Kapitel 16

Der Anruf war um fünf Uhr nachmittags gekommen, Borowski war bereit gewesen. Es waren keine Namen gefallen.

»Es ist arrangiert«, sagte der Anrufer. »Wir sollen kurz vor einundzwanzig Uhr an der Grenze sein, wenn Wachwechsel ist. Ihr Visum für Shenzen wird überprüft, aber nicht abgestempelt werden. Sobald Sie drüben sind, sind Sie auf sich gestellt, aber Sie sind nicht über Macao eingereist.«

»Und wie ist es mit der Rückreise? Wenn das stimmt, was Sie mir gesagt haben und alles richtig läuft, komme ich nicht allein zurück.«

»Aber nicht mit mir. Ich bringe Sie hinüber und an den richtigen Ort. Anschließend verlasse ich Sie.«

»Das beantwortet meine Frage nicht.«

»Das ist nicht so schwierig, wie hineinzukommen. Es sei denn, man durchsucht Sie und findet Schmuggelware.«

»Das wird man nicht.« »Dann würde ich vorschlagen, daß Sie sich betrunken stellen. Das fällt nicht auf. Außerhalb von Shenzen ist ein Flugplatz, der von speziellen -«

»Ich kenne ihn.«

»Sie waren vielleicht in der falschen Maschine, aber auch das fällt kaum auf. Die Flugpläne in China sind ausgesprochen unzuverlässig.«

»Was kostet das Arrangement heute abend?«

»Viertausend Hongkong-Dollar und eine neue Uhr.«

»Einverstanden.«

Etwa fünfzehn Kilometer nördlich des kleinen Dorfes Gongbei steigen die Hügel an und gehen kurz darauf in eine kleine, dicht bewaldete Bergkette über. Jason und sein Gegner aus der Passage in Macao gingen auf einem schmalen Fußweg. Der Chinese blieb stehen und blickte zu den Hügeln auf.

»Noch fünf oder sechs Kilometer, dann kommen wir an ein Feld. Das überqueren wir und gehen dann in den Wald. Wir müssen vorsichtig sein.«

»Sind Sie sicher, daß die dort sind?«

»Ich habe die Nachricht überbracht. Wenn dort ein Lagerfeuer brennt, sind sie dort.«

»Was war das für eine Nachricht?«

»Eine Lagebesprechung war nötig.«

»Warum jenseits der Grenze?«

»Sie konnte nur jenseits der Grenze stattfinden. Auch das stand in der Nachricht.«

»Aber Sie wissen nicht, warum.«

»Ich bin nur der Bote. Die Dinge sind nicht im Gleichgewicht.« »Das haben Sie gestern nacht schon gesagt. Können Sie mir nicht erklären, was Sie damit meinen?«

»Ich kann es mir selbst nicht erklären.«

»Könnte es deshalb sein, weil die Lagebesprechung hier stattfinden mußte? In China?«

»Das ist sicher ein Teil davon.«

»Gibt es noch mehr?«

»Wen ti«, sagte der Führer. »Fragen, die aus Gefühlen entstehen.«

»Ich glaube, das verstehe ich.« Und Jason verstand es tatsächlich. Er hatte dieselben Fragen, dieselben Gefühle gehabt, als er sah, wie der Meuchelmörder, der sich Borowski nannte, in einem Staatswagen der Volksrepublik China fuhr.

»Sie waren zu großzügig zu dem Grenzbeamten. Die Uhr war zu teuer.«

»Es könnte sein, daß ich ihn wieder brauche.«

»Vielleicht ist er nicht auf demselben Posten.«

»Ich werde ihn schon finden.«

»Er wird die Uhr verkaufen.«

»Gut. Dann bekommt er eine neue.«

Geduckt rannten sie durch das hohe Gras auf dem Feld, Borowski immer direkt hinter dem Führer; seine Augen

schweiften beständig zu ihren Flanken und nach vorne,

entdeckten Schatten in der Dunkelheit - aber völlig dunkel war es nicht. Schnelle, tieffliegende Wolken verdunkelten den Mond und filterten sein Licht, aber der Mondschein brach immer

wieder für kurze Augenblicke durch und beleuchtete die

Landschaft. Sie erreichten einen Steilhang mit hohen Bäumen. Der Chinese blieb stehen, drehte sich um und hob beide Hände.

»Was ist?« flüsterte Jason.

»Wir müssen langsamer gehen und ganz leise sein.«

»Streifen?«

Der Führer zuckte die Achseln. »Ich weiß nicht. Da ist keine Harmonie.«

Sie krochen durch dichtes Unterholz, hielten jedesmal inne, wenn ein aufgescheuchter Vogel kreischte und dann sein Flügelschlag zu hören war. Das Summen des Waldes durchdrang alles; die Grillen zirpten ihre pausenlose Symphonie, eine einsame Eule schrie in der Ferne, dann gab ihr eine andere Antwort, und kleine Geschöpfe, Frettchen ähnlich, huschten durch das Unterholz. Jetzt hatten Borowski und sein Führer den Waldrand erreicht; vor ihnen erstreckte sich eine zweite Wiese mit hohem Gras, und in der Ferne waren die ausgezackten Umrisse eines weiteren steilen Waldstücks zu erkennen.

Und dort war noch etwas. Ein Feuerschein auf dem höchsten Punkt des nächsten Hügels, über den Baumwipfeln. Das war ein Lagerfeuer, das Lagerfeuer! Borowski mußte sich zusammenreißen, damit er nicht aufsprang, quer über die Wiese rannte und sich in den Wald stürzte, auf das Feuer zu. Doch alles hing jetzt davon ab, daß er Geduld hatte, und er agierte in einer Grauzone, die er gut kannte; unbestimmte Erinnerungen sagten ihm, daß er auf sich selbst vertrauen sollte - sie sagten ihm, daß er der Beste war. Geduld. Er würde das Feld überqueren und sich lautlos zu dem höchsten Punkt des Waldes schleichen; er würde eine Stelle im Wald finden, von der aus er einen guten Ausblick auf das Feuer und auf den Treffpunkt hatte. Er würde warten und beobachten; er würde wissen, wann er handeln mußte. Er hatte das in der Vergangenheit so oft getan

- er erinnerte sich jetzt nicht an Einzelheiten, wohl aber an das Schema. Ein Mann würde das Feuer verlassen, und er würde diesem Mann lautlos wie eine Katze durch den Wald folgen, bis der Augenblick kam. Und wiederum würde er den richtigen Augenblick wissen, und der Mann würde ihm gehören.

Marie, diesmal werde ich nicht versagen. Ich kann mich jetzt mit einer schrecklichen Art von Reinheit bewegen - ich weiß, das klingt verrückt, und doch ist es wahr ... ich kann mit Reinheit hassen. Dort bin ich, glaube ich, hergekommen. Drei blutige Leichen, die an ein Flußufer getrieben wurden, haben mich gelehrt zu hassen. Ein blutiger Handabdruck an einer Tür in Maine hat mich gelehrt, meinen Haß noch zu steigern und nicht zuzulassen, daß es wieder geschieht. Ich bin nicht oft anderer Meinung als du, meine Liebste, aber du hattest unrecht in Genf und unrecht in Paris. Ich bin ein Killer.

»Was ist denn mit Ihnen?« flüsterte der Führer, den Mund dicht an Jasons Ohr. »Sie haben nicht auf mein Signal reagiert!«

»Tut mir leid. Ich habe nachgedacht.«

»Das tue ich auch, peng you! Schließlich geht es um unser Leben!«

»Keine Sorge, Sie können jetzt gehen. Ich sehe das Feuer dort oben auf dem Hügel.« Borowski zog Geld aus der Tasche. »Ich gehe lieber allein. Die Gefahr, daß man einen Mann entdeckt, ist geringer als bei zweien.«

»Und wenn da andere Männer sind - Streifen? Sie haben mich in Macao niedergekämpft, aber ich bin in dieser Beziehung nicht schlecht.«

»Wenn solche Männer dort sind, will ich einen von ihnen finden.«

»Herr und Heiland, warum?«

»Ich brauche eine Waffe. Ich konnte das Risiko nicht eingehen, eine Pistole über die Grenze zu bringen.«

»Aiya!«

Jason reichte dem Mann das Geld. »Da haben Sie es. Neuntausendfünfhundert. Wollen Sie in den Wald zurückgehen und es zählen? Ich habe eine kleine Taschenlampe.«

»Man zweifelt nicht an dem Mann, der einen besiegt hat. Eine solche Ungehörigkeit wäre unwürdig.«

»Das sind große Worte, aber hüten Sie sich davor, in Amsterdam einen Diamanten zu kaufen. Verschwinden Sie. Das hier ist mein Territorium.«

»Und das hier ist meine Pistole«, sagte der Führer und zog eine Waffe aus dem Gürtel und reichte sie Borowski, während er mit der anderen Hand das Geld nahm. »Schießen Sie damit, wenn Sie müssen. Das Magazin ist voll - neun Schuß. Sie ist nicht registriert, läßt sich nicht zu mir zurückverfolgen. Das habe ich von dem Franzosen gelernt.«

»Die haben Sie über die Grenze mitgebracht?«

»Sie haben die Uhr gekauft, nicht ich. Ich hätte sie in einen Müllsack werfen können, aber dann habe ich sein Gesicht gesehen. Ich werde sie jetzt nicht brauchen.«

»Danke. Aber das sollte ich Ihnen noch sagen - wenn Sie mich angelogen haben, werde ich Sie finden. Darauf können Sie sich verlassen.«

»Dann wären es nicht meine Lügen, und Sie bekämen Ihr Geld zurück.«

»Sie sind einmalig.«

»Sie haben mich besiegt. Ich muß in allen Dingen ehrenwert sein.«

Borowski kroch langsam, ganz langsam durch das stachlige hohe Gras, das voll Nesseln war, zog sich die Stacheln vom Hals und der Stirn und war froh, daß die Nylonjacke sie abstieß. Er wußte instinktiv etwas, was sein Führer nicht wußte, nämlich warum er den Chinesen nicht bei sich haben wollte. Eine Wiese mit hohem Gras war der beste Ort für Streifen; die Halme bewegten sich, wenn Eindringlinge durch sie krochen. Deshalb mußte man die schwankenden Grashalme vom Boden aus beobachten und durfte sich nur dann bewegen, wenn eine Brise darüberstrich.

Er sah den Waldrand, Bäume, die am Ende der Grasfläche aufragten. Er richtete sich vorsichtig ein Stück weit auf und ließ sich dann schnell wieder fallen. Er blieb reglos liegen. Vor ihm, zu seiner Rechten, stand ein Mann am Wiesenrand; er hielt ein Gewehr in der Hand und beobachtete das Gras im Mondlicht, hielt nach Halmen Ausschau, die sich gegen die Brise bewegten. Ein Windstoß wehte von den Bergen herunter. Borowski nutzte ihn aus, kam bis auf drei Meter an den Mann heran. Zentimeter für Zentimeter kroch er auf den Wiesenrand zu; er bewegte sich jetzt parallel zu dem Mann, dessen Konzentration sich nach vorn, nicht auf die Seiten richtete. Jason hob den Kopf, um über die Grashalme wegsehen zu können. Der Mann blickte nach links. Jetzt!

Borowski sprang auf und warf sich mit einem Satz auf den Mann. In seiner Panik schwang der Wächter instinktiv den Gewehrkolben herum, um den plötzlichen Angriff abzuwehren. Jason packte die Waffe am Lauf, riß sie herum, ließ sie dem Mann auf den ungeschützten Schädel krachen und rammte ihm gleichzeitig das Knie in den Brustkorb. Der Posten brach zusammen. Borowski zerrte ihn schnell ins hohe Gras, wo er unsichtbar war. Mit so wenig Bewegung wie möglich zog er dem Posten die Jacke herunter und riß ihm das Hemd vom Rücken, fetzte das Tuch in Streifen. Wenige Augenblicke später war der Mann so gefesselt, daß er mit jeder Bewegung die Fesseln noch straffer zog. Er hatte einen Knebel im Mund, festgebunden mit einem Ärmel um den Kopf.

Normalerweise hätte Borowski, so wie in der Vergangenheit -er wußte instinktiv, daß das in ähnlichen Situationen sein normales Vorgehen gewesen war -, keine Zeit verloren und wäre quer durch den Wald auf das Feuer zugerannt. Statt dessen musterte er den bewußtlosen Asiaten, der vor ihm lag; irgend etwas störte ihn ... etwas paßte nicht ins Bild. Zuallererst hatte er erwartet, einen Posten in chinesischer Armeeuniform vorzufinden, denn er erinnerte sich nur allzu deutlich an den Dienstwagen in Shenzen und den Mann darin. Aber nicht nur die fehlende Uniform störte ihn, auch die Kleider, die der Mann trug. Sie waren billig und schmutzig und rochen nach ranzigen Speiseresten. Er bückte sich, drehte das Gesicht des Mannes herum, machte ihm den Mund auf; nur wenige Zähne, und die wenigen schwarz und faulig. Was für ein Posten war das, was für eine Streife? Das war ein Schläger - ohne Zweifel erfahren -, aber ein primitiver Verbrecher aus der Gosse Asiens, wo ein Menschenleben billig war. Und doch handelten die Männer bei dieser »Lagebesprechung« mit Zehntausenden von Dollar. Der Preis, den sie für ein Menschenleben bezahlten, war sehr hoch. Irgend etwas war hier tatsächlich nicht im Gleichgewicht.

Borowski packte das Gewehr und kroch aus dem Gras. Als er außer dem Säuseln des Waldes nichts hörte und auch nichts sah, richtete er sich auf und rannte zwischen die Bäume. Er arbeitete sich schnell und lautlos nach oben und hielt wie vorher jedesmal an, wenn ein Vogel schrie oder Schwingen flatterten oder das Grillenkonzert verstummte. Er kroch diesmal nicht auf dem Bauch, sondern auf Knien und Ellbogen und hielt den Gewehrlauf fest, um die Waffe, wenn nötig, als Keule zu benutzen. Schießen würde er nicht, es sei denn, sein Leben hinge davon ab, er durfte die Leute am Feuer nicht warnen. Die Falle war jetzt am Zuschnappen, es war einzig und allein eine Frage der Geduld. Jetzt hatte er den höchsten Punkt des Waldes erreicht und glitt hinter einen Felsbrocken am Rand des Lagerplatzes. Lautlos legte er das Gewehr ab und zog die Pistole aus dem Gürtel, die der Führer ihm gegeben hatte. Er spähte um den Felsbrocken herum.

Jetzt sah er, was er schon auf der Wiese erwartet hatte. Ein Soldat in Uniform mit einer Waffe an der Hüfte stand knappe sechs Meter links von dem Feuer. Es war, als wollte er gesehen, aber nicht erkannt werden. Nicht im Gleichgewicht. Der Mann sah auf die Uhr; das Warten hatte angefangen.

Es dauerte fast eine Stunde. Der Soldat hatte in der Zeit fünf Zigaretten geraucht; Jason hatte sich nicht von der Stelle gerührt und nur verhalten geatmet. Und dann geschah es, langsam, ohne Fanfarenstoß, ein Auftritt ohne jegliche Dramatik. Eine zweite Gestalt tauchte auf; ganz gemächlich kam sie aus den Schatten heraus, schob die Zweige auseinander und trat aus dem Wald heraus. Und dann zuckten ohne Warnung Blitze vom Nachthimmel und brannten sich in David Webbs Kopf, betäubten Jason Borowskis Bewußtsein.

Denn als der Mann in den Feuerschein trat, stöhnte Borowski auf und umkrampfte den Lauf der Pistole, um nicht zu schreien -oder zu töten. Er sah ein Gespenst seiner selbst, einen Geist aus der Vergangenheit, der jetzt wieder umging und Jagd auf ihn machte, auch wenn er im Augenblick selbst der Gejagte war. Das Gesicht war zugleich sein Gesicht und doch nicht das seine

- vielleicht das Gesicht, wie es gewesen war, ehe die Chirurgen es zum Gesicht von Jason Borowski machten. Ebenso wie der schlanke, straffe Körper war auch das Gesicht jünger - jünger als der legendäre Mann, den er imitierte -, und in seiner Jugend lag Kraft, die Kraft eines Delta von Medusa. Es war unglaublich, da war selbst der vorsichtige, katzenhafte Gang, die locker schwingenden langen Arme, die sich so meisterhaft auf die Kunst des Tötens verstanden. Es war Delta, der Delta, von dem man ihm erzählt hatte, der Delta, der Kain geworden war und schließlich Jason Borowski. Er sah sich selbst und doch nicht sich selbst, und dennoch einen Killer. Einen Meuchelmörder.

Ein Krachen in der Ferne durchbrach die Geräusche des Bergwaldes. Der Meuchelmörder blieb stehen, wirbelte dann vom Feuer weg und tauchte nach rechts, während der Soldat sich zu Boden fallen ließ. Eine ohrenbetäubende, hallende Gewehrsalve brach aus dem Wald; der Killer wälzte sich blitzschnell im Gras, und die Kugeln fetzten die Erde auf, während er das schützende Dickicht erreichte. Der chinesische Soldat hatte sich niedergekniet und feuerte wild in die Richtung des Meuchelmörders.

Und dann eskalierte der ohrenbetäubende Schlachtlärm. Die Explosionen waren immens. Eine erste Granate zerstörte den Lagerplatz, dann folgte eine zweite, die Bäume entwurzelte. Die trockenen, vom Wind zerzausten Äste fingen Feuer, und dann kam schließlich eine dritte Granate, die hoch in der Luft detonierte, mit ungeheurer Gewalt, an der Stelle, wo das Maschinengewehr gewesen war. Plötzlich waren überall Flammen, und Borowski schützte seine Augen, schob sich um den Felsbrocken herum, die Waffe in der Hand. Man hatte dem Killer eine Falle gestellt, und er war hineingelaufen! Der chinesische Soldat war tot, zerfetzt, die Waffe war ihm aus der Hand geflogen. Plötzlich kam eine Gestalt von links gerannt, in das Inferno hinein, das gerade noch ein Lagerfeuer gewesen war, und dann wirbelte sie herum, rannte quer durch die Flammen, entdeckte Jason und schoß auf ihn. Der Meuchelmörder war in den Wald gerannt in der Hoffnung, die töten zu können, die ihn töten wollten. Borowski fuhr herum, sprang zuerst nach rechts, dann nach links und ließ sich zu Boden fallen, ohne den laufenden Mann aus den Augen zu lassen. Dann richtete er sich auf. Er durfte ihn nicht entkommen lassen! Er raste durch die wütenden Flammen; die Gestalt vor ihm bahnte sich den Weg durch die Bäume. Das war der Killer! Der Mann, der sich als tödliche Legende ausgab, die Asien in Furcht und Schrecken versetzte, der Mann, der sich eben diese Legende zunutze machte, indem er das Original zerstörte und die Frau, die jener Mann liebte. Borowski rannte, wie er noch nie zuvor gerannt war, wich Bäumen aus und sprang so behend über das Unterholz, als lägen nicht Jahre zwischen Medusa und der Gegenwart. Er war wieder bei Medusa. Er war Medusa! Und alle zehn Meter schrumpfte der Abstand um fünf zusammen. Er kannte die Wälder, und jeder Wald war ein Dschungel, und jeder Dschungel sein Freund. Er hatte in den Dschungeln überlebt; er kannte instinktiv ihre Schleichpfade, ihr Gestrüpp, die Löcher im Boden und die Gräben. Er holte auf, holte auf! Und dann war der Killer nur noch wenige Schritte vor ihm.

Mit, wie ihm schien, der letzten Luft, die er bekam, sprang Jason ihn an, sprang Borowski Borowski an! Seine Hände waren die Krallen einer Bergkatze, als er die Schultern der rennenden Gestalt vor sich packte, und seine Finger gruben sich in das harte Fleisch und die Knochen, als er den Killer herumriß, die Absätze in die Erde stemmte und dem Mann das rechte Knie gegen die Wirbelsäule rammte. In seiner Raserei mußte er sich mit Gewalt daran erinnern, daß er ihn nicht umbringen durfte. Bleib am Leben! Du bist meine Freiheit, unsere Freiheit!

Der Meuchelmörder schrie auf, als der echte Jason Borowski ihm mit dem Arm den Hals zudrückte, seinen Kopf nach rechts preßte und ihn schließlich zu Boden drückte. Beide stürzten, aber Borowskis Unterarm lag immer noch an der Kehle des Mannes, und mit der linken geballten Faust schlug er dem Killer in den Unterleib und trieb die Luft aus seinem geschwächten Körper.

Das Gesicht? Das Gesicht? Wo war das Gesicht aus der Vergangenheit? Das einem Gespenst gehörte, das ihn in eine Hölle zurückholen wollte, die sein Gedächtnis verdrängt hatte. Wo war das Gesicht? Das war es nicht!

»Delta!« schrie der Mann unter ihm.

»Wie haben Sie mich genannt?« brüllte Borowski.

»Delta!« kreischte die sich windende Gestalt. »Kain ist für Carlos, Delta ist für Kainl«

»Zur Hölle mit Ihnen! Wer -«

»D'Anjou! Ich bin d'Anjou! Medusa! Tarn Quan! Wir haben keine Namen, nur Symbole! Um Gottes willen, Paris! Der Louvre! Sie haben mir in Paris das Leben gerettet - so wie Sie bei Medusa so vielen das Leben gerettet haben! Ich bin d'Anjoul

Ich habe Ihnen in Paris gesagt, was Sie wissen mußten! Sie sind Jason Borowski! Der Irre, der vor uns flieht, ist nur ein Geschöpf!Mein Geschöpf!«

Webb starrte das verzerrte Gesicht unter sich an, den perfekt gestutzten grauen Schnurrbart und das silbergraue Haar. Der Alptraum war zurückgekehrt ... er war wieder in den dampfenden Dschungeln von Tarn Quan, und es gab keinen Weg aus dem Dschungel, und rings um sie lauerte der Tod. Und dann war er plötzlich in Paris und näherte sich im grellen Nachmittagssonnenschein den Louvretreppen. Schüsse. Quietschende Reifen, schreiende Menschen. Er mußte das Gesicht unter sich retten! Mußte das Gesicht retten, das zu Medusa gehörte, weil dieser Mann die fehlenden Stücke in dem irrwitzigen Puzzle liefern konnte!

»D'Anjou?« flüsterte Jason. »Sie sind d'Anjou?«

»Wenn Sie meinen Hals loslassen«, würgte der Franzose, »erzähle ich Ihnen eine Geschichte. Sie können mir bestimmt auch eine erzählen.«

Philippe d'Anjou sah sich die Überreste des Lagerplatzes an, wo jetzt nur noch rauchende Trümmer waren. Er bekreuzigte sich, während er die Taschen des toten Soldaten durchsuchte und ihnen alles Wertvolle entnahm. »Wenn wir gehen, befreien wir den Mann auf der Wiese«, sagte er. »Es gibt keinen anderen Zugang zu diesem Platz. Deshalb habe ich ihn dort unten aufgestellt.«

»Und wonach sollte er Ausschau halten?«

»Ich komme wie Sie von Medusa. Wiesen sind - allen Dichtern und Verbrauchern zum Trotz - gleichzeitig Straßen und Fallen. Guerillas wissen das. Wir wußten das.«

»Mit mir können Sie nicht gerechnet haben.« »Kaum. Aber ich habe jeden Schachzug meines Geschöpfes im voraus berechnet. Er sollte allein kommen. Die Anweisungen waren klar, aber wer kann ihm schon trauen? Ich zuallerletzt.«

»Sie sind mir weit voraus.«

»Das gehört mit zu meiner Geschichte. Sie werden sie hören.«

Sie gingen durch den Wald, und d'Anjou, nicht mehr der Jüngste, hielt sich an den Baumstämmen und Zweigen fest, damit er leichter vorankam. Sie erreichten die Wiese und hörten die gedämpften Schreie des gefesselten Postens, als sie in das hohe Gras traten. Borowski schnitt die Knebel mit seinem Messer auf, und der Franzose bezahlte den Chinesen.

»Zou ba!« schrie d'Anjou. Der Mann floh in die Dunkelheit. »Das ist Abschaum. Alle sind sie Abschaum, aber wenn der Preis stimmt, sind sie zum Morden bereit und tauchen dann unter.«

»Sie haben heute abend versucht, ihn umzubringen, nicht wahr? Es war eine Falle.«

»Ja. Ich habe geglaubt, daß ihn die Explosionen verletzt haben. Deshalb bin ich ihm nachgelaufen.«

»Und ich habe geglaubt, er sei umgekehrt, um Sie von hinten anzugreifen.«

»Ja, so hätten wir das bei Medusa gemacht -«

»Deshalb habe ich Sie für ihn gehalten.« Und dann schrie Jason plötzlich wütend: »Was haben Sie getan?«

»Das gehört mit zu der Geschichte.«

»Ich will sie hören. Jetzt!«

»Ein paar hundert Meter links von hier ist ein flaches Stück«, sagte der Franzose und deutete in die Richtung. »Früher war es einmal eine Weide, aber in letzter Zeit hat man es als Hubschrauberlandeplatz benutzt, um sich hier mit dem Meuchelmörder zu treffen. Lassen Sie uns dorthin gehen und

ausruhen - und reden. Nur für den Fall, daß die Überreste des Feuers jemanden vom Dorf anlocken.«

»Das ist fünf Meilen entfernt.«

»Trotzdem, wir sind in China.«

Die Wolken hatten sich aufgelöst, der Nachtwind hatte sie verjagt; der Mond näherte sich dem Horizont, stand aber immer noch so hoch am Himmel, daß er die fernen Berge beschien. Die beiden so verschiedenen Männer von Medusa saßen auf dem Boden. Borowski zündete sich eine Zigarette an, während d'Anjou das Wort ergriff. »Erinnern Sie sich noch an das überfüllte Cafe in Paris, in dem wir uns nach dem Wahnsinn im Louvre unterhalten haben?«

»Aber ja. Carlos hätte uns an jenem Nachmittag beinahe umgebracht.«

»Fast wäre es Ihnen gelungen, den Schakal in die Falle zu locken.«

»Aber es ist mir nicht gelungen. Was ist mit Paris, mit dem Cafe?«

»Ich habe Ihnen damals gesagt, daß ich nach Asien zurückgehen würde. Nach Singapur oder Hongkong, vielleicht auch auf die Seychellen, habe ich, glaube ich, gesagt. Frankreich war für mich nie gut - und zu mir auch nicht. Nach Dien Bien Phu - alles was mir gehörte, war zerstört, von unseren eigenen Truppen in die Luft gejagt - war es sinnlos, über Wiedergutmachung zu reden. Leeres Geschwätz von Männern mit leeren Köpfen. Deshalb habe ich mich Medusa angeschlossen. Die einzige Chance, mein Eigentum zurückzubekommen, lag in einem amerikanischen Sieg.«

»Ich erinnere mich«, sagte Jason. »Was hat das mit heute nacht zu tun?«

»Ich bin also tatsächlich nach Asien zurückgekehrt. Da der Schakal mich gesehen hatte, mußte ich dabei Umwege machen, und dadurch hatte ich Zeit zum Nachdenken. Ich mußte über meine Lage nachdenken und die Möglichkeiten, die ich hatte. Da ich mich auf der Flucht befand, verfügte ich nicht über größere Mittel, aber ich war auch nicht gerade knapp bei Kasse. Ich ging das Risiko ein, an dem Nachmittag in das Geschäft in der Rue St. Honore zurückzukehren, und habe, offen gestanden, jeden Sou gestohlen, dessen ich habhaft werden konnte. Ich kannte die Kombination des Safes, und der war zum Glück recht gut gefüllt. Das reichte aus, um vor Carlos ans andere Ende der Welt zu fliehen und dort viele Wochen ohne Sorgen leben zu können. Aber was sollte ich dann anfangen? Eines Tages würden die Mittel erschöpft sein, und das, was ich gelernt hatte -was in der zivilisierten Welt so nützlich war -, würde nicht ausreichen, um hier drüben im Herbst meines Lebens ein so angenehmes Leben zu führen wie das, um das man mich gebracht hatte. Aber ich war ja nicht umsonst eine Schlange am Haupt der Medusa gewesen. Ich entdeckte und entwickelte, weiß Gott, Talente, von denen ich mir hätte nie träumen lassen, daß ich über sie verfügte - und offen gestanden entdeckte ich auch, daß ich keine moralischen Skrupel hatte. Man hatte mir unrecht getan, und das gab mir das Recht, anderen unrecht zu tun. Fremde ohne Namen und ohne Gesicht hatten zahllose Male versucht, mich umzubringen, also konnte ich auch die Verantwortung für den Tod anderer Fremder ohne Gesicht und ohne Namen übernehmen. Ausgleichende Gerechtigkeit, nicht wahr? Das war plötzlich nur noch eine mathematische Gleichung.«

»Ich höre jede Menge Scheiße«, erwiderte Borowski.

»Dann hören Sie mir nicht richtig zu, Delta.«

»Ich bin nicht Delta.«

»Gut, Borowski.«

»Ich bin nicht - reden Sie weiter. Vielleicht bin ich es doch.«

»Comment?«

»Rien. Reden Sie weiter.«

»Es kam mir in den Sinn, daß Jason Borowski, ganz gleich, was Ihnen in Paris widerfahren war - ob Sie nun gewonnen oder verloren hatten, ob man Sie umgebracht hatte oder nicht -, daß Jason Borowski erledigt war. Und bei allen Heiligen, ich wußte, daß Washington sich dazu äußern würde; Sie würden einfach verschwinden. Abschußliste ist der offizielle Terminus, glaube ich.«

»Ja«, sagte Jason. »Ich war also erledigt.«

»Naturellement. Aber nichts darüber würde bekannt werden, das wäre unmöglich gewesen. Man dieu, der Meuchelmörder, den sie erfunden hatten, war wahnsinnig geworden - er hatte gemordet! Nein, nichts würde darüber verlauten. Strategen ziehen sich in die finstersten Winkel zurück, wenn ihre Pläne katastrophale Folgen haben.«

»Soviel weiß ich auch.«

»Bien. Dann können Sie die Lösung begreifen, die ich für mich fand, für die letzten Tage eines alternden Mannes.«

»Langsam dämmert es mir.«

»Bien encore. Hier in Asien gab es ein Vakuum. Jason Borowski existierte nicht mehr, aber seine Legende lebte noch. Und es gibt Leute, die für Dienste eines außergewöhnlichen Mannes bezahlen. Deshalb wußte ich, was ich zu tun hatte. Es kam einfach darauf an, den Richtigen zu finden -«

»Den Richtigen?«

»Nun gut, den Falschen, wenn Sie so wollen, und ihn im Sinne von Medusa auszubilden, ihm alles beizubringen, was das am meisten gefürchtete Mitglied unserer offiziösen Bruderschaft von Kriminellen gekonnt hätte. Ich ging nach Singapur und durchsuchte die Höhlen der Ausgestoßenen, fürchtete oft um mein Leben, bis ich den Mann fand. Und ich fand ihn schnell, wie ich vielleicht hinzufügen darf. Er war verzweifelt; seit beinahe drei Jahren war er um sein Leben gerannt und seinen Jägern immer nur ein paar Schritte voraus gewesen. Er ist ein Engländer, ein ehemaliger Angehöriger des Royal Commando, der eines Nachts im Suff Amok lief und sieben Menschen auf den Straßen Londons ermordete. Wegen seiner militärischen Verdienste schickte man ihn in ein psychiatrisches Sanatorium in Kent, aus dem er entkam und sich irgendwie - Gott allein weiß, wie er es schaffte - nach Singapur durchschlug. Er verfügte über das ganze Instrumentarium; das, was er gelernt hatte, mußte nur noch verfeinert und in die richtigen Bahnen gelenkt werden.«

»Er sieht aus wie ich. Wie ich einmal aussah.«

»Inzwischen viel mehr als früher. Es gab da eine gewisse Ähnlichkeit in den Zügen, und die Körpergröße und der muskulöse Körper waren nützlich. Nur seine etwas vorstehende Nase mußte geändert und sein Kinn abgerundet werden, weil es kantiger war, als ich Ihres in Erinnerung hatte - als Delta natürlich. In Paris waren Sie anders, aber nicht so radikal verändert, daß ich Sie nicht erkannt hätte.«

»Vom Royal Commando«, sagte Jason leise. »Das paßt ins Bild. Wer ist er?«

»Er ist ein Mann ohne Namen, aber nicht ohne eine makabre Geschichte«, antwortete d'Anjou und blickte zu den Bergen in der Ferne hinüber.

»Kein Name ...?«

»Er hat mir nie einen genannt, den er nicht im nächsten Atemzug wieder dementiert hätte - und keiner davon war auch nur im entferntesten authentisch. Er hütet diesen Namen, als wäre er sein ganzes Leben, als würde seine Enthüllung unvermeidbar zu seinem Tod führen. Er hat natürlich recht. Wenn ich seinen Namen wüßte, könnte ich ihn über einen

Strohmann an die britischen Behörden in Hongkong weitergeben. Dann würden dort die Computer heißlaufen, man würde Spezialisten aus London einfliegen und eine Jagd in Gang setzen, wie ich sie nie zustande bekäme. Sie würden ihn niemals lebend fangen - das würde er nicht zulassen, und ihnen wäre es gleichgültig - und damit hätte ich mein Ziel erreicht.«

»Warum wollen ihn die Briten liquidieren?«

»Kurz gesagt, Washington hat sein My Lai und seine Medusa gehabt, während London in viel jüngerer Vergangenheit eine Kommandotruppe hatte, angeführt von einem geisteskranken Mörder, der Hunderte von Menschen auf dem Gewissen hat -wobei er zwischen Schuldigen und Unschuldigen kaum einen Unterschied machte. Er trägt zu viele Geheimnisse im Kopf herum, die im Nahen Osten und in Afrika zu Vergeltungsmaßnahmen führen könnten, wenn sie bekannt würden. Die Staatsraison steht immer an erster Stelle, das wissen Sie. Oder sollten es wissen.«

»Er hat die Truppe angeführt?« fragte Borowski, ebenso verblüfft wie benommen.

»Er war kein gewöhnlicher Soldat, Delta. Er war mit zweiundzwanzig Captain und mit vierundzwanzig Major, und das zu einer Zeit, als Whitehalls leere Kassen Beförderungen fast unmöglich machten. Wenn er weiterhin Glück gehabt hätte, wäre er jetzt ohne Zweifel schon Brigadier oder sogar General.«

»Hat er Ihnen das gesagt?«

»Im Quartalssuff, wenn die häßliche Wahrheit nach oben trieb

- aber nie sein Name. Das passierte gewöhnlich ein- bis zweimal im Monat und dauerte dann immer ein paar Tage, und dann spuckte er sein ganzes Leben in einem besoffenen Meer von Selbsthaß aus. Aber bevor es zu solchen Ausbrüchen kam, war er immer ganz vernünftig und sagte, ich solle ihn anschnallen, einsperren, ihn vor sich selbst schützen ... Im Suff erlebte er das Entsetzliche aus seiner Vergangenheit noch einmal, und seine

Stimme wurde heiser und kehlig, hohl. Wenn der Alkohol über ihn Macht gewann, schilderte er Szenen der Folterung und der Verstümmelung, in denen er Gefangene verhörte und ihnen Messer in die Augen bohrte, ihnen die Handgelenke aufschlitzte und seinen Gefangenen befahl, dabei zuzusehen, wie ihr Leben aus ihren Adern rann. Soweit ich die einzelnen Bruchstücke zusammensetzen konnte, hat er die gefährlichsten und brutalsten Operationen gegen die Fanatikeraufstände Ende der siebziger und Anfang der achtziger Jahre befehligt, angefangen vom Jemen bis zu den Blutbädern in Ostafrika. In einem Moment trunkenen Jubels sprach er davon, daß selbst Idi Amin bei der Erwähnung seines Namens den Atem angehalten habe, so weit verbreitet sei sein Ruf gewesen, es Idi Amin in seiner Strategie der Brutalität gleichzutun - ja, ihn zu übertreffen.« D'Anjou hielt inne, nickte langsam und zog die Brauen hoch, als akzeptiere er das Unerträgliche. »Er war ein Untermensch - ist ein Untermensch -, aber trotz alledem ein hochintelligenter sogenannter Offizier und Gentleman. Ein völliges Paradoxon, ein totaler Widerspruch für jeden zivilisierten Menschen ... Er lachte nur darüber, daß seine Truppen ihn verachteten und ihn als Bestie bezeichneten, und doch wagte es nie einer, offiziell Beschwerde einzulegen.«

»Warum nicht?« fragte Jason, von dem, was er hörte, aufgewühlt und gequält. »Warum haben sie ihn nicht angezeigt?«

»Weil er sie immer wieder heil herausgebracht hat - die meisten jedenfalls -, wenn die Schlacht hoffnungslos verloren schien.«

»Ich verstehe«, sagte Borowski und ließ die Bemerkung gleichsam in der Bergbrise hängen. »Nein, ich verstehe nicht«, rief er dann zornig, als hätte ihn plötzlich und unerwartet etwas gestochen. »Warum haben seine Vorgesetzten ihn gewähren lassen? Sie müssen es doch gewußt haben!«

»Wenn ich ihn in seinem Suff richtig verstanden habe, schaffte er es, Aufträge zu erledigen, die andere nicht geschafft haben - oder nicht anpacken wollten. Er hat das Geheimnis gelernt, das wir bei Medusa vor langer Zeit gelernt haben. Man muß die brutalsten Spielregeln des Feindes übernehmen - muß die Regeln je nach Kultur ändern. Schließlich ist für andere ein Menschenleben nicht das, was es in der jüdisch-christlichen Zivilisation ist. Wie könnte es auch? Für so viele ist der Tod eine Erlösung aus unerträglichen Lebensumständen.«

»Atmen ist atmen!« beharrte Jason schroff. »Leben ist leben, und Denken ist denken!« fügte David hinzu. »Er ist ein Neandertaler.«

»Er war auch nicht schlimmer, als es Delta manchmal war. Und wie oft haben Sie -«

»Sagen Sie das nicht!« fiel der Mann von Medusa dem Franzosen ins Wort. »Das war nicht das gleiche.«

»Aber vergleichbar«, beharrte d'Anjou. »Am Ende kommt es doch eigentlich nicht auf die Motive an. Nur auf die Resultate. Oder wollen Sie die Wahrheit nicht akzeptieren? Früher haben Sie sich der Wahrheit gestellt. Lebt Jason Borowski jetzt mit Lügen?«

»Im Augenblick lebe ich nur - von einem Tag zum nächsten, von einer Nacht zur nächsten, bis es vorbei ist. So oder so.«

»Sie müssen sich deutlicher ausdrücken.«

»Wenn ich will oder muß«, erwiderte Borowski eisig. »Er ist also gut, nicht wahr? Ihr namenloser Major von der Commando-Truppe. Er versteht sich auf das, was er tut.«

»Ebensogut wie Delta - vielleicht besser. Sehen Sie, er hat kein Gewissen, überhaupt keines. Sie andererseits, so gewalttätig Sie auch waren, haben gelegentlich Mitgefühl gezeigt. Irgend etwas in Ihnen verlangte das. >Verschont diesen Manne, haben Sie manchmal gesagt. >Er ist ein Ehemann, ein Vater, ein Bruder. Macht ihn kampfunfähig, aber laßt ihn am

Leben, sorgt dafür, daß er nicht zum Krüppel wird ... Mein Geschöpf, Ihr Doppelgänger, würde das nie tun. Er ist immer auf die Endlösung aus - will sein Opfer sterben sehen.«

»Was ist mit ihm passiert? Warum hat er in London soviel Menschen umgebracht? Bloßer Suff ist kein Grund, nicht nach allem, was er hinter sich hatte.«

»Doch, wenn es eine Art zu leben ist, von der man sich nicht lösen kann.«

»Man läßt die Waffe stecken, wenn man nicht bedroht wird. Sonst provoziert man die Bedrohung nur.«

»Er hat keine Waffe benutzt. In jener Nacht in London waren es die bloßen Hände.«

»Was?«

»Er streifte durch die Straßen und suchte nach eingebildeten Feinden - so habe ich mir das aus seinem besoffenen Geschwätz zusammengereimt. >Es war in ihren Augen! < schrie er. >Man kann es ihnen immer an den Augen ablesen! Sie wissen, wer ich bin, was ich bin.< Ich sage Ihnen, Delta, es war ebenso erschreckend wie ermüdend, und er hat mir nie einen Namen genannt, mir nie einen Hinweis gegeben, bis auf den von Idi Amin, mit dem auch jeder andere betrunkene Glücksritter prahlen würde, um anzugeben. Die Briten in Hongkong einzuschalten, würde bedeuten, daß ich Farbe bekenne, und das kann ich nach allem, was war, auf keinen Fall tun. Das Ganze ist so frustrierend, also habe ich die Methoden von Medusa benutzt. Tu es selbst. Sie haben uns das beigebracht, Delta. Sie haben uns immer wieder gesagt - uns befohlen -, wir sollten von unserer Phantasie Gebrauch machen. Und das habe ich heute nacht getan. Und es ist danebengegangen, wie es von einem alten Mann nicht anders zu erwarten war.«

»Beantworten Sie meine Frage«, drängte Borowski. »Warum hat er diese Menschen in London umgebracht?«

»Aus einem ebenso banalen wie sinnlosen Grund - und einem ach so vertrauten. Er hatte sich eine Abfuhr geholt, und diese Abfuhr konnte sein Ego nicht verkraften. Ich bezweifle, daß irgendwelche anderen Gefühlsregungen dahintersteckten. So wie bei all seinen anderen Neigungen ist für ihn auch sexuelle Aktivität nur etwas Animalisches; Zärtlichkeit hat dabei nichts verloren, dazu ist er gar nicht fähig. Man dieu, wie recht er hatte!«

»Noch einmal. Was ist passiert?«

»Er war verwundet von irgendeinem besonders brutalen Einsatz in Uganda zurückgekehrt und hatte erwartet, er könne mit einer Frau in London dort weitermachen, wo er aufgehört hatte - eine Dame aus allerbestem Stall, wie die Engländer sagen -, aber sie weigerte sich, ihn zu empfangen, und beauftragte bewaffnete Posten, ihr Haus in Chelsea zu bewachen, nachdem er sie angerufen hatte. Zwei von diesen Männern waren unter den sieben, die er in jener Nacht tötete. Sehen Sie, die Dame erklärte, er habe ein unkontrollierbares Temperament und werde im Suff gewalttätig, was natürlich stimmte. Aber für mich war er genau der Richtige. Ich folgte ihm in Singapur aus einer zweifelhaften Bar und sah, wie er in einer Seitengasse zwei mordlustige Gangster fertigmachte - contre-bandiers, die in dieser dreckigen Spelunke am Hafen mit Rauschgift Geld machten -, und sah zu, wie er sie gegen die Mauer drückte und mit einer einzigen schnellen Handbewegung beiden die Kehle aufschlitzte und ihnen das Geld aus der Tasche zog. In dem Augenblick wußte ich, daß ich meinen Jason Borowski gefunden hatte. Ich ging langsam und lautlos auf ihn zu, mit ausgestreckter Hand, in der ich mehr Geld hielt, als er seinen Opfern weggenommen hatte. Wir kamen ins Gespräch. Das war der Anfang.«

»So schuf Pygmalion seine Galatea, und der erste Auftrag, den Sie akzeptierten, wurde Aphrodite und gab ihm Leben.

Bernard Shaw wäre begeistert von Ihnen, und ich könnte Sie umbringen.«

»Wozu? Sie sind heute nacht hierher gekommen, um ihn zu finden. Ich wollte ihn vernichten.«

»Was auch zu Ihrer Geschichte gehört«, sagte David Webb und wandte den Blick von dem Franzosen ab und blickte zu der Bergkette hinüber, dachte an Maine und das Leben mit Marie, das so gewalttätig gestört worden war.

»Sie Schwein'.« schrie er plötzlich. »Ich könnte Sie umbringen! Haben Sie eigentlich eine Ahnung, was Sie getan haben?«

»Das ist Ihre Geschichte, Delta. Lassen Sie mich die meine zu Ende erzählen.«

»Aber bitte mit Sinn und Verstand ... Echo. So hießen Sie doch, nicht wahr? Echo?« Die Erinnerungen kamen zurück.

»Ja, so hieß ich. Sie haben Saigon einmal gesagt, daß Sie nicht ohne den >alten Echo< reisen können. Ich mußte bei Ihrem Team sein, weil ich erkannte, wann es mit den Stämmen und den Dorfhäuptlingen Schwierigkeiten geben würde, weil ich das besser konnte als die anderen - aber das hatte wenig mit dem Symbol für mich zu tun. Natürlich war daran nichts Mythologisches. Ich hatte zehn Jahre in den Kolonien gelebt. Ich wußte, wann die Quan-sie logen.«

»Erzählen Sie Ihre Geschichte zu Ende«, befahl Borowski.

»Verrat«, sagte d'Anjou mit ausgebreiteten Händen. »So wie man Sie geschaffen hat, habe ich mir meinen eigenen Jason Borowski geschaffen. Und so wie Sie verrückt wurden, geschah es auch mit meinem Geschöpf. Er wandte sich gegen mich; er wurde die Realität, die meine Erfindung war. Nicht Galatea, Delta - er wurde zu Frankensteins Monster, ohne die Qualen, die jene Kreatur litt. Er brach mit mir und begann, für sich selbst zu denken, für sich selbst zu handeln. Als er seine Verzweiflung überwunden hatte - mit meiner unschätzbaren Hilfe und dem

Messer eines Chirurgen -, wurde er wieder so autoritär, so arrogant, so häßlich wie früher. Er hält mich für eine Null. Das hat er mir ins Gesicht geschrien, >eine Nullbenutzt hat. Ich, der ich ihn geschaffen habe!«

»Sie meinen, er handelt seine Verträge selbst aus?«

»Perverse Verträge, absurd und ungemein gefährlich.«

»Aber ich habe seine Spur durch Sie gefunden, durch Ihr Arrangement im Kam-Pek-Casino. Tisch fünf. Die Telefonnummer eines Hotels in Macao und ein Name.«

»Eine Kontaktmethode, die er mit Vergnügen beibehält. Warum auch nicht? Sie ist so gut wie sicher, und was kann ich tun? Soll ich zu den Behörden gehen und sagen: >Hören Sie, Gentlemen, da gibt es diesen Burschen, für den ich irgendwie verantwortlich bin - er besteht darauf, sich meine Arrangements zunutze zu machen, damit er gegen Geld morden kann.< Sogar meinen Verbindungsmann benutzt er.«

»Den Zhongguo ren mit den schnellen Händen und den noch schnelleren Füßen?«

D'Anjou sah Jason an. »So haben Sie es also angestellt, so haben Sie hierher gefunden? Delta versteht sich also immer noch auf sein Handwerk, n'est-cepas! Lebt der Mann?«

»Ja, das tut er, und er ist zehntausend Dollar reicher.«

»Er ist ein geldgieriger cochon. Aber ich kann ihn nur schlecht kritisieren, schließlich habe ich ihn selbst benutzt. Ich habe ihm fünfhundert dafür bezahlt, daß er eine Botschaft entgegennahm und überbrachte.«

»Die Ihr Geschöpf heute nacht hierher gelockt hat, damit Sie es töten konnten? Wie konnten Sie so sicher sein, daß er kommt?«

»Ein Instinkt aus meiner Medusazeit und rudimentäres Wissen um eine außergewöhnliche Liaison, die er eingegangen ist, ein Kontrakt, der für ihn so einträglich und zugleich so gefährlich ist, daß er ganz Hongkong in den Krieg stürzen und die ganze Kronkolonie lahmlegen könnte.«

»Die Theorie habe ich schon einmal gehört«, sagte Jason, indem er sich an McAllisters Worte an jenem Abend in Maine erinnerte, »und ich glaube sie immer noch nicht. Wenn Killer sich gegenseitig umbringen, sind sie gewöhnlich diejenigen, die verlieren. Sie jagen sich in die Luft, und dann kommen die Informanten aus dem Unterholz und denken, sie könnten die nächsten sein.«

»Wenn die Opfer sich auf ein so bequemes Schema beschränken lassen, haben Sie sicherlich recht. Aber nicht, wenn zu ihnen ein mächtiger Politiker aus einer riesigen, angriffslustigen Nation gehört.«

Borowski starrte d'Anjou an. »China?« fragte er leise.

Der Franzose nickte. »Fünf Männer sind in Tsim Sha Tsui ermordet worden -«

»Das weiß ich.«

»Vier der Leichen waren ohne Bedeutung. Nicht die fünfte. Das war ein Vizepremierminister der Volksrepublik.«

»Du großer Gott!« Jason runzelte die Stirn, und plötzlich drängte sich ihm das Bild eines Wagens auf. Ein Wagen mit verdunkelten Fenstern, in dem ein Meuchelmörder saß. Ein Dienstwagen der chinesischen Regierung.

»Meine Gewährsleute sagen mir, daß die Drähte zwischen Government House und Beijing heißgelaufen sind und daß am Ende die Staatsraison und das Gesicht den Sieg davontrugen -dieses Mal. Was hatte schließlich der Vizepremier in Kowloon zu suchen? Gehört ein so erhabenes Mitglied des Zentralkomitees auch zu den Korrumpierten? Wie ich sage, dieses Mal ist es noch gutgegangen. Nein, Delta, mein Geschöpf muß vernichtet werden, ehe es einen Vertrag abschließt, der uns alle in den Abgrund stürzen könnte.«

»Tut mir leid, Echo. Nicht vernichtet. Gefangengenommen und ausgeliefert.«

»Das ist dann wohl Ihre Geschichte?« fragte d'Anjou.

»Ja, ein Teil von ihr.«

»Erzählen Sie.«

»Nur, was Sie wissen müssen. Man hat meine Frau entführt und nach Hongkong gebracht. Um sie zurückzubekommen - und ich werde sie zurückbekommen, sonst sterbt ihr alle - muß ich diesen Scheißkerl, den Sie geschaffen haben, abliefern. Und jetzt bin ich ihm einen Schritt näher, weil Sie mir helfen werden, und ich meine, mir wirklich helfen werden. Wenn nicht -«

»Drohungen sind unnötig, Delta«, unterbrach ihn der Franzose. »Ich weiß, wozu Sie fähig sind. Ich habe Ihnen selbst dabei zugesehen. Sie wollen ihn aus Ihren Gründen und ich aus meinen. Auf in den Kampf.«

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