Kapitel 19

Borowski beugte sich im Stuhl vor und blickte im Licht der Stehlampe in den Lauf der Waffe. Das Ganze war eine sinnlose, mechanische Übung; der Lauf war makellos. In den letzten vier Stunden hatte er d'Anjous Pistole bereits dreimal gereinigt, sie dreimal zerlegt und alle Einzelteile geölt, bis das dunkle Metall glänzte. Das beschäftigte ihn. Er hatte sich d'Anjous Arsenal an Waffen und Explosivstoffen angesehen, aber da sich das meiste in versiegelten Behältern befand, die vermutlich gegen jeden Zugriff gesichert waren, hatte er sich an ihnen nicht zu schaffen gemacht und sich auf die eine Pistole konzentriert. In der Wohnung des Franzosen an der Rua das Lorchas mit Blick über Macaos Porto Inferiore - den inneren Hafen - war wenig Platz zum Aufundabgehen, und sie waren übereingekommen, daß er untertags nicht hinausgehen sollte. In der Wohnung war er so sicher wie nur irgendwo in Macao. D' Anjou, der seine Wohnung beliebig oft wechselte, hatte das Appartement am Wasser noch nicht zwei Wochen unter einem falschen Namen gemietet. Er hatte dazu einen Anwalt eingeschaltet, den er nie persönlich kennengelernt hatte und der seinerseits einen »Mieter« den Mietvertrag unterschreiben ließ, den der Anwalt durch Boten über die Garderobe des überfüllten schwimmenden Casinos an seinen unbekannten Klienten geschickt hatte. Derart waren die Wege des Philippe d'Anjou, ehemals Echo von Medusa.

Jason setzte die Waffe wieder zusammen, drückte die Patronen ins Magazin und ließ es in den Kolben einschnappen. Er stand auf und ging, die Waffe in der Hand, ans Fenster. Auf der anderen Seite des Wassers lag die Volksrepublik, für jeden, der von Habgier getrieben war, mühelos zu erreichen. Was Grenzen anging, hatte es seit den Zeiten der Pharaonen nichts Neues mehr unter der Sonne gegeben. Sie wurden errichtet, um überschritten zu werden - so oder so.

Er blickte auf die Uhr. Es war kurz vor fünf Uhr nachmittags, die Sonne ging schon unter. D'Anjou hatte ihn um Mittag von Hongkong aus angerufen. Der Franzose war mit Borowskis Schlüssel zum Peninsula gegangen, hatte seinen Koffer gepackt, ohne auszuchecken, und würde die Fähre um 13.00 Uhr zurück nach Macao nehmen. Wo war er?

Die Fahrt dauerte nur eine knappe Stunde, und vom MacaoPier zur Rua das Lorchas waren es mit dem Taxi höchstens zehn Minuten. Aber Echo war unberechenbar.

Erinnerungsfetzen an Medusa, in d'Anjous Gegenwart aufgetaucht, beschäftigten Jason. Obwohl manche schmerzhaft und beängstigend waren, beruhigten sie ihn gleichzeitig, und auch das war dem Franzosen zu verdanken. Nicht nur, daß d'Anjou, wenn es darauf ankam, ein überzeugender Lügner sein konnte und ein Opportunist ersten Ranges. Nein, er steckte auch voller Einfalle. Und dann war der Franzose ein in der Wolle gefärbter Pragmatiker. Das hatte er in Paris bewiesen, und die Erinnerungen daran waren klar und deutlich. Wenn er sich verspätete, gab es dafür einen guten Grund. Wenn er nicht auftauchte, war er tot. Aber diese Vorstellung war für Borowski einfach nicht akzeptabel. D'Anjou war imstande, etwas zu tun, was Jason mehr als alles andere selbst tun wollte, nur daß er es nicht wagte, Maries Leben aufs Spiel zu setzen, indem er es tat. Es war schon Risiko genug, daß die Spur des falschen Borowski ihn überhaupt nach Macao geführt hatte. Aber solange er sich dem Lisboa-Hotel fernhielt, vertraute er auf seine Instinkte. Er würde sich vor jenen verborgen halten, die nach ihm Ausschau hielten - nach jemandem, der ihm auch nur entfernt in Größe, Körperbau oder Hautfarbe glich. Nach jemandem, der im Lisboa-Hotel Fragen stellte.

Ein einziger Anruf aus dem Lisboa bei dem Taipan in Hongkong, und Marie war tot. Der Taipan hatte nicht nur gedroht - Drohungen waren zu oft Finten ohne Bedeutung -, er hatte ein viel gefährlicheres Mittel eingesetzt. Nachdem er geschrien und die mächtige Pranke auf den Arm des zerbrechlichen Stuhls hatte herunterkrachen lassen, hatte er leise sein Wort gegeben! Marie würde sterben. Das war das Versprechen eines Mannes, der sein Wort hielt.

Und trotz alledem fühlte David Webb etwas, das er nicht definieren konnte. An dem hünenhaften Taipan war etwas Überlebensgroßes, etwas zu Dramatisches, das nichts mit seiner Größe zu tun hatte. Es war, als hätte er seine Leibesfülle auf eine Art und Weise zu seinem Vorteil eingesetzt, wie große Männer das selten tun, da sie es meist vorzogen, ihre schiere Größe für sich allein wirken zu lassen. Wer war der Taipan? Die Antwort war im Lisboa-Hotel zu finden, und da er es nicht wagte, selbst dorthin zu gehen, konnten d'Anjous Fähigkeiten ihm nutzen. Er hatte dem Franzosen sehr wenig gesagt; jetzt würde er ihm mehr sagen. Er würde einen brutalen Doppelmord beschreiben, ausgeführt mit einer Uzi, und sagen, eines der Opfer sei die Frau eines mächtigen Taipan gewesen. D'Anjou würde für ihn die Fragen stellen. Und wenn es Antworten gab, so würden ihn diese einen weiteren Schritt auf Marie zuführen.

Spiel das Spiel. Alexander Conklin.

Wessen Spiel? David Webb.

Du vergeudest Zeit! Jason Borowski. Finde den, der sich als Borowski ausgibt. Schnapp ihn!

Leise Schritte draußen im Korridor. Jason wandte sich vom Fenster ab und huschte zur Wand, preßte sich mit dem Rücken dagegen, die Pistole auf die Tür gerichtet und so postiert, daß das Türblatt ihn verdecken würde. Leise, vorsichtig schob sich ein Schlüssel ins Schloß. Dann schwang die Tür langsam auf.

Borowski ließ sie gegen den Eindringling zurückkrachen, wirbelte herum und packte die verblüffte Gestalt unter der Tür. Er riß ihn herein, trat die Tür zu, die Waffe auf den Kopf des zu Boden Gestürzten gerichtet, der einen Koffer und ein großes Paket hatte fallen lassen. Es war d'Anjou.

»Auf die Weise könnten Sie leicht eine Kugel in den Kopf kriegen, Echo!«

»Sucre bleu! Das ist garantiert das letzte Mal, daß ich auf Sie Rücksicht nehme! Sie können sich selbst nicht sehen, Delta.

Sie sehen genauso aus wie damals in Tarn Quan, als Sie tagelang nicht geschlafen hatten. Ich dachte, Sie ruhen sich vielleicht aus.«

Wieder eine Erinnerung, nur ein kurzes Aufblitzen. »In Tarn Quan«, sagte Jason, »da haben Sie gesagt, ich müsse schlafen, nicht wahr? Wir haben uns damals im Busch versteckt und Sie haben mich abgeschirmt und mir praktisch den Befehl erteilt, auszuruhen.«

»Das war eine ganz eigennützige Bitte. Wir waren nicht imstande, dort herauszukommen, nur Sie konnten das.«

»Sie haben damals etwas zu mir gesagt. Was? Ich habe Ihnen zugehört.«

»Ich habe Ihnen erklärt, daß Ausruhen ebenso eine Waffe sei wie jeder stumpfe Gegenstand oder jede Schußwaffe.«

»Mehr oder weniger habe ich mich später auch so verhalten.«

»Ich freue mich, daß Sie so klug waren, auf Leute zu hören, die älter sind als Sie. Darf ich jetzt bitte aufstehen? Würden Sie bitte diese blöde Waffe weglegen?«

»Oh, tut mir leid.«

»Wir haben keine Zeit«, sagte d'Anjou, stand auf und ließ den Koffer auf dem Boden liegen. Er riß das braune Papier von seinem Paket. Es enthielt gebügelte Khakikleidung, zwei Pistolenhalfter und zwei Schildmützen; er warf alles auf einen Stuhl. »Das sind Uniformen. Die entsprechenden Ausweispapiere habe ich in der Tasche. Ich fürchte, mein Rang ist höher als der Ihre, Delta, aber das Alter hat eben auch seine Privilegien.«

»Das sind Uniformen der Polizei von Hongkong.«

»Genauer: von Kowloon. Vielleicht haben wir eine Chance, Delta! Deshalb hat es auch so lange gedauert, bis ich wieder hier war. Der Flughafen Kai-tak! Die Sicherheitsvorkehrungen dort sind enorm, und das genau will der Mann, der Ihren Namen benutzt, um zu zeigen, daß er besser ist, als Sie das je waren! Es gibt natürlich keine Garantie, aber ich würde meinen Kopf darauf wetten - das ist eine klassische Herausforderung für einen Verrückten, der von seiner Bedeutung und seinen Fähigkeiten besessen ist. >Stellen Sie nur Ihre Streitkräfte auf, und dann werde ich durchbrechen.< Mit einem einzigen solchen Erfolg schafft er aufs neue die Legende von seiner Unbesiegbarkeit. Das kann nur er sein.«

»Fangen Sie von vorn an«, befahl Borowski.

»Ja, während wir uns anziehen«, sagte der Franzose, zog sein Hemd aus und schnallte den Hosengurt auf. »Schnell! Ich habe ein Motorboot auf der anderen Straßenseite. Vierhundert PS. Wir können in fünfundvierzig Minuten in Kowloon sein. Hier! Das ist Ihre! Man dieu, das Geld, das ich ausgegeben habe, ich könnte heulen.«

»Und die chinesische Küstenwache?« sagte Jason, während er seine Kleider abstreifte und nach der Uniform griff. »Die wird uns hochnehmen!«

»Quatsch. Mit bestimmten Booten verhandelt man über Funk und im Code. Schließlich gibt es bei uns so etwas wie Ehre. Wie glauben Sie eigentlich, daß wir unsere Ware befördern? Wie glauben Sie, daß wir überleben? Wir treffen uns in kleinen Buchten der chinesischen Inseln von Teh Sa Wei, und dort wird der Handel abgeschlossen. Schnell!«

»Was genau ist auf dem Flughafen los? Warum sind Sie so sicher, daß er es ist?«

»Der Gouverneur. Ein Attentat.«

»Was?« schrie Borowski entsetzt.

»Ich bin mit Ihrem Koffer vom Peninsula zur Star-Fähre gegangen. Das ist nur ein kurzes Stück, und die Fähre ist viel schneller als ein Taxi durch den Tunnel. In der Salisbury Road sah ich, wie sieben Streifenwagen im Karacho die Polizeikaserne verließen, und alle bogen nach links. Das kam mir komisch vor - zwei oder drei, ja, wenn es irgendwo eine Schlägerei gibt, aber sieben! Ich hab also meinen Kowlooner Kontaktmann angerufen, und der war sehr kooperativ -außerdem war es ohnehin kein Geheimnis mehr. Er hat gesagt, wenn ich bliebe, wo ich war, würde ich in den nächsten zwei Stunden mindestens noch zehn Streifenwagen und zwanzig Mannschaftswagen nach Kai-tak hinausfahren sehen. Was ich gesehen hatte, war nur die Vorhut. Sie hatten durch ihre Verbindungsleute im Untergrund gehört, daß ein Attentat auf den Krongouverneur geplant war.«

»Einzelheiten!« befahl Borowski schroff und griff nach dem langen Khakihemd und dem patronengefüllten Halftergürtel.

»Der Gouverneur kommt heute abend mit Leuten vom Auswärtigen Amt und einer chinesischen Verhandlungsdelegation mit dem Flugzeug aus Peking an. Der Flughafen wird von Zeitungsreportern und Fernsehteams wimmeln. Beide Regierungen legen Wert auf Publicity. Morgen soll es zu einem Treffen der Verhandlungsdelegationen und führenden Finanzleuten kommen.«

»Der Siebenundneunziger- Vertrag?«

»Eine weitere Runde in dem endlosen Palaver über die Verträge. Aber Sie sollten, um unser aller willen, beten, daß sie weiterhin freundlich miteinander reden.«

»Das Spiel«, sagte Jason leise und blieb wie erstarrt stehen.

»Was für ein Spiel?«

»Von dem Sie gesprochen haben, das Spiel mit den heißgelaufenen Drähten zwischen Peking und Gouverneursresidenz. Den Krongouverneur töten, weil man den

Vizepremier ermordet hat? Und dann vielleicht den Außenminister für ein Mitglied des Zentralkomitees - den Premierminister für den Vorsitzenden? Wo soll das enden? Wie viele gezielte Morde, ehe der Zerreißpunkt erreicht ist? Wie lange lassen sich Eltern von einem Gör auf der Nase herumtanzen - wann also marschieren die in Hongkong ein? Herrgott, es könnte dazu kommen. Jemand will, daß es dazu kommt!«

D'Anjou stand reglos da und hielt das Halfter mit dem patronengespickten Ledergurt.

»Was ich da sage, ist reine Spekulation - wahllose Gewaltakte eines wahnsinnigen Killers, der sich von jedermann anheuern läßt. Es gibt auf beiden Seiten genug Habgier und politische Korruption, die eine solche Spekulation rechtfertigen. Sie aber wollen sagen, das Ganze sei ein ausgeklügelter Plan, um in Hongkong so viel Unruhe zu stiften, daß das Festland eingreifen muß.«

»Das Spiel«, wiederholte Jason Borowski. »Je komplizierter es wird, desto einfacher scheint es.«

Die Dächer des Flughafens Kai-tak wimmelten von Polizei, ebenso wie die Flugsteige, die Abfertigungsschalter und die Gepäckzonen. Draußen auf dem riesigen schwarzen Asphaltfeld mischten sich die Lichtbalken von Suchscheinwerfern, die jedes sich bewegende Fahrzeug und jeden Zollbreit Boden abtasteten, in das Licht der starken Flutlichter. Fernsehteams rollten unter wachsamen Blicken Kabel aus, während Reporter hinter ihren Übertragungswagen in einem Dutzend Sprachen Sprechproben machten. Reporter und Fotografen wurden hinter den Absperrungen zurückgehalten, und immer wieder kamen Lautsprecherdurchsagen, daß die abgesperrten Zonen bald allen Journalisten mit entsprechenden Passierscheinen zugänglich sein würden. Und dann geschah das völlig Unerwartete: ein

plötzlicher Regenschauer ging über die Kronkolonie nieder. Wieder eine Herbstsintflut.

»Der Kerl hat Glück, nicht wahr?« sagte d'Anjou, während er und Borowski in ihren Uniformen mit einem Polizeipulk durch einen Wellblechtunnel zu einem der riesigen Reparaturhangars gingen. Das Hämmern des Regens war ohrenbetäubend.

»Glück hat gar nichts damit zu tun«, erwiderte Jason. »Er hat sich die Wetterberichte bis hinauf nach Sichuan angesehen. Jeder Flughafen hat diese Berichte. Er hat das gestern, wenn nicht schon vorgestern festgestellt. Auch Wetter ist eine Waffe, Echo.«

»Wie aber hätte er wissen können, wann die chinesische Maschine mit dem Gouverneur ankommen würde. Die verspäten sich oft um Stunden, sogar gewöhnlich um Stunden.«

»Aber nicht um Tage, das wäre ungewöhnlich. Wann hat die Kowlooner Polizei von dem geplanten Attentat erfahren?«

»Danach habe ich mich natürlich erkundigt«, sagte der Franzose. »Heute vormittag gegen halb zwölf.«

»Und die Maschine aus Peking sollte irgendwann heute abend eintreffen?«

»Ja. Die Leute von der Presse und vom Fernsehen wurden auf neun herbestellt.«

»Er hat sich die Wetterberichte genau angesehen. Er läßt nichts außer acht.«

»Und genau das müssen Sie auch, Delta! Sie müssen wie er denken, müssen er sein! Das ist unsere Chance!«

»Was tue ich denn anderes? ... Wenn wir den Hangar erreichen, möchte ich mich von Ihnen trennen. Geht das mit Ihrem gefälschten Ausweis?«

»Ich bin ein britischer Gruppenführer von der Polizei Mongkok.«

»Und was bedeutet das?«

»Das weiß ich wirklich nicht, aber mehr ging nicht.«

»Sehr britisch klingen Sie nicht.«

»Wer würde das schon in Kai-tak merken, alter Junge?«

»Die Briten.«

»Denen werde ich aus dem Weg gehen. Mein Chinesisch ist besser als Ihres. Die Zhongguo ren werden es respektieren. Und Sie werden sich frei bewegen können.«

»Das muß ich«, sagte Jason Borowski. »Wenn das wirklich Ihr Mann ist, dann will ich ihn haben, ehe ihn ein anderer entdeckt! Hier. Jetzt!«

In glänzenden gelben Regenmänteln schleppten Träger Stangen aus dem Hangar und verbanden sie mit Plastikseilen. Dann traf eine Wagenladung der gelben Mäntel für die Polizeikontingente ein; sie wurden von der Ladebrücke geworfen und von den Männern aufgefangen. Die Polizisten schlüpften hinein und scharten sich dann um ihre Vorgesetzten, um Anweisungen entgegenzunehmen. Jetzt zeichnete sich in einem Durcheinander von Uniformierten trotz des plötzlichen Wolkenbruchs so etwas wie Ordnung ab. Es war die Art von Ordnung, der Borowski zutiefst mißtraute. Das alles ging zu glatt, war zu routiniert für das, was ihnen bevorstand. Reihen uniformierter Soldaten waren hier fehl am Platze, waren die falsche Taktik, wenn es darum ging, Guerillas zu suchen - oder einen Mann, der ein Meister des Guerillakrieges war. Jeder Polizist in seinem gelben Regenschutz war gleichzeitig eine Warnung und ein Ziel; und noch etwas anderes. Eine Spielfigur. Jeder einzelne konnte durch einen anderen ersetzt werden, der genauso gekleidet war, durch einen Killer, der wußte, wie man es anstellte, so wie sein Feind auszusehen.

Und doch war ein solches Vorgehen selbstmörderisch, und Jason wußte, daß der, der ihn nachahmte, dazu entschlossen war. Es sei denn ... Es sei denn, die einzusetzende Waffe war so leise, daß der Regen sie übertönte. Aber selbst dann war es möglich, einen Kordon um den Tatort zu errichten; wenn der Krongouverneur zusammenbrach, konnte man jeden Ausgang blockieren und jeden Anwesenden zwingen, an Ort und Stelle zu bleiben. Was aber, wenn der Killer einen winzigen Bolzen abschoß, der beim Auftreffen nur wie ein Nadelstich wirkte, etwas, das man wie eine lästige Fliege wegwischte, wenn der tödliche Gifttropfen in den Blutstrom eindrang und langsam, aber unausweichlich den Tod verursachte? Das war eine Möglichkeit, aber auch hier waren zu viele Hindernisse zu überwinden und forderte die Tat mehr Treffsicherheit, als sie eine Druckluftwaffe garantiert. Der Gouverneur der Krone würde ohne Zweifel eine Schutzweste tragen, und auf das Gesicht zu zielen kam nicht in Frage. Gesichtsnerven waren besonders schmerzempfindlich, und jeder fremde Gegenstand, der in Augennähe auftraf, erzeugte sofortige und dramatische Reaktionen. Blieben also Hände und Hals. Die Hände waren ein zu kleines und zu bewegliches Ziel. Und der Hals bot einfach zu wenig Zielfläche. Ein Karabinerschuß von einem Dach aus? Ein Scharfschütze mit einem Infrarotteleskop? Aber auch das war selbstmörderisch, denn der Explosionsknall wäre zu laut, und Schalldämpfer verringerten die Treffsicherheit. Nein, einen Killer auf einem Dach konnte man ausschließen. Das wäre zu auffällig.

Es kam auf nichts anderes an als todsicheren Mord. D'Anjou hatte recht. Alles sprach für einen spektakulären Mord. Carlos der Schakal konnte nicht mehr verlangen - und ebensowenig Jason Borowski, überlegte David Webb. Die Tat trotz der außergewöhnlichen Sicherheitsmaßnahmen zu vollbringen, würde den neuen >Borowski< zum König seines widerwärtigen Berufes machen. Aber wie! Wofür würde er sich entscheiden? Und sobald die Entscheidung einmal getroffen war, welcher Fluchtweg bot die größten Chancen?

Einer der Fernsehübertragungswagen mit seinen komplizierten Geräten war zu auffällig. Die Service-Crews des Flugzeugs wurden doppelt und dreifach überprüft; ein Fremder würde sofort entdeckt. Alle Journalisten würden elektronische Schleusen passieren müssen, die bereits auf Metall im Gewicht von mehr als zehn Milligramm reagierten. Wie also?

»Das ist Ihre Freigabe!« sagte d'Anjou, der plötzlich mit einem Blatt Papier in der Hand neben ihm auftauchte. »Der Polizeipräfekt von Kai-tak hat es unterschrieben.«

»Was haben Sie ihm gesagt?«

»Daß Sie ein Israeli seien, den der Mossad für Terroristenbekämpfung ausgebildet und in einem Austauschprogramm zu uns geschickt hat. Das wird sich herum sprechen.« »Du großer Gott, ich spreche doch nicht hebräisch!« »Wer tut das hier schon? Sie zucken einfach die Achseln und sprechen französisch, so gut Sie können, denn hier spricht man französisch nur schlecht. Damit kommen Sie bestimmt durch.«

»Sie sind unmöglich, das wissen Sie doch, oder?« »Ich weiß, daß Delta, als er in Medusa unser Führer war, im SaigonKommando sagte, daß er ohne den >alten Echo< nicht ins Feld gehen würde.«

»Ich muß damals von Sinnen gewesen sein.« »Nun, weniger Verstand hatten Sie damals, das will ich Ihnen einräumen.«

»Vielen Dank, Echo. Wünschen Sie mir Glück.« »Sie brauchen kein Glück«, sagte der Franzose. »Sie sind Delta. Und werden immer Delta sein.«

Borowski nahm den gelben Regenmantel und die Schildmütze ab und ging hinaus und zeigte den Wachen an den Hangartoren seinen Passierschein! In der Ferne wurde die Presse durch die elektronischen Schleusen in die Absperrungen gelotst. Am Rand der Piste hatte man Mikrofone aufgestellt, und jetzt kamen noch

Motorradstreifen zu den Polizeiautos und bildeten einen dichten Halbkreis um die Fläche, wo die Pressekonferenz stattfinden sollte. Die Vorbereitungen waren so gut wie abgeschlossen, alle Sicherheitskräfte hatten ihre Posten eingenommen, und die Anlagen der Medien funktionierten. Die Maschine aus Peking hatte offenbar trotz des Wolkenbruchs zum Landeanflug angesetzt. In wenigen Minuten würde sie landen, und Jason wünschte sich, er könnte die Minuten in die Länge dehnen. Es gab so viele Dinge, nach denen Ausschau zu halten war, und so wenig Zeit zum Suchen. Wo? Was? Alles war ebenso möglich wie unmöglich. Wozu würde sich der Killer entschließen? Von welchem Punkt aus würde er die perfekte Tat versuchen? Und wie würde er am logischsten lebend vom Tatort entkommen?

Borowski hatte jede Möglichkeit durchdacht und jede wieder verworfen. Denk noch mal! Und noch mal! Nur Minuten bleiben noch. Geh herum und fang ganz am Anfang an ... Der Anfang. Das Ziel: die Ermordung des Krongouverneurs. Bedingungen: scheinbar hundertprozentige Sicherheit, mit Polizeibeamten auf den Dächern, die jeden Eingang blockierten und jeden Ausgang, jede Treppe, jeden Aufzug, und alle in Funkkontakt. Nichts als Hindernisse. Selbstmord ... und genau diese Hindernisse fand der Killer in der Maske des Jason Borowski so unwiderstehlich. D'Anjou hatte wieder einmal recht gehabt: wenn es dem Meuchelmörder gelang, unter solchen Umständen seine spektakuläre Tat zu begehen, dann wäre dies ein Beweis seiner Überlegenheit - oder ein neuer Beweis. Was hatte der Franzose gesagt? Mit einem einzigen solchen Erfolg schafft er aufs neue die Legende von seiner Unbesiegbarkeit.

Wer? Wo? Wie? Überlege! Sieh dich um!

Der Wolkenbruch durchtränkte seine Polizeiuniform. Er wischte sich dauernd das Wasser aus dem Gesicht, während er herumging und alles musterte. Nichts! Dann war in der Ferne das gedämpfte Brausen der Düsenmotoren zu hören. Der Jet aus Peking setzte am anderen Ende der Piste zur Landung an.

Jason beobachtete die Menschenmenge hinter den Seilabsperrungen. Die Regierung von Hongkong hatte als Geste für Peking und aus dem Wunsch nach »umfassender Berichterstattung« allen, die da waren, Ponchos und Segeltuchplanen und billige Regenmäntel zur Verfügung gestellt. Die Leitung von Kai-tak hatte die Bitten der Medien nach einer Konferenz unter Dach abgelehnt, mit der einfachen und klugerweise nicht näher begründeten Feststellung, daß das im Interesse der Sicherheit nicht angehe. Es würden nur kurze Statements abgegeben, höchstens insgesamt fünf oder sechs Minuten. Das journalistische Establishment werde doch wohl bei einem so wichtigen Ereignis etwas Regen ertragen können.

Die Fotografen? Metall! Kameras wurden durch die Detektorschleusen gereicht, aber nicht alle »Kameras« machten Bilder. Man konnte ein relativ einfaches Gerät in eine Objektivfassung einbauen, einen Schußmechanismus, der mit Hilfe eines Teleskopsuchers eine Kugel - oder einen Bolzen -abfeuerte. War das die Methode? Hatte sich der Meuchelmörder dafür entschieden und sich vorgenommen, die »Kamera« einfach zu zertreten und dann eine andere aus der Tasche zu ziehen, während er sich an den Rand der Menschenmenge arbeitete - mit Ausweispapieren, die ebenso gefälscht wie die d'Anjous und die des »Terroristenbekämpfers« des Mossad waren? Möglich war es.

Der riesige Jet war jetzt gelandet, und Borowski strebte mit schnellen Schritten in das mit Seilen abgesperrte Areal, ging auf jeden Fotografen zu, den er sah, und suchte - suchte nach einem Mann, der aussah wie er. Da mußten wenigstens zwei Dutzend Männer mit Kameras sein; jetzt begann er unruhig zu werden, als das Flugzeug aus Peking langsam auf die Menge zurollte und die Scheinwerferbalken sich auf die Fläche rings um die Mikrofone und die Fernsehteams konzentrierten. Er ging von einem Fotografen zum ändern, vergewisserte sich schnell, daß der Mann nicht der Killer sein konnte, und sah dann noch einmal hin, ob da irgendwelche Spuren von kosmetischer Behandlung im Gesicht zu sehen waren. Wieder nichts! Niemand! Er mußte ihn finden, ihn unschädlich machen! Ehe ein anderer ihn fand. Das Attentat war unwichtig, für ihn ohne Belang. Nur auf Marie kam es an!

Noch einmal zurück zum Anfang! Ziel - der Krongouverneur. Umstände - äußerst ungünstig für ein Attentat bei einer Zielperson der höchsten Sicherheitsstufe, die ohne Zweifel auch mit einer kugelsicheren Weste geschützt war, und das Ganze unter den Augen von gut ausgebildeten Sicherheitskräften mit Offizieren, die alles in der Hand hatten ... Der Anfang? Da fehlte etwas. Geh es noch einmal durch. Der Krongouverneur - das Ziel, ein einfaches Attentat. Attentatsmethode: Selbstmord ausgeschlossen. Also kam nur eine später einsetzende Wirkung in Frage - ein vergifteter Bolzen -, und doch war die Zielsicherheit einer solchen Waffe nicht ausreichend, während andererseits der laute Knall einer konventionellen Pistole sofort sämtliche Sicherheitskräfte alarmieren würde. Später einsetzende Aktion, nicht Reaktion! Der Anfang, die erste Annahme war falsch! Das Ziel war nicht nur der Krongouverneur. Kein einzelner Mord, sondern mehrere, wahlloses Morden. Um wieviel spektakulärer war doch eine solche Tat! Um wie vieles wirksamer für einen Wahnsinnigen, der Hongkong ins Chaos stürzen wollte! Und das Chaos würde bei den Sicherheitskräften seinen Anfang nehmen, Unruhe, Chaos, Flucht!

Borowskis Verstand arbeitete fieberhaft, während er sich seinen Weg durch die Menge bahnte und seine Augen nach allen Seiten schweifen ließ. Er versuchte, sich jede Waffe, die er je gekannt hatte, ins Gedächtnis zu rufen. Eine Waffe, die man lautlos, unauffällig, inmitten einer dichten Menschenmenge abfeuern konnte und deren Wirkung spät genug eintrat, daß der Mörder die Position wechseln und entkommen konnte. Das einzige, was ihm dabei einfiel, waren Handgranaten, aber die tat er gleich wieder ab. Dann dachte er an Dynamit mit Zeitzünder oder Plastiksprengstoff. So etwas ließ sich sowohl verbergen als auch mit Verzögerungszündung ausstatten. Plastiksprengstoffe konnte man nicht nur auf Minuten einstellen, sondern bis auf ein paar Sekunden genau; man konnte sie in kleinen Schachteln oder Paketen verstecken, sogar in schmalen Aktentaschen ... oder dicken Taschen, wie sie für Fotoausrüstungen benutzt wurden, ohne daß sie notwendigerweise ein Fotograf tragen mußte. Wieder wanderten seine Blicke, suchten die Scharen von Reportern und Fotografen ab, huschten über den schwarzen Asphalt, unter Röcke und Hosen, hielten Ausschau nach einem Behältnis, das auf dem Asphalt stand. Er konzentrierte sich auf die Reihen von Männern und Frauen vorn an der Absperrung. In seiner Vorstellung war das Paket höchstens dreißig Zentimeter lang, wenn es dick war - fünfzig vielleicht, wenn es sich um einen Gerätekoffer handelte. Eine kleinere Ladung würde nicht ausreichen, die Repräsentanten beider Regierungen zu töten. Die Flughafenbeleuchtung war stark, aber sie erzeugte auch Schatten. Er hätte eine Taschenlampe mitbringen sollen - immer hatte er eine bei sich gehabt, denn noch die kleinste war auch eine Waffe! Wie hatte er das vergessen können? Und dann sah er zu seinem Erstaunen, wie plötzlich die Lichtbalken von Taschenlampen über den Flugplatz huschten, zwischen eben den Hosen und Röcken, die er gemustert hatte. Die Sicherheitspolizei hatte sich dieselbe Theorie zu eigen gemacht! La-Guardia-Flughafen, 1972; Lod-Flughafen, Tel Aviv, 1974; Rue de Bac, Paris, 1975; Harrods, London 1982, und so weiter, von Teheran bis Beirut. Sie waren auf dem laufenden, er nicht. Seine Gedanken bewegten sich nur langsam - und das durfte er nicht zulassen! Wer? Wo?

Die riesige 747 der Volksrepublik tauchte jetzt wie ein mächtiger Silbervogel auf, und ihre Düsenaggregate brausten noch einmal laut auf, ehe sie leiser wurden und die Maschine auf fremdem Boden auf die vorgesehene Position manövriert wurde. Die Tür öffnete sich, und das Schauspiel begann. Die beiden Leiter der britschen und der chinesischen Delegation kamen gemeinsam heraus, winkten und kamen dann nebeneinander die Stahltreppe herunter, der eine in der Kleidung von Whitehall, der andere in der eintönigen, ranglosen Uniform der Volksarmee. Zwei Reihen von Delegationsmitgliedern folgten ihnen, wobei sich Asiaten wie Westler für die Kameras die größte Mühe gaben, wie Kollegen zu erscheinen. Die Delegationsleiter traten an die Mikrofone, und während ihre Stimmen über die Lautsprecher und durch den Regen dröhnten, verschwammen die nächsten Minuten für Jason ineinander. Ein Teil seines Bewußtseins war bei der Zeremonie im Scheinwerferlicht, während der andere, größere Teil sich auf die letzte Suche konzentrierte - denn die letzte würde es sein. Wenn der falsche Jason Borowski dort draußen war, dann mußte er ihn finden vor der Tat, vor dem Chaos! Aber, verdammt, wo! Borowski verließ das mit Seilen abgesperrte Feld auf der rechten Seite, um besser sehen zu können. Ein Posten wollte ihn daran hindern, worauf Jason ihm seinen Ausweis zeigte und dann reglos stehenblieb und die Fernsehteams scharf ins Auge faßte, die Menschen, ihre Geräte. Wenn der Meuchelmörder unter ihnen war, welcher von ihnen war es dann?

»Wir sind gemeinsam erfreut, bekanntgeben zu können, daß in bezug auf die Verträge weitere Fortschritte erzielt worden sind. Das Vereinigte Königreich ...«

»Die Volksrepublik China - das einzig wahre China auf dieser Erde - gibt dem Wunsch Ausdruck, gemeinsam mit allen, die ...«

Die beiden Redner wechselten sich ab, und jeder sekundierte dem, was die andere Seite sagte, ließ die Welt aber zugleich wissen, daß es noch viel zu verhandeln gab. Hinter aller Höflichkeit, den nichtssagenden Worten und dem künstlichen Lächeln knisterte Spannung. Und Jason fand nichts, worauf er seine Aufmerksamkeit konzentrieren konnte. Nichts. Und so wischte er sich den Regen vom Gesicht und nickte dem Posten zu, während er sich wieder unter der Absperrung hindurchzwängte, wieder in die Menschenmenge dahinter eintauchte und sich seinen Weg zur linken Seite der Pressekonferenz bahnte.

Plötzlich fühlten sich Borowskis Augen zu einer Reihe von Scheinwerferpaaren hingezogen, die im Regen am anderen Ende des Flugfeldes in die Piste einbogen und schnell auf die stehende Boing 747 zurollten. Und dann, wie auf ein Stichwort, brandete Beifall auf. Die kurze Zeremonie war vorbei, die Ankunft der Staatskarossen signalisierte das. Jetzt rollten sie mit ihren Motorradeskorten zwischen den Delegationen und den Journalisten und Fotografen heran. Polizei umringte die Übertragungsfahrzeuge, und bis auf zwei offizielle Kameraleute mußten alle in ihre Fahrzeuge steigen.

Das war der Augenblick. Wenn etwas passieren sollte, so würde das jetzt geschehen. Wenn eine Todesmaschine aufgestellt werden und ihre Ladung innerhalb einer Minute oder Sekunde explodieren sollte, so würde sie jetzt aufgestellt werden müssen.

Zu seiner Linken sah er einen Polizeioffizier, einen hochgewachsenen Mann, dessen Augen sich so schnell bewegten wie seine eigenen. Jason beugte sich zu dem Mrnn hinüber und sprach ihn auf chinesisch an, während er ihm seinen Ausweis hinhielt und ihn mit der Hand vor dem Regen schützte. »Ich bin der Mann vom Mossad!« schrie er, bemüht, sich trotz des Applauses Gehör zu verschaffen.

»Ja, man hat mich über Sie informiert!« schrie der Beamte. »Man hat es mir gesagt. Wir sind dankbar, daß Sie hier sind!«

»Haben Sie eine Lampe - eine Taschenlampe?«

»Ja, natürlich. Wollen sie sie?«

»Aber ja.«

»Hier.«

»Verschaffen Sie mir freien Weg!« befahl Borowski und hob das Seil und winkte dem Beamten, ihm zu folgen. »Ich habe keine Zeit, Papiere zu zeigen!«

»Sicher!« Der Chinese folgte ihm und wehrte einen Wachmann ab, der Jason aufhalten wollte. »Lassen Sie ihn! Er ist einer von uns! Er ist genau für das hier ausgebildet!«

»Der Jude von Mossad?«

»Ja, das ist er.«

»Man hat uns informiert. Danke, Sir ... Aber er kann uns natürlich nicht verstehen.«

»Seltsamerweise doch. Er spricht Guangdong hua.«

»In der Restaurantstraße gibt es ein Lokal, in dem es angeblich koschere -«

Borowski war jetzt zwischen den Limousinen und der Absperrung. Während er an der Absperrung entlangging, die Taschenlampe auf den asphaltierten Boden gerichtet, gab er Anweisungen auf chinesisch und englisch - die Befehle eines klar denkenden Mannes, der vielleicht etwas suchte, was er verloren hatte. Einer nach dem anderen traten die Männer und Frauen von der Presse zurück und entschuldigten sich bei denen, die hinter ihnen standen. Jetzt näherte er sich der Limousine an der Spitze; am linken und am rechten Kotflügel hingen die Wimpel Großbritanniens und der Volksrepublik und signalisierten, daß England der Gastgeber und China der Gast war. Die Delegationschefs fuhren gemeinsam. Jason konzentrierte sich auf den Boden; die zwei Würdenträger waren gerade dabei, unter gedämpftem Applaus mit ihren engsten Beratern das lange Fahrzeug zu besteigen.

Und da geschah es, aber Borowski war nicht sicher, was es war! Seine linke Schulter berührte eine andere Schulter, ein gleichsam elektrischer Kontakt. Der Mann, den er angestoßen hatte, taumelte nach vorn und fuhr dann so heftig herum, daß Jason das Gleichgewicht verlor. Er drehte sich um und sah den

Mann auf dem Polizeimotorrad an und hob seine Taschenlampe, um durch das dunkle Plastikoval des Helms zu sehen.

Und da traf es ihn wie ein Blitz, wie ein scharfer Strahl, der in seinen Schädel krachte, und seine Augen saugten sich förmlich an dem anderen fest, während er sich bemühte, das Unglaubliche in sich aufzunehmen. Er starrte sich selbst an - so wie er vor wenigen Jahren gewesen war! Die dunklen Züge hinter der Plastikscheibe waren die seinen! Es war der Commando! Der Meuchelmörder!

Die Augen, die seinen Blick erwiderten, ließen ebenfalls Panik erkennen, aber sie waren schneller als die Webbs. Eine flache Hand zuckte vor, schlug gegen Jasons Kehle und schnitt ihm jedes Wort und jeden Gedanken ab. Borowski fiel nach hinten, konnte nicht schreien, griff sich an den Hals, während der Meuchelmörder von seinem Motorrad sprang. Er rannte an Jason vorbei und duckte sich unter den Seilen der Absperrung durch.

Du mußt ihn erwischen! Ihn festhalten! ... Marie! Die Worte stellten sich nicht ein, nur hysterische Gedanken schössen fieberhaft durch Borowskis Bewußtsein. Er würgte, kämpfte gegen den Schmerz in seiner Kehle an und sprang über das Seil, stürzte sich in die Menge, folgte dem Killer, der rings um sich Männer und Frauen umgestoßen hatte und jetzt floh.

»Haltet ihn auf!« Nur das letzte Wort drang aus Jasons Kehle; nur ein heiseres Flüstern. »Laßt mich durch!« Zwei Worte diesmal, aber keiner hörte ihn. Irgendwo auf dem Flughafengelände spielte eine Kapelle im Wolkenbruch.

Der Weg war versperrt! Rings um ihn waren Leute, Leute, Leute. Ich muß ihn finden! Ihn festhalten! Marie! Er ist weg! Er ist verschwunden! »Laßt mich durch!« schrie er, jetzt wieder hörbar, aber niemand achtete darauf. Er riß und zerrte und arbeitete sich an den Rand der Menschenmenge und sah sich der nächsten Menge hinter den Glastüren des Flughafengeländes gegenüber.

Nichts!Niemand! Der Killer war verschwunden!

Killer?

Die Limousine, die Limousine an der Spitze mit den Wimpeln beider Länder. Das war das Ziel! Irgendwo in diesem Wagen oder unter dem Wagen war der Zeitzünder, der ihn in die Luft jagen und die Leiter beider Delegationen töten würde. Ergebnis - das Spiel ... Chaos.

Borowski wirbelte herum und suchte verzweifelt nach irgendeiner Amtsperson. Da! Zwanzig Meter hinter der Seilabsperrung in Habt-acht-Haltung, weil gerade die britische Nationalhymne gespielt wurde, ein Offizier der Polizei von Kowloon. An seinem Gürtel ein Funkgerät. Eine Chance! Die Limousinen hatten inzwischen in gemessenem Tempo Fahrt aufgenommen und rollten auf ein unsichtbares Tor des Flughafengeländes zu.

Jason riß an dem Seil, zog es hoch, warf dabei einen Ständer um, und rannte auf den kleinen chinesischen Offizier zu. »Xun su!« brüllte er.

»Shemma?« erwiderte der Mann verblüfft und griff instinktiv nach der Pistole.

»Halten Sie sie auf! Die Wagen, die Limousinen! Die vorderste!«

»Was ist los? Wer sind Sie?«

Borowski mußte an sich halten, um nicht auf den Mann einzuschlagen. »Mossad!« schrie er.

»Sie sind der Mann aus Israel? Ich habe gehört -«

»Hören Sie mir zu! Nehmen Sie Ihr Funkgerät und sagen Sie, die sollen sie aufhalten! Alle sollen aus dem Wagen! Er wird explodieren! Jetzt!«

Durch den Regen sah der Beamte Jason in die Augen, nickte dann und zog das Funkgerät aus dem Gürtel. »Notfall! Kanal freimachen, ich brauche eine Verbindung zu Roter Stern eins.

Sofort!«

»Alle Wagen!« unterbrach ihn Borowski. »Es eilt!«

»Achtung!« rief der Polizeibeamte. »Alarm an alle Fahrzeuge. Stellen Sie mich durch!« Und dann sprach der Chinese mit angespannter, aber kontrollierter Stimme, sprach ganz deutlich, jedes Wort betonend. »Hier ist Colony fünf, oberste Dringlichkeitsstufe. Bei mir ist der Mann vom Mossad. Ich gebe jetzt seine Instruktionen weiter. Ihnen ist sofort Folge zu leisten. Roter Stern eins soll sofort anhalten, die Passagiere verlassen das Fahrzeug, sie sollen Deckung suchen. Alle anderen Wagen sollen nach links abbiegen, auf die Mitte des Flugfeldes zu, von Roter Stern eins weg. Sofort ausführen!«

Verblüfft starrte die Menge auf die Fahrzeugkolonne, deren Motoren aufheulten! Fünf Limousien bogen ab und rasten auf den Rand des Flughafengeländes zu. Der erste Wagen kam mit quietschenden Reifen zum Stehen; die Türen flogen auf, und Männer sprangen heraus, rannten nach allen Richtungen davon.

Acht Sekunden später geschah es. Die Limousine mit dem Codenamen Roter Stern eins explodierte fünfzehn Meter vor einem offenen Tor. Metallstücke und Glasscherben flogen in die Luft und regneten mit dem Wolkenbruch wieder vom Himmel, während die Musikkapelle verstummte.

Peking, 23.25 Uhr

In einem nördlichen Vorort von Peking gibt es einen riesigen Komplex, von dem nur selten die Rede ist und der der Öffentlichkeit versperrt ist. Der Hauptgrund dafür ist natürlich seine Sicherheit, doch entbehrt das Ganze in einer gleichmacherischen Gesellschaft auch nicht einer gewissen Peinlichkeit. Denn innerhalb dieser bewaldeten Enklave in den

Bergen stehen die Villen der mächtigsten Männer Chinas. Der Schleier des Geheimnisses liegt über diesem Komplex, den hohe graue Steinmauern umschließen und dessen Zugänge von erfahrenen Veteranen der Armee bewacht werden, während weiter draußen, in den Wäldern, Streifen mit Polizeihunden patrouillieren. Und wenn man über die hier gepflegten gesellschaftlichen oder politischen Zustände spekulieren wollte, so sollte man vielleicht feststellen, daß keine Villa von der anderen aus sichtbar ist, weil jeder einzelne Bau von einer eigenen inneren Mauer umgeben ist und alle Leibwächter persönlich ausgewählt sind, nach Jahren des Gehorsams und des Vertrauens. Wenn der Name der Anlage erwähnt wird, so spricht man vom Jadeturmberg, meint damit aber keinen Berg in geologischem Sinn, sondern einen immensen Hügel, der sich über die anderen erhebt. Männer wie Mao Zedong, Lin Shaoqi, Lin Biao und Zhou Enlai haben, jeder zu seiner Zeit und in den Höhen und Tiefen ihrer politischen Laufbahn, hier residiert. Zu den Bewohnern gehörte augenblicklich ein Mann, der die wirtschaftliche Zukunft der Volksrepublik formte. Die Weltpresse bezeichnete ihn nur als Sheng, und jeder wußte, wofür dieser Name stand. Sein voller Name lautete Sheng Chou Yang.

Jetzt raste eine braune Limousine auf die mächtige graue Mauer zu, näherte sich Tor 6, wo der Fahrer plötzlich auf die Bremse trat, worauf der Wagen schräg in die Einfahrt schlitterte und nur wenige Zentimeter vor der in grellem Orange lackierten Schranke zum Stillstand kam, die das Licht seiner Scheinwerfer reflektierte. Ein Posten trat auf den Wagen zu.

»Wen wollen Sie sehen und wie heißen Sie? Ich brauche einen Passierschein.«

»Minister Sheng«, sagte der Fahrer. »Mein Name ist nicht wichtig und meine Papiere auch nicht. Bitte verständigen Sie die Wohnung des Ministers, daß sein Abgesandter von Kowloon hier ist.«

Der Soldat zuckte die Achseln. Antworten dieser Art waren am Jadeturmberg durchaus nicht ungewöhnlich, und weitere Fragen hätten möglicherweise zu einer Versetzung aus diesem Paradies führen können, wo selbst die Essensüberreste jegliche Phantasie überstiegen und man für gehorsamen Dienst manchmal sogar ausländisches Bier bekam. Der Posten ging also zum Telefon. Der Besucher mußte angemessen empfangen werden. Alles andere könnte dazu führen, daß man auf einem abgelegenen Feld niederknien mußte und eine Kugel ins Genick bekam. In seinem Wachhäuschen wählte der Posten die Nummer der Villa Sheng Chou Yang.

»Einlassen. Schnell!«

Ohne zu der Limousine zurückzukehren, drückte der Posten einen Knopf, worauf die orangefarbene Schranke in die Höhe ging. Der Wagen raste herein, viel zu schnell für den Kiesweg, dachte der Posten. Der Abgesandte hatte es offenbar sehr eilig.

»Minister Sheng ist im Garten«, sagte der Armeeoffizier an der Tür und blickte mit unruhigem Blick an dem Besucher vorbei in die Dunkelheit. »Gehen Sie zu ihm.«

Der Abgesandte eilte durch das mit rotem Lackmobiliar gefüllte Vorderzimmer zu einem Bogen, hinter dem man einen von Mauern umgebenen Garten erkennen konnte, in dem vier Lilienteiche von gelben Unterwasserscheinwerfern beleuchtet waren. Zwei sich schneidende Kieswege bildeten ein X zwischen den Teichen, und am Ende eines jeden Weges waren niedrige schwarze Korbsessel und Tische aufgestellt. Am östlichen Weg, dicht an der Ziegelmauer, saß ganz allein ein mittelgroßer, schlanker Mann mit kurz gestutztem, ergrautem Haar und hageren Gesichtszügen. Wenn an ihm etwas war, das einen auf den ersten Blick verblüffte, so waren das seine Augen, denn es waren die dunklen Augen eines Toten, mit Lidern, die sich keinen Augenblick lang bewegten. Im Gegensatz dazu waren sie aber zugleich auch die Augen eines Eiferers, dessen blinde Ergebenheit der Kern seiner Stärke war; seine Pupillen waren wie Blitze. Das waren die Augen Sheng Chou Yangs, und im Augenblick loderten sie.

»Ich will es wissen!« brüllte er und krampfte sich mit beiden Händen an den schwarzen Armlehnen seines Sessels fest. »Wer tut so etwas?«

»Es ist alles Lüge, Herr Minister! Wir haben uns bei unseren Leuten in Tel Aviv erkundigt. Es gibt keinen Mann, auf den die Beschreibung paßt. Es gibt keinen Agenten des Mossad in Kowloon! Alles Lüge!«

»Was haben Sie unternommen?«

»Es ist höchst verwirrend -«

»Was Sie unternommen haben?«

»Wir sind auf der Spur eines Engländers im Mongkok, über den anscheinend keiner etwas weiß.«

»Narren und Idiotenl Idioten und Narren! Mit wem haben Sie gesprochen?«

»Mit unserem Spitzenmann bei der Polizei von Kowloon. Er ist verwirrt, und ich muß leider sagen, daß er meiner Ansicht nach Angst hat. Er hat einige Male Macao erwähnt, und seine Stimme hat mir dabei gar nicht gefallen.«

»Er ist tot.«

»Ich werde Ihre Instruktionen weitergeben.«

»Ich fürchte, das können Sie nicht.« Sheng winkte mit der linken Hand, während die rechte im Schatten unter den niedrigen Tisch griff. »Kommen Sie und erweisen Sie der Kuomintang Ihren Gehorsam«, befahl er.

Der Abgesandte trat auf den Minister zu. Er verbeugte sich tief und griff nach der linken Hand des großen Mannes. Sheng hob die rechte Hand. Sie hielt eine Pistole.

Dann ertönte eine Explosion und blies den Kopf des Abgesandten weg. Fragmente seines Schädels fielen in die

Lilienteiche. Der Armeeoffizier erschien unter dem Bogen, während die Leiche auf den weißen Kies fiel.

»Schaffen Sie ihn weg«, befahl Sheng. »Er hat zu viel gehört, zu viel erfahren ... zu viel vermutet.«

»Selbstverständlich, Herr Minister.«

»Und nehmen Sie Verbindung mit dem Mann in Macao auf.

Ich habe Anweisungen für ihn, die sofort auszuführen sind, während in Kowloon noch die Feuer den Himmel erleuchten. Ich will ihn hier haben.«

Während der Offizier auf den toten Kurier zuging, erhob Sheng sich plötzlich aus dem Stuhl und ging langsam an den Teich. Die Lampen unter dem Wasser beleuchteten sein Gesicht. Als er wieder zu sprechen begann, war seine Stimme ausdruckslos und doch bestimmt.

»Bald ganz Hongkong und seine Territorien«, sagte er und starrte auf eine Wasserlilie. »Und bald darauf ganz China.«

»Sie führen, Herr Minister«, sagte der Offizier, und seine Augen musterten Sheng voll Hingabe. »Wir folgen Ihnen. Der Marsch, den Sie uns versprochen haben, hat begonnen. Wir kehren zu unserer Mutter zurück, und das Land wird wieder uns gehören.«

»Ja, das wird es«, bestätigte Sheng ChouYang. »Man kann es uns nicht verwehren. Mir kann man es nicht verwehren.«

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