Die Sonne versank hinter den Sangre-de-Cristo-Bergen in Zentral-Colorado, während der Cobra-Helikopter aus dem grellen Lichtschein heranschoß - eine mächtige Silhouette - und dann stotternd auf den Waldrand zu heruntersank. Der Betonlandestreifen war gut hundert Meter von einem großen, rechteckigen Haus aus schwerem Holz und dickem Glas entfernt. Außer Generatoren und getarnten Satellitenantennen waren keine Einzelheiten zu erkennen. Hohe Bäume bildeten eine dichte Wand und schirmten das Haus vor ungebetenen Blicken ab. Die Piloten der äußerst wendigen Hubschrauber rekrutierten sich aus dem Offizierskorps des CheyenneKomplexes in Colorado Springs. Keiner hatte einen niedrigeren Rang als den eines Colonels, und jeder einzelne war vom Nationalen Sicherheitsrat in Washington überprüft und freigestellt worden. Über ihre Flüge zu dem geheimen Ort in den Bergen sprachen sie nie, und ihr Bestimmungsort wurde auf den Flugplänen stets unkenntlich gemacht. Ihre eigentlichen Einsatzorders erhielten sie über Funk erst dann, wenn sich ihre Hubschrauber in der Luft befanden. Die Anlage war auf den der Öffentlichkeit zugänglichen Landkarten nicht verzeichnet, und ihre Fernmeldeanlagen waren weder für Verbündete noch Feinde zugänglich. Totale Sicherheit also, so, wie es sein mußte. Dies war ein Ort für Strategen, deren Arbeit von so eminenter Bedeutung für die ganze Welt war, daß man die Planer weder außerhalb der Regierungsgebäude noch in den Gebäuden selbst zusammen sehen durfte, und ganz sicher auch nie in nebeneinanderliegenden Büros mit Verbindungstüren. Überall gab es neugierige Augen - von Freund und Feind -, die von der Arbeit dieser Männer wußten. Und wenn man sie zusammen beobachtete, so würde das dazu führen, daß Alarm ausgelöst wurde. Der Feind war wachsam, und die Verbündeten hielten eifersüchtig Wacht über ihre eigenen Abwehrfürsten.
Die Türen der Cobra gingen auf. Eine stählerne Leiter klappte herunter, und ein sichtlich verwirrter Mann kletterte ins Scheinwerferlicht heraus. Ein Generalmajor in Uniform begleitete ihn. Der Zivilist war ein Mann in mittleren Jahren, schlank und mittelgroß, in Nadelstreifenanzug mit weißem Hemd und einer Krawatte in Paisley-Muster. Selbst im Wind der Rotorblätter wirkte er wie aus dem Ei gepellt, so als ginge ihm ein makelloses Aussehen über alles. Er folgte dem Offizier einen mit Betonplatten belegten Weg hinunter auf das Haus zu. Die Tür öffnete sich vor den beiden Männern. Aber nur der Zivilist trat ein; der General nickte eine jener formlosen Ehrenbezeigungen, wie sie unter alten Soldaten für Nichtmilitärs und Offiziere des eigenen Ranges üblich sind.
»Nett, Ihre Bekanntschaft gemacht zu haben, Mr. McAllister«, sagte der General. »Jemand anders wird Sie zurückbringen.«
»Sie kommen nicht mit herein?« fragte der Zivilist.
»Ich bin noch nie drin gewesen«, erwiderte der Offizier und lächelte. »Ich vergewissere mich nur Ihrer Identität und bringe Sie von Punkt B nach Punkt C.«
»Scheint mir eine Vergeudung hohen Ranges, General.«
»Ist es wahrscheinlich nicht«, meinte der Soldat, ohne weiter darauf einzugehen. »Aber ich habe natürlich auch andere Pflichten. Wiedersehn!«
McAllister trat ein und befand sich in einem langen, vertäfelten Korridor. Er wurde jetzt von einem freundlich blickenden, gutgekleideten, breitschultrigen Mann begleitet, dem man den Sicherheitsbeamten ansah - körperlich schnell und fähig, in jeder Menschenmenge unterzutauchen.
»Hatten Sie einen angenehmen Flug, Sir?« fragte der jüngere Mann.
»Hat man das in diesen Kisten je?«
Der andere lachte. »Hier entlang, bitte, Sir.«
Sie gingen den Korridor hinunter, an einigen Türen vorbei, bis ans Ende mit größeren Doppeltüren und zwei roten Lichtern in der linken und rechten oberen Ecke: separat geschalteten Kameras. Edward McAllister hatte solche Anlagen nicht mehr gesehen, seit er vor zwei Jahren Hongkong verlassen hatte; und auch damals nur, weil er kurze Zeit für die britische Abwehr MI-6, Special-Branch, als Berater tätig gewesen war. In bezug auf Sicherheit hatten die Briten auf ihn immer paranoid gewirkt. Er hatte diese Leute nie begriffen, ganz besonders dann nicht mehr, als sie ihm wegen seiner minimalen Beteiligung an Sachen, die sie fest im Griff hätten haben sollen, einen Orden verliehen hatten. Sein Begleiter klopfte an die Tür. Ein leises Klicken war zu hören, dann öffnete er die rechte Türhälfte.
»Ihr anderer Gast, Sir«, sagte der breitschultrige Mann.
»Vielen Dank«, erwiderte eine Stimme. Der erstaunte McAllister erkannte sie sofort aus Dutzenden von Radio- und Fernsehsendungen über viele Jahre. Da war der Tonfall einer teuren Schule und einiger Universitäten von Rang und schließlich das Produkt einer längeren Tätigkeit auf den Britischen Inseln. Aber es blieb ihm keine Zeit zur Reaktion. Der grauhaarige, makellos gekleidete Mann mit dem von Furchen durchzogenen, schmalen Gesicht, das an seinen reichlich siebzig Jahren keinen Zweifel ließ, erhob sich hinter seinem großen Schreibtisch und ging mit ausgestreckter Hand auf sie zu. »Herr Staatssekretär, sehr liebenswürdig von Ihnen, daß Sie gekommen sind. Darf ich mich vorstellen? Ich bin Raymond Havilland.«
»Ich kenne Sie sehr wohl, Herr Botschafter. Das ist eine hohe Ehre für mich, Sir.«
»Botschafter ohne Portefeuille, McAllister, und das bedeutet, daß gar nicht so viel Ehre übriggeblieben ist. Aber immerhin noch Arbeit.«
»Ich kann mir nicht vorstellen, wie irgendein Präsident der Vereinigten Staaten die letzten zwanzig Jahre ohne Sie überleben konnte.«
»Einige haben sich durchgewurschtelt, Herr Staatssekretär; aber mit Ihrer Erfahrung, vermute ich, wissen Sie das besser als ich.« Der Diplomat sah sich um. »Ich möchte Sie gern mit Jack Reilly bekannt machen. Jack ist einer von diesen hervorragend informierten Leuten im Nationalen Sicherheitsrat, von denen wir gar nichts wissen dürften. Aber eigentlich jagt er einem überhaupt keine Angst ein - oder?«
»Das will ich doch hoffen«, sagte McAllister und ging auf Reilly zu, der sich aus einem der zwei ledernen Besuchersessel erhoben hatte. »Nett, Ihre Bekanntschaft zu machen, Mr. Reilly.«
»Herr Staatssekretär«, sagte der etwas dickleibige Mann mit den roten Haaren und der mit Sommersprossen bedeckten Stirn. Die Augen hinter seiner Nickelbrille strahlten keine Freundlichkeit aus - sie waren scharf und kalt.
»Mr. Reilly ist hier«, fuhr Havilland fort und begab sich wieder hinter seinen Schreibtisch, »um dafür zu sorgen, daß ich keine Dummheiten mache.« Mit einer Handbewegung bot er McAllister den Sessel zu seiner Rechten an. »So wie ich das begreife, bedeutet das, daß es einige Dinge gibt, die ich sagen darf, und andere, die ich nicht sagen darf, und bestimmte Dinge, die nur er sagen darf.« Der Botschafter setzte sich. »Wenn Ihnen das rätselhaft erscheint, Herr Staatssekretär, so muß ich Ihnen leider gestehen, daß ich im Augenblick nicht mehr anzubieten habe.«
»Alles, was sich in den letzten fünf Stunden ereignet hat, ehe ich den Befehl erhielt, mich zum Luftwaffenstützpunkt Andrews zu begeben, war ziemlich rätselhaft, Herr Botschafter. Ich habe keine Ahnung, weshalb man mich hierhergebracht hat.«
»Dann gestatten Sie mir, daß ich Ihnen das in etwa erkläre«, sagte der Diplomat, warf Reilly einen Blick zu und lehnte sich über seinen Schreibtisch nach vorn. »Sie befinden sich in einer Position, in der Sie Ihrem Land einen außergewöhnlichen Dienst erweisen - und Interessen, die weit über dieses Land hinausgehen - in einem Maße, das alles übersteigt, was Sie sich vielleicht während Ihrer langen, ausgezeichneten Laufbahn träumen lassen.«
McAllister musterte das aristokratische Gesicht des Botschafters und wußte nicht recht, wie er antworten sollte. »Meine Laufbahn im Außenministerium hat mich sehr befriedigt und war, wie ich hoffe, auch professionell, man kann sie aber wohl kaum auch nur im weitesten Sinne als hervorragend bezeichnen. Um es ganz offen zu sagen, hat sich dafür nie eine Gelegenheit geboten.«
»Jetzt hat sich Ihnen aber eine geboten«, unterbrach Havilland. »Und Sie sind in einmaliger Weise dazu qualifiziert, diese Gelegenheit zu ergreifen.«
»In welcher Weise? Warum?«
»Der Ferne Osten«, sagte der Diplomat mit eigenartiger Betonung, als könnte die Antwort selbst eine Frage sein. »Sie haben dem Außenministerium mehr als zwanzig Jahre lang angehört, seit Sie in Harvard Ihren Doktor in Orientalistik gemacht haben. Sie haben Ihrer Regierung viele Jahre im auswärtigen Dienst in Asien in höchst lobenswerter Weise gedient, und seit Sie von Ihrem letzten Posten zurückgekehrt sind, haben sich Ihre Ratschläge für die Formulierung der Politik in jenem geplagten Teil der Welt als außergewöhnlich wertvoll erwiesen. Sie gelten als brillanter Analytiker.«
»Ich weiß das, was Sie sagen, zu schätzen - aber in Asien waren auch andere. Viele andere, die gleiche und auch höhere Positionen als ich eingenommen haben.«
»Zufälligkeiten, Herr Staatssekretär. Wir wollen offen sein: Sie haben Ihre Sache gut gemacht.«
»Aber was unterscheidet mich von den anderen? Warum eigne ich mich bei dieser Gelegenheit besser als sie?«
»Weil Ihnen als Spezialist für die inneren Angelegenheiten der Volksrepublik China keiner das Wasser reichen kann - ich glaube, Sie haben in der Handelskonferenz zwischen Washington und Peking eine entscheidende Rolle gespielt. Außerdem hat keiner von den anderen sieben Jahre in Hongkong verbracht.« An dieser Stelle machte Raymond Havilland eine kurze Pause und fügte dann hinzu: »Schließlich ist keiner unserer Mitarbeiter in Asien je vom MI-6 der britischen Regierung dort unten akzeptiert worden.«
»Ich verstehe«, sagte McAllister und begriff, daß jene letzte Qualifikation, die ihm als die unwichtigste erschienen war, für den Diplomaten eine gewisse Bedeutung hatte. »Meine Arbeit beim Nachrichtendienst war unbedeutend, Herr Botschafter. Daß der MI-6 mich akzeptiert hat, beruht eher auf dem - äh -geringen Informationsstand jener Behörde als auf besonderen Talenten meiner Person. Diese Leute hatten sich einfach die falschen Fakten herausgesucht und daraus eine Summe gebildet, die keinen Sinn ergab. Es dauerte nicht lange, um die >korrekten Zahlen< zu finden, wie Sie das formulierten.«
»Sie haben Ihnen vertraut, McAllister. Sie vertrauen Ihnen immer noch.«
»Ich nehme an, daß jenes Vertrauen für diese Gelegenheit -worin auch immer sie bestehen mag - von besonderer Bedeutung ist.«
»In sehr hohem Maße. Von vitaler Bedeutung sogar.«
»Darf ich dann erfahren, was das für eine Gelegenheit ist?«
»Das dürfen Sie.« Havilland warf dem Mann vom Nationalen Sicherheitsrat einen Blick zu. »Falls Sie das wollen«, fügte er hinzu.
»Also bin ich jetzt an der Reihe«, sagte Reilly nicht unfreundlich. Er verlagerte sein Gewicht in dem Sessel und sah McAllister an, mit Augen, die immer noch starr waren, aber jetzt nicht mehr die Kälte wie vorher ausstrahlten - so als würde er jetzt um Verständnis bitten wollen. »Im Augenblick wird alles, was wir hier sprechen, aufgezeichnet - Sie haben das verfassungsmäßige Recht, das zu wissen - aber das ist ein zweiseitiges Recht. Sie müssen sich an Eides Statt verpflichten, die Ihnen hier vermittelte Information absolut geheimzuhalten, nicht nur im Interesse der nationalen Sicherheit, sondern auch im weiteren und mutmaßlich größeren Interesse einer ganz speziellen Weltlage. Ich weiß, daß das so klingt, als wollte ich Ihnen damit Appetit machen, aber so ist es nicht gemeint. Wir meinen es wirklich ernst. Nehmen Sie die Bedingung an? Wenn Sie den Eid verletzen, können Sie vor Gericht gestellt werden -Geheimprozeß unter den Statuten der nationalen Sicherheit.«
»Wie kann ich eine solche Bedingung annehmen, wenn ich keine Ahnung habe, worin die Information besteht?«
»Weil ich Ihnen einen kurzen Überblick geben kann, der es Ihnen ermöglichen wird, ja oder nein zu sagen. Wenn Sie nein sagen, wird man Sie aus diesem Raum geleiten und nach Washington zurückfliegen. Niemand wird dabei etwas verlieren.«
»Fahren Sie fort.«
»Gut«, sagte Reilly ruhig. »Sie werden über gewisse Ereignisse sprechen müssen, die in der Vergangenheit stattgefunden haben - nicht in der fernen, historischen Vergangenheit, aber auch ganz bestimmt nicht in den letzten Monaten. Die Vorgänge selbst sind dementiert worden - oder, um es genauer zu sagen, begraben. Klingt das vertraut, Herr Staatssekretär?«
»Ich bin Mitarbeiter des Außenministeriums. Wir vergraben die Vergangenheit, wenn es keinen vernünftigen Zweck erfüllt, sie zu enthüllen. Umstände ändern sich. Entscheidungen, die gestern guten Glaubens gefällt wurden, sind morgen oft ein Problem. Wir können diese Veränderungen ebensowenig wie die Sowjets oder die Chinesen kontrollieren.«
»Wohlgesprochen!« sagte Havilland.
»Nein, bis jetzt noch nicht«, wandte Reilly ein und hob die Hand. »Der Herr Staatssekretär ist sichtlich ein erfahrener Diplomat - er hat weder ja noch nein gesagt.« Der Mann vom Sicherheitsrat sah McAllister erneut an, und die Augen hinter den Brillengläsern waren wieder scharf und kalt. »Also, wie steht's, Herr Staatssekretär? Wollen Sie mitmachen - oder wollen Sie gehen?«
»Ein Teil von mir möchte aufstehen und, so schnell ich kann, weggehen«, sagte McAllister und sah die beiden Männer abwechselnd an. »Der andere Teil will bleiben.« Er hielt inne, und sein Blick saugte sich an Reilly fest. Und dann fügte er hinzu: »Ob das nun Ihre Ansicht war oder nicht - Sie haben mich neugierig gemacht.«
»Sie müssen für Ihre Neugierde einen verdammt hohen Preis bezahlen«, erwiderte der Ire.
»Das ist es nicht allein«, meinte der Staatssekretär leise. »Ich bin ein Profi. Und wenn ich der Mann bin, den Sie haben wollen, dann habe ich doch in Wirklichkeit keine Wahl - oder?«
»Ich muß leider darauf bestehen, daß Sie es aussprechen«, sagte Reilly. »Soll ich Ihnen vorsprechen?«
»Das ist nicht nötig.« McAllister runzelte nachdenklich die Stirn und sagte dann: »Ich, Edward Newington McAllister, bin mir völlig darüber im klaren, daß alles, was während dieser Besprechung gesagt wird -« Er hielt inne und sah Reilly an. »Ich nehme an, Sie werden Einzelheiten hinzufügen, also Zeit und Ort und Anwesende?«
»Datum, Ort, Stunde und Minute Ihres Eintritts und
Identifikation - das ist alles bereits geschehen und registriert.«
»Danke! Ich möchte eine Kopie, ehe ich hier weggehe.«
»Selbstverständlich.« Ohne die Stimme zu erheben, blickte Reilly vor sich und erteilte leise eine Anordnung: »Bitte, notieren. Kopie dieses Bandes für Subjekt bei Abreise
bereithalten, ebenso die notwendigen Geräte, die ihm die
Möglichkeit verschaffen, den Inhalt hier zu überprüfen. Ich
werde die Kopie abzeichnen ... Fahren Sie fort, Mr. McAllister.«
»Ich danke Ihnen ... In bezug auf alles, was bei dieser Unterredung gesagt wird, akzeptiere ich die Bedingung der Nichtweitergabe. Ich werde niemandem gegenüber über irgendwelche Punkte dieser Unterhaltung sprechen, sofern ich nicht dazu persönliche Anweisung von Botschafter Havilland erhalte. Außerdem ist mir bewußt, daß ich im Falle von Zuwiderhandlungen vor Gericht gestellt werden kann. Für den Fall, daß es zu einem solchen Verfahren kommen sollte, behalte ich mir allerdings das Recht vor, mich nur meinen Anklägern persönlich und nicht etwa ihren Aussagen oder Niederschriften zu stellen. Ich füge das hinzu, da ich mir keine Umstände vorstellen kann, unter denen ich den soeben geleisteten Eid verletzen können oder wollen sollte.«
»Es gibt solche Umstände, sollten Sie wissen«, sagte Reilly ruhig.
»Nicht bei mir.«
»Extreme körperliche Folter, Chemikalien oder irgendwelche raffinierten Machenschaften von Männern oder Frauen, die wesentlich erfahrener als Sie sind. Es gibt solche Mittel und Wege, Herr Staatssekretär.«
»Ich wiederhole: Sollte mir je ein Prozeß gemacht werden -und das ist schon anderen widerfahren -, behalte ich mir das
Recht vor, mich persönlich allen und jedem Ankläger zu stellen.«
»Das reicht uns.« Wieder blickte Reilly geradeaus und sagte: »Schließen Sie dieses Band ab und ziehen Sie den Stecker heraus. Bestätigen.«
»Bestätigt«, sagte eine gespenstische Stimme aus einem Lautsprecher irgendwo an der Decke. »Sie sind jetzt ... draußen.«
»Fahren Sie fort, Herr Botschafter«, sagte der Rothaarige. »Ich werde Sie nur unterbrechen, wenn ich das für notwendig halte.«
»Ganz sicher werden Sie das, Jack.« Havilland wandte sich McAllister zu. »Ich nehme das zurück, was ich vorher gesagt habe; er ist wirklich schrecklich. Nach vierzig Dienstjahren sagt mir da ein rothaariger Grashüpfer, der eigentlich eine Entfettungskur machen sollte, wann ich den Mund halten soll.«
Die drei Männer lächelten; der alte Diplomat wußte, wann und wie man Spannungen abbaute. Reilly schüttelte den Kopf und hob beide Hände. »Das würde ich niemals tun, Sir -jedenfalls nicht so offensichtlich.«
»Was meinen Sie, McAllister? Laufen wir doch nach Moskau über und sagen, er hätte uns angeworben. Der Iwan würde uns beiden wahrscheinlich Datschas geben, und Reilly würde dann in Leavenworth sitzen.«
»Sie würden die Datscha bekommen, Herr Botschafter. Ich würde mir mit zwölf Sibiriern eine Wohnung teilen müssen. Nein, danke, Sir. Mich wird er nicht unterbrechen.«
»Sehr gut. Mich wundert bloß, daß keiner dieser wohlmeinenden Kurpfuscher im Oval Office Sie sich je für seinen Stab geschnappt hat - oder Sie wenigstens in die UN geschickt hat.«
»Die wußten ja nicht, daß es mich gibt.«
»Das wird sich allerdings ändern«, sagte Havilland, plötzlich ernst werdend. Dann hielt er inne, starrte den Staatssekretär an und senkte die Stimme. »Haben Sie je den Namen Jason Borowski gehört?«
»Wie könnte irgend jemand, der in Asien tätig war, diesen Namen nicht gehört haben?« fragte McAllister verblüfft. »Fünfunddreißig bis vierzig Morde - der bezahlte Meuchelmörder, der sich jeder Falle entwunden hat, die man ihm je gestellt hat. Ein pathologischer Killer, dessen einzige Moral im Preis des einzelnen Mordes bestand. Es heißt, er sei Amerikaner gewesen - sei Amerikaner; ich weiß nicht - er ist irgendwie untergetaucht -, und er sei ein abtrünniger Priester gewesen und ein Importeur, der Millionen gestohlen habe, und ein Deserteur der französischen Fremdenlegion. Und der Himmel allein weiß, wie viele andere Geschichten sonst noch über ihn in Umlauf sind. Das einzige, was ich mit Sicherheit weiß, ist, daß man ihn nie gefangen hat und daß das unsere Diplomatie überall im Fernen Osten schwer belastet hat.«
»Gab es irgendein Schema für seine Opfer?«
»Nein, das gab es nicht. Alles geschah ganz willkürlich. Zwei Bankiers hier, drei Attaches dort - also CIA; ein Staatsminister aus Delhi, ein Industrieller aus Singapur und zahlreiche - viel zu viele - Politiker, im wesentlichen anständige Männer. Man hat ihre Autos auf der Straße in die Luft gejagt, ihre Wohnungen in die Luft gesprengt. Dann gab es ungetreue Ehemänner und Frauen und Liebhaber der verschiedensten Art in verschiedenen Skandalen; er bot Endlösungen für verletzte Eitelkeiten. Keiner war sicher vor ihm; keine Methode war ihm zu brutal oder zu niederträchtig ... Nein, ein Schema hat es nicht gegeben, nur Geld. Er stand immer dem Höchstbietenden zur Verfügung. Er war ein Monstrum - ist ein Monstrum, wenn er noch am Leben ist.«
Wieder beugte sich Havilland vor, und seine Augen musterten McAllister scharf. »Sie sagen, er sei untergetaucht. Einfach so?
Ist Ihnen nie irgend etwas zugetragen worden - keine Gerüchte von unseren Botschaften in Asien oder den Konsulaten?«
»Natürlich wurde geredet, aber Bestätigungen gab es nie. Die Geschichte, die ich am häufigsten hörte, kam von der Polizei in Macao, wo Borowski angeblich zuletzt gesehen wurde. Es hieß, er sei nicht tot und habe sich auch nicht zurückgezogen, sondern sei nach Europa gegangen, um sich dort wohlhabendere Klienten zu suchen. Wenn das stimmt, könnte das
möglicherweise nur die Hälfte der Geschichte sein. Die Polizei behauptete auch, sie habe von Informanten gehört, daß Borowski ein paar Kontrakte schiefgelaufen seien; daß er in einem Fall den falschen Mann getötet habe, eine führende Persönlichkeit in der Unterwelt von Malaysia. Und in einem anderen Fall heißt es, er habe die Frau eines Klienten
vergewaltigt. Vielleicht wurde ihm das Pflaster zu heiß -vielleicht aber auch nicht.«
»Was wollen Sie damit sagen?«
»Die meisten von uns haben die erste Hälfte der Geschichte geglaubt, aber die zweite nicht. Borowski würde niemals den falschen Mann umbringen, ganz besonders nicht so jemanden; solche Fehler machte er nicht. Und wenn er die Frau eines
Klienten vergewaltigt hat - was höchst zweifelhaft ist -, dann
hätte er das aus Haß getan oder um sich zu rächen. Aber dann hätte er den Mann gefesselt und gezwungen, dabei zuzusehen, und sie beide umgebracht. Nein, die meisten von uns hielten mehr von der ersten Version. Er ist nach Europa gegangen, wo es größere Fische zu fangen gab - und zu ermorden.«
»Diese Version sollten Sie auch glauben«, sagte Havilland und lehnte sich in seinem Sessel zurück.
»Wie bitte?«
»Der einzige Mann, den Jason Borowski je nach Vietnam in Asien getötet hat, war ein wütender V-Mann, der ihn umzulegen versuchte.«
Verblüfft starrte McAllister den Diplomaten an. »Das verstehe ich nicht.«
»Der Jason Borowski, den Sie gerade beschrieben haben, hat nie existiert. Er war ein Mythos.«
»Das kann nicht Ihr Ernst sein.«
»Ist es aber. Die Zeiten im Fernen Osten waren damals turbulent. Die Rauschgiftnetze, die vom Goldenen Dreieck aus operierten, führten einen chaotischen Krieg, der nie durchschaut wurde. Konsule, Vizekonsule, Polizei, Politiker, Gangsterbanden, Grenzpatrouillen - sie alle waren darin verwickelt. Geld, und zwar unvorstellbare Beträge, waren die Muttermilch der Korruption. Und jedesmal und überall, wenn es zu einem solch aufsehenerregenden Mord kam - ganz gleich, wie die Umstände waren und wem man die Schuld gab -, war Borowski zur Stelle und behauptete, er sei der Täter gewesen.«
»Er war der Täter«, beharrte McAllister etwas verwirrt. »Da waren doch die Zeichen - seine Zeichen. Jeder wußte es!«
»Jeder nahm es an, Herr Staatssekretär. Ein spöttischer Telefonanruf bei der Polizei, irgendein Kleidungsstück, das mit der Post kam, oder ein schwarzes Halstuch, das man am Tag darauf in den Büschen fand. Das war alles Teil der Strategie.«
»Der Strategie? Wovon sprechen Sie?«
»Jason Borowski - der ursprüngliche Jason Borowski - war ein verurteilter Mörder, ein Flüchtling, dessen Leben in den letzten Monaten des Vietnam-Krieges an einem Ort namens Tarn Quan mit einer Kugel endete, die man ihm durch den Kopf schoß. Es war eine Dschungelhinrichtung. Der Mann war ein Verräter, und die Leiche ließ man einfach liegen, damit sie verfaulen konnte. Er verschwand einfach. Einige Jahre später übernahm der Mann, der ihn exekutiert hatte, für eines unserer Projekte seine Identität - ein Projekt, das beinahe Erfolg gehabt hätte, das Erfolg hätte haben sollen, aber außer Kontrolle geriet.«
»Was?«
»Außer Kontrolle. Jener Mann - jener sehr tapfere Mann -, der für uns in den Untergrund ging und drei Jahre den Namen Jason Borowski benutzte, wurde verwundet, und die Folge seiner Verwundung war Amnesie. Er verlor sein Gedächtnis; er wußte weder, wer er war, noch wer er sein sollte.«
»Du großer Gott!«
»Ja, eine scheußliche Lage. Mit Hilfe eines trunksüchtigen Arztes auf einer Mittelmeerinsel versuchte er seine Identität wiederzufinden und festzustellen, wer er war; und in dem Punkt scheiterte er leider. Er scheiterte, aber die Frau, die ihn liebte, scheiterte nicht; sie ist jetzt seine Frau. Ihre Instinkte rieten ihr das Richtige; sie wußte, daß er kein Killer war. Sie zwang ihn, sich über seine Worte und seine Fähigkeiten klarzuwerden uid sich dann auf die Kontakte zu besinnen, die ihn zu uns zurückführen sollten. Aber wir, denen der komplizierteste Abwehrapparat auf der ganzen Welt zur Verfügung stand, haben nicht auf den menschlichen Quotienten gehört; wir haben ihm eine Falle gestellt, um ihn zu erledigen -«
»Ich muß Sie unterbrechen, Herr Botschafter«, sagte Reilly.
»Warum?« fragte Havilland. »Das haben wir schließlich getan - und außerdem werden wir im Augenblick nicht aufgenommen.«
»Die Entscheidung wurde von einem einzelnen getroffen, nicht von der Regierung der Vereinigten Staaten. Das sollte klar sein.«
»In Ordnung«, nickte der Diplomat. »Sein Name war Conklin, aber das ist belanglos, Jack. Die Regierung hat mitgemacht. Es ist geschehen.«
»Personal der Regierung hatte auch entscheidenden Anteil daran, daß sein Leben gerettet wurde.«
»Etwas später«, murmelte Havilland.
»Aber warum!« fragte McAllister; er beugte sich vor, von dem bizarren Bericht gebannt. »Er war einer der unseren. Weshalb hätte jemand ihn ausschalten sollen?«
»Man vermutete hinter seinem Gedächtnisverlust etwas anderes. Man war irrtümlich der Meinung, er sei umgedreht worden; dachte, er habe drei seiner Führungsoffiziere getötet und sei mit einem beträchtlichen Betrag verschwunden -Regierungsgeldern in Höhe von beinahe fünf Millionen Dollar.«
»Fünf Millionen ...?« McAllister sank erstaunt in den Sessel zurück. »Ihm persönlich standen derartige Beträge zur Verfügung?«
»Ja«, sagte der Botschafter. »Das gehörte auch mit zur Strategie und war Teil des Projekts.«
»Ich nehme an, daß dies der Punkt ist, wo Schweigen geboten ist. Das Projekt, meine ich.«
»Ja, das ist unerläßlich«, antwortete Reilly. »Nicht wegen des Projekts - trotz allem, was geschehen ist, haben wir keinen Anlaß, uns für diese Operation zu entschuldigen, sondern wegen des Mannes, den wir uns geholt haben, damit er Jason Borowski wurde. Und auch wegen des Ortes, von dem er kam.«
»Das klingt sehr geheimnisvoll.«
»Das wird gleich klarer.«
»Das Projekt, bitte!«
Reilly sah Raymond Havilland an; der Diplomat nickte und meinte dann: »Wir haben einen Killer geschaffen, um den gefährlichsten Meuchelmörder von ganz Europa aus der Reserve zu locken und ihm eine Falle zu stellen.«
»Carlos?«
»Sie sind schnell, Herr Staatssekretär.«
»Gab es denn sonst noch jemanden? In Asien hat man Borowski und den Schakal andauernd miteinander verglichen.«
»Das war Absicht«, sagte Havilland. »Die Strategen des Projekts, eine Gruppe mit dem Namen Treadstone Einundsiebzig, haben diesen Vergleich in die Welt gesetzt. Die Gruppe nannte sich nach einem Haus in der Einundsiebzigsten Straße in New York, wo der wiedererweckte Jason Borowski ausgebildet wurde. Das war die Kommandozentrale. Sie sollten sich den Namen merken.«
»Ich verstehe«, meinte McAllister nachdenklich. »Dann waren diese Vergleiche als eine Herausforderung für Carlos gedacht. Und dann ging Borowski nach Europa - um ihn zu zwingen, aufzutauchen und sich dem Herausforderer zu stellen.«
»Sehr schnell, Herr Staatssekretär. In kurzen, dürren Worten war das die Strategie.«
»Außergewöhnlich. Wirklich brillant. Und man braucht kein Fachmann zu sein, um das zu erkennen; das bin ich nämlich weiß Gott nicht.«
»Vielleicht werden Sie einer -«
»Und Sie sagen, dieser Mann, der Borowski, der geheimnisvolle Meuchelmörder, wurde, hat drei Jahre damit verbracht, diese Rolle zu spielen, und wurde dann verletzt -«
»Man hat auf ihn geschossen«, unterbrach Havilland. »Eine Kopfverletzung.«
»Und er hat das Gedächtnis verloren?«
»Völlig.«
»Mein Gott!«
»Und trotz allem, was mit ihm passiert ist, und mit Hilfe dieser Frau - sie war übrigens Volkswirtin und für die kanadische Regierung tätig - hätte er das Ganze um Haaresbreite geschafft. Eine erstaunliche Geschichte, nicht wahr?«
»Unglaublich. Aber was für ein Mann gehört dazu, so etwas zu tun, und wer kann das tun?«
Jack Reilly hustete halblaut, worauf der Botschafter ihm einen Blick zuwarf und verstummte. »Wir kommen jetzt zum kritischen Punkt«, sagte der Aufpasser und rutschte in seinem Sessel herum, um McAllister voll anzusehen. »Wenn Sie die geringsten Zweifel haben, kann ich Sie immer noch gehenlassen.«
»Ich versuche mich nicht zu wiederholen. Sie haben Ihr Band.«
»Ist ja schließlich Ihre Neugierde.«
»Ich nehme an, das ist nur eine andere Formulierung, um zu sagen, daß es vielleicht nicht einmal einen Prozeß geben könnte.«
»Das würde ich nie sagen.«
McAllister schluckte und sah dem Mann vom Sicherheitsrat in die Augen. Dann wandte er sich Havilland zu. »Bitte, fahren Sie fort, Herr Botschafter. Wer ist dieser Mann? Woher kam er?«
»Er heißt David Webb. Zur Zeit ist er Dozent für Orientalistik an einer kleinen Universität in Maine. Er ist mit der Kanadierin verheiratet, die ihn buchstäblich aus seinem Labyrinth herausgeführt hat. Ohne sie wäre er getötet worden - andrerseits hätte sie ohne ihn als Leiche in Zürich geendet.«
»Erstaunlich«, sagte McAllister so leise, daß man es kaum hören konnte.
»Tatsächlich ist sie seine zweite Frau. Seine erste Ehe endete tragisch, mit einem sinnlosen Todesfall - an dem Punkt begann seine Geschichte für uns. Vor einigen Jahren war Webb ein junger Beamter des Außenministeriums und in Phnom Penh stationiert, ein brillanter Kenner Asiens, der einige asiatische Sprachen fließend beherrschte und der mit einem Mädchen aus Thailand verheiratet war, das er auf der Universität kennengelernt hatte. Sie wohnten an einem Fluß und hatten zwei Kinder. Für einen Mann wie ihn war das das ideale Leben; es verband die Erfahrung, die Washington vor Ort brauchte, mit der Chance für sich, in seinem eigenen Museum zu leben. Dann eskalierte der Krieg n Vietnam, und eines Morgens stieß ein einzelner Düsenjäger - welcher Seite er angehörte, weiß keiner genau, aber das hat niemand Webb je gesagt - im Tiefflug herunter und beschoß seine Frau und seine Kinder, während sie im Wasser spielten. Sie wurden von den Kugeln förmlich zerfetzt. Sie trieben ans Ufer, während Webb zu ihnen wollte; er drückte sie an sich und schrie hilflos dem Flugzeug nach, das am Himmel verschwand.«
»Wie schrecklich!« flüsterte McAllister.
»In dem Augenblick vollzog sich in Webb eine Veränderung; er wurde zu jemandem, der er nie gewesen war und von dem er sich nie hätte träumen lassen, daß er es würde sein können. Er wurde ein Guerillakämpfer, unter dem Namen Delta bekannt.«
»Delta?« sagte der Staatssekretär. »Ein Guerilla ... ? Ich fürchte, das verstehe ich nicht.«
»Das können Sie auch nicht verstehen.« Havilland sah zu Reilly hinüber und wandte den Blick dann wieder McAllister zu. »Wie Jack gerade sagte, sind wir jetzt am kritischen Punkt. Webb begab sich, von Zorn und Wut erfüllt, nach Saigon und schloß sich - mit Unterstützung des CIA-Beamten Conklin, der ihn Jahre später zu töten versuchte - einer Geheimorganisation an, die Medusa hieß. Die Leute von Medusa benützten nie Namen, nur die griechischen Buchstaben des Alphabets - Webb wurde Delta Eins.«
»Medusa? Davon habe ich nie gehört.«
»Wir sind jetzt am Punkt«, sagte Reilly. »Die Medusa-Akte ist immer noch geheim, aber wir haben im vorliegenden Fall die Genehmigung für eine beschränkte Freigabe. Bei den MedusaEinheiten handelte es sich um Leute aus aller Welt, die sowohl den Norden als auch den Süden Vietnams wie ihre Hosentasche kannten. Offen gesagt, handelte es sich bei den meisten um
Verbrecher - Schmuggel, Rauschgift, Gold, Waffen, Juwelen, alle Arten von Konterbande. Außerdem um verurteilte Mörder, Flüchtlinge, die man in Abwesenheit zum Tode verurteilt hatte ... Und ein paar Kolonisten, deren Geschäfte man konfisziert hatte - wieder von beiden Seiten. Sie verließen sich auf uns -Onkel Sam - und erwarteten, daß wir alle ihre Probleme lösen würden, wenn sie dafür feindliche Gebiete infiltrierten, Leute töteten, die unter dem Verdacht standen, Kollaborateure des Vietcong zu sein, oder ebensolche Dorfhäuptlinge. Es handelte sich um Hinrichtungsteams - Todesschwadronen, wenn Sie so wollen -, und das sagt es so gut, wie man es überhaupt sagen kann, aber wir werden es natürlich nie sagen. Es wurden Fehler gemacht, Millionen gestohlen, und die meisten dieser Leute hätte keine Kulturnation in ihre Armee aufgenommen. Webb auch nicht.«
»Und mit seiner Herkunft, seiner akademischen Ausbildung hat er sich freiwillig einer solchen Gruppe angeschlossen?«
»Sein Motiv war eindeutig«, sagte Havilland. »Für ihn war dieses Flugzeug in Phnom Penh nordvietnamesisch.«
»Einige haben gesagt, er sei ein Irrer gewesen«, fuhr Reilly fort. »Andere behaupteten, er sei ein außergewöhnlicher Taktiker gewesen, der beste Guerilla, den man sich vorstellen konnte, ein Weißer, der wie ein Asiate denken konnte und das aggressivste Team von ganz Medusa führte. Das Kommando in Saigon fürchtete ihn ebensosehr wie der Feind. Er war unberechenbar; die einzigen Regeln, die er befolgte, waren seine eigenen. Es war, als hätte er seinen ganz persönlichen Rachefeldzug auf die Beine gestellt, um den Mann zu jagen, der jenes Flugzeug gesteuert und sein Leben zerstört hatte. Es wurde sein Krieg; und je gewalttätiger er wurde, desto mehr befriedigte er ihn - oder vielleicht sollte ich sagen, desto näher brachte er ihn seinem eigenen Todeswunsch.«
»Todes...?« Der Staatssekretär ließ das Wort in der Luft hängen.
»Das war die Theorie der meisten damals«, unterbrach der Botschafter.
»Der Krieg endete«, sagte Reilly, »und zwar für Webb - oder Delta - ebenso katastrophal wie für uns alle anderen auch. Vielleicht sogar schlimmer; für ihn blieb nichts. Es gab keinen Sinn mehr in seinem Leben - nichts mehr, das er töten konnte. Bis wir an ihn herantraten und ihm etwas gaben, für das es sich lohnte weiterzuleben. Oder vielleicht auch, für das es sich lohnte, weiter den Tod zu suchen.«
»Indem er Borowski wurde und die Jagd auf Carlos, den Schakal, begann«, führte McAllister den Gedanken zu Ende.
»Ja«, nickte der Mann vom Nachrichtendienst. Dann folgte ein kurzes Schweigen.
»Wir müssen ihn wiederhaben«, sagte Havilland. Die leisen Worte fielen wie eine Axt auf Hartholz.
»Carlos ist aufgetaucht?«
Der Diplomat schüttelte den Kopf. »Nicht in Europa. Wir brauchen ihn wieder in Asien und können uns nicht leisten, auch nur eine Minute zu vergeuden.«
»Jemand anders? Ein anderes ... Ziel?« McAllister schluckte unwillkürlich. »Haben Sie mit ihm gesprochen?«
»Wir können nicht an ihn herantreten. Nicht direkt.«
»Warum nicht?«
»Er würde uns nicht durch die Tür lassen. Er vertraut niemandem, der aus Washington kommt, und es fällt schwer, ihm das zu verübeln. Tage-, wochenlang hat er um Hilfe gerufen, und wir haben nicht auf ihn gehört. Statt dessen haben wir versucht, ihn umzulegen.«
»Ich muß noch einmal Einspruch erheben«, unterbrach ihn Reilly. »Das waren nicht wir; das war ein Individuum, das nach irrtümlichen Informationen gehandelt hat. Und im Augenblick wendet die Regierung mehr als vierhunderttausend Dollar im Jahr auf, um Webb zu schützen.«
»Wofür er nur Spott übrig hat. Er glaubt, es handle sich um eine Falle für Carlos, falls der Schakal ihn ausfindig machen sollte. Er ist überzeugt, daß er Ihnen völlig egal ist, und ich bin gar nicht so sicher, daß er damit so unrecht hat. Er hat Carlos gesehen, und daß er sich bis jetzt noch nicht an das Gesicht erinnern kann, weiß Carlos nicht. Der Schakal hat allen Grund, Jagd auf Webb zu machen. Und wenn er das tut, bekommen Sie Ihre zweite Chance.«
»Die Chance, daß Carlos ihn findet, ist so gering, daß man sie praktisch vergessen kann. Die Akten von Treadstone sind begraben; und selbst wenn sie das nicht wären, so enthalten sie keinerlei Informationen über Webbs Aufenthaltsort oder das, was er tut.«
»Aber Mr. Reilly!« sagte Havilland spöttisch. »Nur sein Hintergrund und seine Qualifikationen. Wäre das denn so schwierig? Er ist doch ein typischer Akademiker.«
»Ich will mich ja gar nicht mit Ihnen streiten, Herr Botschafter«, meinte Reilly etwas gedämpft. »Ich will ja nur, daß alles klar und eindeutig ist. Wollen wir doch offen sein -man muß sehr vorsichtig mit Webb umgehen. Er hat einen großen Teil seines Gedächtnisses zirückgewonnen, aber ganz sicher erinnert er sich nicht an alles. Aber er weiß genug über Medusa, um eine beträchtliche Gefahr für die Interessen unseres Landes darzustellen.«
»In welcher Weise?« fragte McAllister. »Wir haben sicher keinen Grund, sehr stolz zu sein; aber im wesentlichen handelte es sich doch um eine Strategie zu Kriegszeiten.«
»Eine Strategie, die offiziell nicht sanktioniert war. Es gibt keinerlei amtliche Aufzeichnungen darüber.«
»Wie ist das möglich? Es müssen doch Mittel zur Verfügung gestellt worden sein. Und wenn Geld ausgegeben wird -«
»Jetzt halten Sie mir bloß keinen Vortrag«, unterbrach ihn der beleibte Geheimdienstler. »Wir sind jetzt zwar nicht auf Band, aber ich habe Ihre Erklärung.«
»Ist das Ihre Antwort?«
»Nein - aber das: Es gibt keine Ausnahmegesetze für Kriegsverbrechen und Mord, Herr Staatssekretär. Und Mord und andere Gewaltverbrechen sind gegen unsere eigenen Streitkräfte ebenso wie gegen unsere Verbündeten begangen worden. Im wesentlichen wurden diese Verbrechen von Mördern und Dieben in Tateinheit mit Diebstahl, Plünderung, Vergewaltigung und Mord begangen. Bei den meisten der Täter handelte es sich um pathologische Kriminelle. So wirksam Medusa auch in vieler Hinsicht war, so war es doch ein tragischer Fehler aus Zorn und Enttäuschung, damals in einer Situation, in der keiner gewinnen konnte. Welchen Nutzen könnte es denn haben, jetzt all die alten Wunden aufzureißen? Ganz abgesehen von all den Ansprüchen, die gegen uns gestellt würden, würden wir in den Augen des größten Teils der zivilisierten Welt zum Paria werden.«
»Wie ich schon sagte«, meinte McAllister leise und etwas zögernd, »wir halten im Außenministerium nicht viel davon, alte Wunden aufzureißen.« Er wandte sich dem Botschafter zu. »Ich fange an zu begreifen. Sie wollen, daß ich Verbindung mit diesem David Webb aufnehme und ihn dazu überrede, nach Asien zurückzukehren. Ein anderes Projekt, ein anderes Ziel -obwohl ich vor heute abend dieses Wort nie in diesem Zusammenhang benutzt habe. Wahrscheinlich weil es für uns von früher einige ganz deutliche Parallelen gibt - wir sind Asien-Männer. Wir haben, was den Fernen Osten angeht, ähnliche Ansichten, und deshalb glauben Sie, daß er auf mich hören wird.«
»Im wesentlichen ja.«
»Und doch sagen Sie, daß er nichts mit uns zu tun haben will. Wie soll ich es dann schaffen?«
»Wir werden es gemeinsam tun. So wie er einmal die Regeln für sich selbst gemacht hat, werden wir sie jetzt machen. Das ist unerläßlich.«
»Wegen eines Mannes, den Sie tot wissen wollen?«
»Sagen wir eliminiert. Es muß sein.«
»Und Webb kann das erledigen?«
»Nein. Jason Borowski kann es. Wir haben ihn drei Jahre lang unter außergewöhnlichem Streß alleine hinausgeschickt - und dann wurde ihm plötzlich sein Erinnerungsvermögen genommen, und er wurde gejagt wie ein Tier. Trotzdem hat er sich seine Fähigkeiten, sich einzuschleusen und zu töten, bewahrt. Ich bin ganz offen.«
»Ich verstehe. Da wir nicht auf Band aufgenommen werden -und selbst, wenn wir das werden -« Der Staatssekretär warf Reilly einen mißbilligenden Blick zu, worauf dieser den Kopf schüttelte und die Achseln zuckte. »Darf ich erfahren, wer die Zielscheibe ist?«
»Das dürfen Sie, und ich möchte, daß Sie sich diesen Namen merken, Herr Staatssekretär. Es ist ein chinesischer Minister, Sheng Chou Yang.«
McAllisters Gesicht rötete sich ärgerlich. »Ich brauche ihn mir nicht zu merken, und ich denke, das wissen Sie. Er war so etwas wie eine Institution in der Verhandlungsdelegation der Volksrepublik, und wir haben beide Ende der siebziger Jahre in Peking an den Handelskonferenzen teilgenommen. Ich habe über ihn gelesen, ihn analysiert. Sheng war mein Verhandlungspartner, und mir blieb gar nichts anderes übrig -eine Tatsache, die Ihnen, wie ich vermute, auch bekannt ist.«
»Oh?« Der grauhaarige Botschafter schob die dunklen Augenbrauen in die Höhe. »Und welche Erkenntnisse haben Sie bei Ihrer Lektüre gewonnen? Was haben Sie über ihn in Erfahrung gebracht?«
»Er galt als sehr intelligent, sehr ehrgeizig - aber das können wir ja auch aus seinem Aufstieg in der Hierarchie von Peking entnehmen. Leute, die das Zentralkomitee vor einigen Jahren ausschickte, haben ihn in der Fudan-Universität in Shanghai entdeckt. Zunächst ging es wohl nur darum, daß er sich so fließend in Englisch ausdrücken konnte und ein sehr klares Bild von der westlichen Wirtschaft hatte.«
»Und dann?«
»Er galt als vielversprechend und wurde daher nach einer gründlichen Indoktrinierung auf die London School of Economics geschickt, um dort sein Studium abzuschließen. Das hat auch geklappt.«
»Was wollen Sie damit sagen?«
»Sheng ist überzeugter Marxist, soweit es um den Staat als zentralistische Gewalt geht, hat aber gesunden Respekt vor kapitalistischen Profiten.«
»Ich verstehe«, sagte Havilland. »Dann akzeptiert er also das Versagen des Sowjet-Systems?«
»Dieses Versagen schreibt er der russischen Neigung zur Korruption, dem gedankenlosen Konformismus in den oberen Rängen und dem Alkohol in den unteren Rängen zu. Immerhin hat er ein gut Teil dieser Probleme in den Industriezentren beseitigt.«
»Das klingt ja gerade, als hätte er seine Ausbildung bei IBM bekommen, nicht wahr?«
»Er ist weitgehend für die neue Handelspolitik der Volksrepublik verantwortlich. Er hat für China eine Menge Geld gemacht.« Wieder beugte sich der Mann aus dem Außenministerium in seinem Sessel vor, seine Augen blickten eindringlich, und sein Gesichtsausdruck war verwirrt - besser gesagt, erschüttert. »Mein Gott, warum sollte irgend jemand im Westen Shengs Tod wollen? Das ist absurd! Er ist unser wirtschaftlicher Verbündeter, ein politisch stabilisierender Faktor in der größten Nation der Welt, die sich ideologisch gegen uns stellt! Durch ihn und Männer seiner Art haben wir gewisse Kompromisse erreicht. Ohne ihn besteht, ganz gleich, welchen Kurs China einschlagen wird, das Risiko einer Katastrophe. Ich verstehe wirklich etwas von China, Herr Botschafter, und ich wiederhole: Was Sie hier andeuten, ist absurd. Ein Mann Ihrer Erfahrung sollte das als erster erkennen.«
Der alternde Diplomat sah McAllister scharf an, und als er schließlich zu sprechen begann, wählte er seine Worte sorgfältig. »Vor wenigen Augenblicken waren wir an den Kern der Sache gekommen. Ein ehemaliger Beamter im auswärtigen Dienst namens David Webb wurde aus einem bestimmten Grund Jason Borowski. In ähnlicher Weise ist Sheng Chou Yang nicht der Mann, den Sie kennen; nicht der Mann, den Sie als Verhandlungspartner studiert haben. Er ist aus einem ganz bestimmten Zweck jener Mann geworden.«
»Wovon sprechen Sie?« verteidigte sich McAllister. »Alles, was ich über ihn gesagt habe, ist festgehalten - in amtlichen Akten -, wovon die meisten streng geheim sind, oberste Geheimhaltungsstufe.«
»Wirklich?« fragte der ehemalige Botschafter müde. »Weil ein Stempel auf Beobachtungen von Männern gedrückt wurde, die keine Ahnung haben, wo diese Aufzeichnungen herkamen? Es gibt sie, und das ist genug? Nein, Herr Staatssekretär, das reicht nicht - das reicht niemals.«
»Sie verfügen offenbar über Informationen, die ich nicht habe«, sagte der Mann aus dem Außenministerium kühl. »Falls es stimmt. Der Mann, den ich beschrieben habe - der Mann, den ich kannte -, ist Sheng Chou Yang.«
»So wie der David Webb, den wir Ihnen beschrieben haben, Jason Borowski war? Bitte, werden Sie nicht ärgerlich; ich mache hier keine Scherze. Es ist nur wichtig, daß Sie verstehen. Sheng ist nicht der Mann, den Sie kannten. Er war es nie.«
»Wen habe ich dann gekannt? Wer war der Mann, der mir bei diesen Konferenzen gegenübersaß?«
»Er ist ein Verräter, Herr Staatssekretär. Sheng Chou Yang ist ein Verräter an seinem Land. Und wenn sein Verrat aufgedeckt wird - und das wird er ganz bestimmt -, wird Peking die freie Welt dafür verantwortlich machen. Die Folgen eines solchen zwangsläufigen Irrtums sind unvorstellbar. Aber an dem Ziel, das er verfolgt, gibt es keinen Zweifel.«
»Sheng ... ein Verräter? Das glaube ich Ihnen nicht! Man verehrt ihn in Peking! Eines Tages wird er Vorsitzender sein.«
»Dann wird China von einem nationalistischen Eiferer beherrscht werden, dessen ideologische Wurzeln in Taiwan zu suchen sind.«
»Sie sind verrückt- absolut verrückt! Augenblick - Sie sagten, er habe ein Ziel - >an dem Ziel, das er verfolgt, gibt es keinen Zweifele, haben Sie gesagt.«
»Er und seine Leute haben die Absicht, in Hongkong die Macht zu ergreifen. Er bereitet im geheimen einen wirtschaftlichen Blitzkrieg vor und will, daß der ganze Handel, alle Banken dort unter die Kontrolle einer >neutralen< Kommission gestellt werden, die von Peking gebilligt wird - und das heißt, von ihm. Als Instrument dazu will er den britischen Vertrag benutzen, der 1997 ausläuft, und seine Kommission soll ein angeblich vernünftiges Vorspiel zur Annexion, zur völligen Kontrolle sein. Und das wird geschehen, wenn die Straße für Sheng frei ist; wenn es keine Hindernisse mehr gibt, die ihm im Wege liegen. Wenn sein Wort das einzige Wort ist, das in Wirtschaftsfragen zählt. Und das könnte schon in ein oder zwei Monaten sein. Oder nächste Woche.«
»Sie glauben, Peking wäre damit einverstanden?« McAllister schüttelte den Kopf. »Sie irren! Das - das ist einfach verrückt! Die Volksrepublik wird Hongkong niemals antasten! Schließlich lenkt sie sechzig Prozent ihres Handels über Hongkong. Die China-Verträge garantieren fünfzig Jahre freie Wirtschaftszone, und Sheng selbst ist ein Mitunterzeichner der Verträge - der wichtigste sogar!«
»Aber Sheng ist nicht Sheng - nicht so, wie Sie ihn kennen.«
»Wer, zum Teufel, ist er dann?«
»Erschrecken Sie nicht, Herr Staatssekretär. Sheng Chou Yang ist der älteste Sohn eines Industriellen aus Shanghai, der in der korrupten Welt des alten China sein Vermögen gemacht hat, unter Tschiangkaischeks Kuomintang. Als zu erkennen war, daß Maos Revolution siegen würde, floh die Familie, so wie viele der Landbesitzer und der Kriegstreiber, mit allem, was sie mitnehmen konnten. Der alte Herr ist jetzt einer der mächtigsten Taipans von Hongkong - aber wir wissen nicht, welcher. Die Kolonie wird sein Mandat und das seiner Familie werden, und das wird er einem Minister in Peking zu verdanken haben -seinem hochgeschätzten Sohn. Stellen Sie sich diesen Wahnsinn vor! Die letzte Rache des Patriarchen - Hongkong wird von eben den Männern kontrolliert werden, die Nationalchina korrumpiert haben. Jahrelang haben sie ihr Land gewissenlos ausgequetscht und ihre Profite aus den Mühen eines verhungernden, rechtlosen Volkes gezogen und damit Maos Revolution den Weg bereitet. Und wenn das wie eine kommunistische Parteirede klingt, dann muß ich leider sagen, daß das zum größten Teil stimmt. Und jetzt wollen eine Handvoll Eiferer, Wirtschaftsverbrecher, geführt von einem Verrückten, das zurück, was kein internationales Gericht der ganzen Welt ihnen je zubilligen würde.« Havilland hielt inne und spuckte dann das Wort förmlich aus. »Wahnsinnige!«
»Aber wenn Sie nicht wissen, wer dieser Taipan ist, woher wissen Sie dann, daß das, was Sie sagen, stimmt - daß irgend etwas davon stimmt?«
»Unsere Quellen sind absolut geheim«, unterbrach Reilly. »Aber sie sind zuverlässig. Die ersten Erkenntnisse stammen aus Taiwan. Unser erster Informant war ein Mitglied des dortigen Kabinetts. Er hielt das für einen katastrophalen Kurs, der nur zu einem Blutbad im ganzen Pazifikraum führen konnte. Er flehte uns an, dem ein Ende zu machen. Am nächsten Morgen fand man ihn tot auf - mit drei Kugeln im Kopf. Man hatte ihm auch die Kehle durchgeschnitten - bei den Chinesen bedeutet das den Tod eines Verräters. Seitdem sind noch fünf Menschen ermordet worden, und man hat sie in ähnlicher Weise verstümmelt. Was wir Ihnen gesagt haben, ist wahr. Es gibt diese Verschwörung, und sie geht von Hongkong aus.«
»Das ist doch Wahnsinn!«
»Und was noch wichtiger ist«, sagte Havilland, »sie hat keine Chance. Wenn sie auch nur den Schimmer einer Chance hätte, könnten wir uns ja abwenden und sagen, meinetwegen; aber eine solche Chance besteht nicht. Sie wird scheitern, so wie Lin Biaos Verschwörung gegen Mao 1972 scheiterte. Und wenn es dann soweit ist, wird Peking behaupten, amerikanisches und taiwanesisches Geld stecke dahinter und die Briten seien Komplizen - ebenso wie die führenden Finanzinstitutionen der Welt mit ihrem stillschweigenden Einverständnis. Acht Jahre wirtschaftlichen Fortschritts werden beim Teufel sein, und das nur, weil eine Gruppe von Fanatikern Rache sucht. Um Ihre Worte zu gebrauchen, Herr Staatssekretär: Die Volksrepublik China ist eine argwöhnische, turbulente Nation und - wenn ich meine eigene Ansicht aus meiner langjährigen Erfahrung, die Sie mir zuschreiben, hinzufügen darf - ein Regime, bei dem es keines sehr großen Anstoßes bedarf, um es paranoid werden zu lassen, und das von der Idee cfes Verrates besessen ist - des Verrates von innen ebenso wie von außen. China wird glauben,
daß die Welt darauf aus ist, es wirtschaftlich zu isolieren, es von den Märkten der Welt fernzuhalten und es in die Knie zu zwingen, während die Russen grinsend von den nördlichen Grenzen zusehen. Und so wird China schnell und wütend zuschlagen, alles an sich reißen. Chinas Truppen werden Kowloon besetzen, die Insel, die blühenden New Territories. Investitionen von Milliarden Dollars werden verloren sein. Und ohne die Erfahrung, die die Kolonie sich aufgebaut hat, wird der Handel gelähmt sein, es wird ein Heer von Arbeitslosen geben -Millionen -, Chaos wird ausbrechen, Hunger und Seuchen. Der ganze Pazifikraum wird in Flammen stehen, und am Ende könnte es zu einem Krieg kommen, wie ihn sich keiner von uns ausmalen will.«
»Großer Gott!« flüsterte McAllister. »Dazu darf es nicht kommen.«
»Nein, das darf es nicht«, stimmte der Diplomat zu.
»Aber warum Webb!«
»Nicht Webb«, korrigierte ihn Havilland. »Jason Borowski.«
»Also gut! Warum Borowski!«
»Weil es in Kowloon heißt, daß er bereits dort ist.«
»Was?«
»Und wir wissen, daß das nicht so ist.«
»Was haben Sie gesagt?«
»Er hat wieder zugeschlagen. Er hat getötet. Er ist nach Asien zurückgekehrt.«
»Webb?«
»Nein, Borowski. Die Legende.«
»Jetzt verstehe ich überhaupt nichts mehr!«
»Ich kann Ihnen versichern, daß Sheng Chou Yang eine ganze Menge versteht und weiß, was er will.«
»Was soll das jetzt wieder heißen?«
»Er hat ihn zurückgeholt. Jason Borowskis Talente stehen wieder für Geld zur Verfügung, und sein Klient ist, so wie das immer war, nicht aufzustöbern - im vorliegenden Fall der unwahrscheinlichste Klient, den man sich vorstellen kann. Ein führender Sprecher Chinas, der seine Gegner sowohl in Hongkong wie auch in Peking eliminieren muß. In den letzten sechs Monaten sind eine ganze Anzahl mächtiger Stimmen im Zentralkomitee von Peking merkwürdig schweigsam gewesen. Nach den offiziellen Regierungs-Verlautbarungen sind einige gestorben, was angesichts ihres Alters verständlich ist. Zwei andere sind angeblich bei Unfällen ums Leben gekommen -einer bei einem Flugzeugabsturz und einer ausgerechnet durch eine Gehirnblutung während einer Wanderung in den Shaoguan-Bergen -, und wenn das nicht stimmt, dann ist es zumindest gut erfunden. Und dann ist noch einer >entfernt< worden - was ein Euphemismus dafür ist, daß er in Ungnade gefallen ist. Zuletzt -und das ist das Verblüffendste - ist der stellvertretende Premierminister in Kowloon ermordet worden, und niemand in Peking wußte überhaupt, daß er dort war. Ein scheußliches Massaker - fünf Männer, die im Tsim Sha Tsui ermordet wurden, und der Killer hat seine Visitenkarte hinterlassen. Der Name Jason Borowski< stand in einer Blutlache auf dem Boden.«
McAllister blinzelte ein paarmal, und seine Augen huschten ziellos im Raum umher. »Das alles kann ich einfach nicht fassen«, sagte er hilflos. Dann, plötzlich wieder ganz Profi, sah er Havilland an. »Gibt es Zusammenhänge?« fragte er.
Der Diplomat nickte. »Die Berichte unserer Agenten sind eindeutig. Alle diese Männer lehnten Shengs Politik ab - einige offen, einige eher versteckt. Der Vizepremier, ein alter Revolutionär und ein Veteran vom langen Marsch Maos, machte am wenigsten ein Hehl aus seiner Abneigung gegen den Emporkömmling Sheng. Die Frage ist nur, was hatte er inkognito in Kowloon in der Gesellschaft von Bankiers zu suchen? Peking kann diese Frage nicht beantworten, und um das Gesicht wahren zu können, durfte der Mord nie stattgefunden haben. Seit seiner Einäscherung ist er zur Unperson geworden.«
»Und die >Visitenkarte des Mörders - der in Blut geschriebene Name - ist die zweite Verbindung zu Sheng«, sagte der Mann aus dem Außenministerium mit leicht zitternder Stimme, während er sich die Stirn massierte. »Aber warum würde er so etwas tun? Seinen Namen hinterlassen, meine ich!«
»Weil er Geschäftsmann ist und es ein spektakulärer Mord war. Beginnen Sie jetzt zu begreifen?«
»Ich weiß nicht recht.«
»Für uns ist dieser neue Borowski der direkte Weg zu Sheng Chou Yang. Er ist unsere Falle. Jemand gibt sich als der legendäre Killer aus; aber wenn die Legende selbst den aufspürt, der seine Rolle spielt, und ihn erledigt, dann kann er auch an Sheng herankommen. In Wirklichkeit ist es sehr einfach. Der Jason Borowski, den wir geschaffen haben, wird an die Stelle dieses neuen Killers treten, der seinen Namen benutzt. Und sobald er seine Stelle eingenommen hat, schlägt unser Jason Borowski Alarm - irgend etwas Wichtiges ist geschehen, das Shengs ganze Strategie bedroht, und Sheng muß reagieren. Denn nichts zu tun, kann er sich nicht leisten, weil er auf absolute Sicherheit angewiesen ist, und darauf, daß seine Hände sauber bleiben. Er wird sich zeigen müssen, und wäre es nur, um seinen bezahlten Meuchelmörder zu töten, um alle Spuren seiner Verbindung zu ihm zu tilgen. Und wenn er das tut, sind wir am Ziel und haben erreicht, was wir wollen.«
»Aber damit drehen Sie sich doch im Kreise«, sagte McAllister so leise, daß man ihn kaum hören konnte, und starrte dabei den Diplomaten an. »Und nach allem, was Sie gesagt haben, wird Webb sich nicht darauf einlassen.«
»Dann müssen wir ihm ein überwältigendes Motiv dafür liefern«, sagte Havilland ruhig. »In meinem Beruf - und offen gestanden war das immer mein Beruf - suchen wir Muster, Schemata - Dinge, mit denen man einen Menschen beeinflussen kann.« Mit gerunzelter Stirn und hohlen, leeren Augen lehnte sich der alte Botschafter in seinem Sessel zurück; man konnte sehen, daß er sich für das verachtete, was er tun mußte. »Manchmal sind das häßliche Erkenntnisse, widerwärtig sogar -aber man muß den größeren Nutzen abwägen. Für jeden.«
»Das sagt mir überhaupt nichts.«
»David Webb wurde aus demselben Grund zu Jason Borowski, der ihn zu Medusa trieb. Man hat ihm seine Frau genommen; seine Kinder und die Mutter seiner Kinder sind getötet worden.«
»Oh, mein Gott!«
»Hier darf ich mich verabschieden«, sagte Reilly und erhob sich aus seinem Sessel.