher die Informationen von MI-6 stammen, ebensowenig, wie wir ihnen unsere Kontakte nennen würden. Unsere Leute haben rund um die Uhr gearbeitet, jede Möglichkeit erkundet und herauszufinden versucht, wer die V-Leute des toten MI-6-Mannes waren, wobei sie natürlich davon ausgingen, daß einer von ihnen für seinen Tod verantwortlich war. In Macao kam ihnen ein Gerücht zu Ohren, das dann mehr als ein Gerücht war.«

»Noch einmal«, sagte Webb. »Wer ist umgebracht worden?«

»Eine Frau«, antwortete der Mann aus dem Außenministerium. »Die Frau eines Bankiers in Hongkong namens Yao Ming, eines Taipan, dessen Bank nur einen Teil seines Reichtums ausmacht. Er hat so viel, daß man ihn in Beijing mit offenen Armen empfangen hat, sowohl als Investor als auch als Berater. Er ist einflußreich, mächtig, und niemand kommt an ihn heran.«

»Einzelheiten des Mordes?«

»Häßlich, aber nicht ungewöhnlich. Seine Frau war eine kleine Schauspielerin, die in ein paar Filmen der Shaw-Brüder auftrat, und etliches jünger als ihr Mann. Sie war ihm treu wie ein Nerz in der Paarungszeit, wenn Sie mir nachsehen, daß -«

»Bitte«, sagte Marie, »fahren Sie fort.«

»Aber ihn hat das nicht gestört; sie war für ihn so etwas wie eine junge, schöne Trophäe. Außerdem gehörte sie dem Jet-set der Kolonie an, und darin gibt es natürlich auch unappetitliche Typen. Da wird ein Wochenende um riesige Einsätze in Macao gespielt, am nächsten Wochenende stehen die Rennen in Singapur auf dem Plan, oder man fliegt auf die Pescadores zu den Pistolenspielen in den Opiumhäusern und wettet Tausende auf die Männer, die einander an den Spieltischen gegenübersitzen und die Magazine kreisen lassen und aufeinander zielen. Und zu allem natürlich jede Menge Rauschgift. Ihr letzter Liebhaber war ein Dealer - besser gesagt, ein Großhändler. Seine Lieferanten saßen in Guangzhou, und seine Routen lagen östlich der Lok-Ma-Chau-Grenze.«

»Wenn ich recht unterrichtet bin, ist das eine ziemlich breite Straße mit viel Verkehr«, unterbrach Webb. »Warum haben Ihre Leute sich auf ihn - oder seine Machenschaften - konzentriert?«

»Weil seine Machenschaften, wie Sie das richtig nennen, seine Konkurrenten systematisch auszuschalten drohten, indem er die chinesischen Marinestreifen bestach, ihre Boote zu versenken und die Mannschaften zu beseitigen. Der Zahl der Erschossenen nach, die man an den Ufern fand, ist ihm das auch gelungen. Es war der reine Krieg, und der Großhändler - der Liebhaber der jungen Frau - stand auf der Hinrichtungsliste.«

»Unter diesen Umständen muß er doch gewußt haben, daß er in Gefahr war. Er muß sich doch mit einem Dutzend Leibwächter umgeben haben.«

»Stimmt. Und diese Sicherheitsvorkehrungen verlangen nach einer Legende. Seine Feinde haben jene Legende angeheuert.«

»Borowski«, flüsterte David. Er schüttelte den Kopf und schloß die Augen.

»Ja«, nickte McAllister. »Vor zwei Wochen sind der Rauschgifthändler und You Mings Frau in ihrem Bett im Lisboa-Hotel in Macao erschossen worden. Aber nicht einfach mit einer glatten Kugel; man konnte die Leichen kaum identifizieren. Als Waffe wurde eine Uzi-Maschinenpistole benutzt. Der Zwischenfall wurde vertuscht - Polizei und Regierungsbeamte waren mit dem Geld eines Taipan bestochen.«

»Lassen Sie mich raten«, sagte Webb monoton. »Die Uzi. Das war die Waffe, die bei einem früheren Mord benutzt wurde, den man Borowski in die Schuhe schiebt.«

»Genau diese Waffe wurde vor dem Hinterzimmer eines Varietes im Kowlooner Stadtviertel Tsim Sha Tsui gefunden. Im Zimmer fand man fünf Leichen, wovon drei der Opfer zu den bedeutendsten Geschäftsleuten der Kolonie gehörten. Einzelheiten wollten uns die Briten nicht wissen lassen; sie haben uns nur ein paar höchst detaillierte Fotos gezeigt.«

»Dieser Taipan, Yao Ming«, sagte David. »Der Mann der Schauspielerin. Er ist die Verbindung, auf die Ihre Leute gestoßen sind, nicht wahr?«

»Sie haben erfahren, daß er einer der V-Leute von MI-6 war. Mit seinen Verbindungen in Beijing war er sehr wertvoll.«

»Und dann ist natürlich seine Frau umgebracht worden, seine geliebte junge Frau -«

»Ich würde sagen, seine geliebte Trophäe«, unterbrach McAllister, »man hat ihm seine Trophäe genommen.«

»Also gut«, sagte Webb. »Die Trophäe ist viel wichtiger als die Frau.«

»Ich habe jahrelang im Fernen Osten gelebt. Es gibt da einen Satz - in Mandarin, glaube ich, aber ich erinnere mich nicht genau an den Wortlaut.«

»Ren you jiagian«, sagte David. »Der Preis für das Image eines Mannes.«

»Ja, genau.«

»Also geht der Taipan zu dem Mann von MI-6 und verlangt von ihm, er soll die Akte über Jason Borowski besorgen, diesen Meuchelmörder, der seine Frau - seine Trophäe - getötet hat. Andernfalls gäbe es keine Informationen mehr von seinen Gewährsleuten in Beijing für den britischen Geheimdienst.«

»So haben unsere Leute das auch gesehen. Und für seine Mühe wird der MI-6-Mann getötet, weil Yao Ming es sich nicht leisten kann, daß auch nur die geringste Verbindung zu Borowski hergestellt wird. Der Taipan muß unerreichbar, unantastbar bleiben. Er will seine Rache haben, aber nicht in Gefahr geraten.«

»Was sagen die Briten?« fragte Marie.

»Ganz klar und eindeutig: daß wir uns aus der Sache heraushalten sollen. Wir haben mit Treadstone Mist gebaut, und sie wollen in so schwierigen Zeiten nicht durch unsere Ungeschicklichkeit in Hongkong behindert sein.«

»Haben sie Yao Ming gestellt?« Webb beobachtete den Staatssekretär aus zusammengekniffenen Augen.

»Als ich seinen Namen erwähnte, sagten sie, das käme nicht in Frage. Sie waren tatsächlich beunruhigt, aber das hat sie nicht umgestimmt, sie wurden eher noch ungehaltener.«

»Unantastbar«, sagte David.

»Wahrscheinlich wollen sie ihn weiterhin benutzen.«

»Trotz dem, was er getan hat?« unterbrach ihn Marie. »Was er vielleicht getan hat und was er möglicherweise meinem Mann antun könnte?«

»Das ist eine völlig andere Welt«, sagte McAllister leise.

»Sie haben mit ihnen zusammengearbeitet -«

»Das mußten wir«, unterbrach McAllister.

»Dann verlangen Sie, daß sie auch mit Ihnen zusammenarbeiten.«

»Dann könnten sie von uns anderes verlangen. Das können wir nicht.«

»Alles Lügner!« Marie wandte sich angewidert ab.

»Ich habe Sie nicht belegen, Mrs. Webb.«

»Warum glaube ich Ihnen eigentlich nicht, warum habe ich kein Vertrauen zu Ihnen, Mr. McAllister?« fragte David.

»Wahrscheinlich, weil Sie kein Vertrauen zu Ihrer Regierung haben, Mr. Webb. Und auch wenig Anlaß dazu. Ich kann Ihnen nur sagen, daß ich ein Gewissen habe. Das können Sie akzeptieren oder nicht - Sie können mich akzeptieren oder nicht. Aber ich werde dafür sorgen, daß Ihnen nichts geschieht.«

»Sie sehen mich so eigenartig an - warum?«

»Weil ich noch nie in einer solchen Lage war.«

Die Türglocke schlug an, und Marie schüttelte den Kopf, stand auf und ging schnell durchs Zimmer und in den Vorraum hinaus. Sie öffnete die Tür. Einen Augenblick lang hielt sie den Atem an und starrte hilflos auf die zwei Männer, die ihr gegenüberstanden. Jeder hielt ein Plastiketui mit einer silbernen Plakette in der Hand, auf der ein Adler eingeprägt war, in dem sich das Licht der Kutschenlampen rieben der Tür spiegelte. Auf der Straße stand eine dunkle Limousine, in der man die Silhouetten weiterer Männer erkennen konnte, und das Glühen von Zigaretten - weitere Männer, weitere Bewacher. Sie wollte schreien, aber sie tat es nicht.

Edward McAllister stieg in seinen Dienstwagen und blickte durch das geschlossene Fenster auf David Webb unter der Tür. Der ehemalige Jason Borowski stand reglos da, und seine Augen blickten starr seinem Besucher nach.

»Verschwinden wir hier«, sagte McAllister zu dem Fahrer, einem Mann mit Stirnglatze, der etwa so alt war wie er und eine Hornbrille trug.

Der Wagen setzte sich langsam in Bewegung und rollte vorsichtig über die schmale, von Bäumen gesäumte Straße, die nur eine Grundstücksbreite von dem felsigen Strand entfernt war.

Ein paar Minuten lang sagte keiner der beiden Männer ein Wort; schließlich fragte der Fahrer:

»Wie ist es denn gelaufen?«

»Wie es gelaufen ist?« antwortete der Mann aus dem Außenministerium.

»Der Botschafter würde vielleicht sagen: >Alle Figuren sind aufgestellt.< Das Fundament ist gelegt, die Missionsarbeit ist getan.«

»Das freut mich.«

»Wirklich? Dann freut es mich auch.« McAllister hob die rechte Hand; sie zitterte. Dann strichen seine dünnen Finger über die rechte Schläfe. »Nein, es freut mich nicht!« sagte er plötzlich. »Mir ist speiübel!«

»Das tut mir leid -«

»Und weil wir schon von Missionsarbeit sprechen, ich bin ein Christ. Will sagen: ich glaube - nichts, was so schick ist, daß ich ein Eiferer wäre oder an die Wiedergeburt glaubte oder daß ich in der Sonntagsschule lehre oder in der Kirche auf den Knien liege, aber ich glaube. Meine Frau und ich gehen wenigstens zweimal im Monat in die Episkopalkirche, und meine zwei Söhne sind Ministranten. Ich bin großzügig, weil ich das sein möchte. Können Sie das verstehen?«

»Sicher. Ich empfinde nicht so wie Sie, aber ich kann das verstehen.«

»Aber ich bin gerade aus dem Haus dieses Mannes herausgegangen!«

»He, immer mit der Ruhe! Was ist denn?«

McAllister sah starr geradeaus, und die Scheinwerfer der entgegenkommenden Fahrzeuge huschten über sein Gesicht. »Gott sei meiner Seele gnädig«, flüsterte er.

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