Kapitel 12

»Ich brauche ihre Krankengeschichte, und zwar blitzschnell, Major. Und das ist ein Befehl, Sir. Ich war einmal Lieutenant im Sanitätskorps Ihrer Majestät.«

Das ist der englische Arzt, der mich untersucht hat. Er ist sehr höflich, aber kalt, und wie ich vermute, ein ausgezeichneter Arzt. Er ist verunsichert. Das ist gut so.

»Wir werden sie Ihnen besorgen; dafür gibt es Mittel und Wege. Sie sagen, sie hat Ihnen den Namen ihres Arztes in den Vereinigten Staaten nicht sagen können?«

Das ist dieser hünenhafte Chinese, der immer höflich ist -eher salbungsvoll, aber er wirkt ehrlich. Er ist nett zu mir gewesen, so wie seine Leute zu mir nett waren. Er befolgt Anweisungen - alle befolgen sie Anweisungen -, aber sie wissen nicht, warum.

»Sie kommt selbst in ihren klaren Augenblicken nicht darauf, und das ist nicht gerade ermutigend. Das könnte ein Schutzmechanismus sein, und das wiederum würde darauf hindeuten, daß sie von einer chronischen Erkrankung weiß, die sie abblocken möchte.«

»Der Typ ist sie nicht, Herr Doktor. Sie ist eine starke Frau.«

»Psychische Stärke ist relativ, Major. Die Stärksten unter uns sind manchmal nicht imstande, ihre Sterblichkeit zu akzeptieren. Das Ego verdrängt das einfach. Beschaffen Sie mir ihre Krankengeschichte. Ich muß sie haben.«

»Jemand ruft in Washington an, und von dort aus werden Leute weiter herumtelefonieren. Die wissen, wo sie wohnt, kennen ihre Lebensumstände und werden innerhalb von wenigen Minuten ihre Nachbarn kennen. Jemand wird es uns sagen. Wir werden ihren Arzt finden.«

»Ich will alles über den Satelliten, einen Computerausdruck. Wir sind darauf eingerichtet.«

»Derartige Sendungen müssen in unseren Büros aufgenommen werden.«

»Dann komme ich mit. Ich brauche nur ein paar Minuten.«

»Sie haben Angst, nicht wahr, Herr Doktor?«

»Eine neurologische Störung ist immer beunruhigend, Major. Wenn Ihre Leute schnell arbeiten, kann ich vielleicht selbst mit ihrem Arzt sprechen, das wäre natürlich optimal.«

»Sie haben bei der Untersuchung nichts feststellen können?«

»Nur Möglichkeiten, nichts Konkretes. Da ist Schmerz, und da ist wieder kein Schmerz. Ich habe für morgen eine CATTomographie veranlaßt.«

»Sie haben wirklich Angst.«

»Ich mache mir fast in die Hosen, Major.«

Oh, ihr tut alle genau das, was ich wollte. Du lieber Gott, hab ich Hunger! Wenn ich hier rauskomme, werde ich fünf Stunden lang nichts anderes tun als essen - und ich werde herauskommen! David, hast du verstanden? Hast du verstanden, was ich dir sagen wollte? Ahornbäume haben Ahornblätter. Die sind so verbreitet, Liebling, so leicht zu erkennen. Ein einziges Blatt steht für Kanada. Die Botschaft! Hier in Hongkong ist es das Konsulat! Das war es, was wir in Paris gemacht haben, Liebster! Damals war es schrecklich, aber hier wird es nicht schrecklich werden. Ich werde jemanden kennen - damals, in Ottawa, habe ich so viele angelernt, die dann auf der ganzen Welt eingesetzt wurden. Dein Erinnerungsvermögen ist umwölkt, mein Geliebter, aber meines nicht ... und du mußt begreifen, David, die Leute, mit denen ich damals zu tun hatte, unterscheiden sich gar nicht so sehr von den Leuten, die mich jetzt festhalten. In mancher Hinsicht sind es natürlich Roboter, aber es sind auch Individuen, die nachdenken und sich Fragen stellen und wissen möchten, warum sie bestimmte Dinge tun sollen. Aber sie befolgen die Anweisungen, die sie bekommen, Liebling. Weil sie schlecht beurteilt werden, wenn sie das nicht tun. Und das führt dann zu einem noch schlimmeren Schicksal als der Entlassung - was ohnehin selten vorkommt -, weil es bedeutet, daß sie nicht vorwärtskommen, steckenbleiben. Tatsächlich sind sie sehr nett zu mir gewesen, wirklich sanft - so als wäre ihnen das peinlich, was sie mit mir ihren Anweisungen nach tun müssen, aber sie müssen ihren Auftrag erledigen. Sie glauben, ich sei krank, und machen sich Sorgen um mich, echte Sorgen. Es sind keine Verbrecher oder Killer, mein allerliebster David. Es sind Bürokraten, die auf Anweisungen warten. Bürokraten sind es, David! Diese ganze unglaubliche Geschichte riecht zehn Meter gegen den Wind nach REGIERUNG. Das weiß ich! Das ist die Art von Leuten, mit denen ich jahrelang zusammengearbeitet habe. Ich habe selbst zu ihnen gehört!

Marie schlug die Augen auf. Die Tür war verschlossen, der Raum leer, aber sie wußte, daß draußen eine Wache stand - sie hatte gehört, wie der chinesische Major Anweisungen erteilte. Niemand außer dem englischen Arzt und zwei Schwestern hatte Zutritt zu ihrem Zimmer, und diese zwei Schwestern würden bis zum Morgen Dienst haben. Sie kannte die Regeln, und dieses Wissen versetzte sie in die Lage, sie zu brechen.

Sie setzte sich auf - Herrgott, Hab ich Hunger! - und amüsierte sich bei dem Gedanken, wie ihre Nachbarn in Maine nach ihrem Arzt befragt wurden. Sie kannte ihre Nachbarn kaum, und es gab keinen Arzt. Sie lebten noch nicht einmal drei Monate in der kleinen Universitätsstadt, und all die Probleme, ein Haus zu finden und zu mieten und zu lernen, was die neue Frau eines neuen Dozenten tun - oder sein sollte -, die Geschäfte zu finden und Wäsche und Betten; die tausendundzehn Dinge, die eine Frau tun muß, um aus einem Haus ein Zuhause zu machen - da war einfach keine Zeit gewesen, an einen Arzt zu denken. Du lieber Gott, sie hatten acht Monate mit Ärzten gelebt, und abgesehen von Mo Panov wollte sie eigentlich nie wieder einen zu Gesicht bekommen. Und dann war da David, der sich seinen Weg aus seinen persönlichen Tunnels herauskämpfte, wie er sie nannte, und sich so sehr bemühte, sich seinen Schmerz nicht anmerken zu lassen, der so dankbar war, wenn Licht war und er sich erinnern konnte. Herrgott, wie er sich auf die Bücher stürzte, wie er sich freute, wenn ganze Epochen der Geschichte plötzlich für ihn wieder greifbar waren

- und dann wieder die Angst, wenn er erkannte, daß es bestimmte Segmente in seinem Leben gab, die sich ihm einfach entzogen. Und dann die Nächte, in denen sie so oft spürte, wie seine Matratze sich bewegte, und wußte, daß er dann aufstand, um mit seinen unklaren Gedanken allein zu sein, und mit den Bildern, die ihn heimsuchten. Sie wartete dann immer ein paar Minuten und ging dann in den Korridor hinaus und setzte sich auf die Stufen und lauschte. Und hin und wieder passierte es dann: dann hörte sie das leise Schluchzen eines starken, stolzen Mannes, den unsäglicher Schmerz quälte. Sie ging dann zu ihm, und er wandte sich ab; der Schmerz und die Verlegenheit waren einfach zuviel für ihn. Und sie sagte dann: »Du brauchst deinen Kampf nicht allein zu kämpfen, mein Liebling. Wir kämpfen das gemeinsam durch, so wie wir schon früher gemeinsam gekämpft haben.« Und dann fing er immer zu reden an, zuerst zögernd und dann immer schneller, bis die Schleusen schließlich aufbrachen, und er Dinge fand, Dinge entdeckte. Bäume, David! Mein Lieblingsbaum, der Ahorn. Das Ahornblatt, David. Das Konsulat, Liebling! Sie hatte zu tun. Sie griff nach der Schnur und drückte den Knopf, der die Schwester herbeirief.

Zwei Minuten später ging die Tür auf, und eine Chinesin, Mitte Vierzig, trat ein. Ihre Schwesternuniform war gestärkt und

makellos. »Was kann ich für Sie tun, meine Liebe?« sagte sie freundlich, in stark akzentuiertem Englisch.

»Ich bin schrecklich müde, aber es fällt mir furchtbar schwer einzuschlafen. Dürfte ich eine Tablette bekommen, die mir dabei hilft?«

»Ich frage Ihren Arzt, er ist noch hier. Bestimmt hat er nichts dagegen.« Die Schwester ging, und Marie stieg aus dem Bett. Sie ging zur Tür, und das schlecht sitzende Krankenhausnachthemd rutschte ihr über die linke Schulter. Die Klimaanlage und der Schlitz im Rücken ließen sie frösteln. Sie öffnete die Tür und erschreckte den muskulösen jungen Wachmann, der rechts vor der Tür auf einem Stuhl saß.

»Ja, Mrs ...?« Der Mann sprang auf.

»Schsch!« befahl Marie, den Zeigefinger auf den Lippen. »Kommen Sie herein! Schnell!«

Verwirrt folgte der junge Chinese in das Zimmer. Sie ging schnell zum Bett und stieg wieder hinein, zog aber die Decke nicht hoch. Sie schob die rechte Schulter etwas vor; das Nachthemd glitt herunter, kaum noch von ihren Brüsten festgehalten.

»Kommen Sie her!« flüsterte sie. »Niemand darf hören, was ich Ihnen sage.«

»Was ist denn, Lady?« fragte der Wachmann, bemüht, ihre Blöße nicht zu sehen; den Blick auf ihr Gesicht und ihr langes kastanienbraunes Haar gerichtet. Er trat ein paar Schritte vor, hielt aber immer noch Distanz. »Die Tür ist geschlossen. Niemand kann Sie hören.«

»Ich möchte, daß Sie -« Ihre Stimme wurde so leise, daß er nichts mehr hören konnte.

»Nicht mal ich kann Sie hören, Lady.« Der Mann trat näher.

»Sie sind von meinen Bewachern der netteste. Sie sind sehr freundlich zu mir gewesen.«

»Ich hatte keinen Grund, unfreundlich zu sein.«

»Wissen Sie, warum man mich hier festhält?«

»Zu Ihrer eigenen Sicherheit«, log der Wachmann mit ausdruckslosem Gesicht.

»Ich verstehe.« Marie hörte, wie draußen Schritte näher kamen. Sie wälzte sich im Bett herum und das Nachthemd rutschte nach oben, so daß jetzt auch ihre Beine entblößt waren. Die Tür ging auf, und die Schwester trat ein.

»Oh?« Die Chinesin war verblüfft. Was sie gesehen hatte, war in ihren Augen zweifellos ein widerwärtiges Schauspiel. Sie sah den verlegenen Wachmann an, während Marie sich bedeckte. »Ich habe mich schon gewundert, weshalb Sie nicht draußen sind.«

»Die Lady wollte mit mir sprechen«, erwiderte der Mann und trat zurück.

Die Schwester warf Marie einen schnellen Blick zu. »Ja?«

»Wenn er das sagt.« -

»Das ist doch Unsinn«, sagte der muskulöse Wachmann und ging zur Tür und öffnete sie. »Der Lady geht es nicht gut«, fügte er hinzu. »Sie ist nicht recht im Kopf. Sie redet Unsinn.« Er ging zur Tür hinaus und schloß sie fest hinter sich.

Wieder sah die Schwester Marie an, und ihr Blick war jetzt fragend. »Ist auch alles in Ordnung?« fragte sie.

»Ich bin recht im Kopf, und ich rede auch keinen Unsinn. Aber ich tue, was man mir sagt.« Marie hielt inne und fuhr dann nach kurzer Pause fort: »Wenn dieser Hüne von einem Major das Krankenhaus verläßt, dann kommen Sie doch bitte zu mir. Ich habe Ihnen etwas zu sagen.«

»Es tut mir leid, aber das darf ich nicht. Sie brauchen Ruhe. Hier, ich habe ein Beruhigungsmittel für Sie. Wasser haben Sie ja.«

»Sie sind eine Frau«, sagte Marie und starrte die Schwester durchdringend an.

»Ja«, sagte die Chinesin nur und stellte einen winzigen Papierbecher mit einer Tablette auf Maries Nachttisch und ging zur Tür zurück. Sie warf ihrer Patientin einen letzten fragenden Blick zu und verließ das Zimmer.

Marie stieg aus dem Bett und ging lautlos zur Tür. Sie legte das Ohr an die Metallfüllung; draußen im Korridor war gedämpft ein schneller Wortwechsel zu hören, offensichtlich in chinesischer Sprache. Was auch immer dort gesprochen wurde und zu welchem Ergebnis auch immer das kurze, erregte Gespräch kam, sie hatte die Saat des Zweifels gesät. Konzentriere dich auf das Sichtbare, hatte Jason Borowski immer wieder betont, während der Hölle, die sie in Europa erlebt hatten. Das ist wirksamer als alles andere. Auf der Grundlage dessen, was sie sehen, werden die Leute viel bereitwilliger die Schlüsse ziehen, die du willst, als wenn du ihnen noch so überzeugende Lügen auftischst.

Sie ging zum Kleiderschrank und machte ihn auf. Die paar Sachen, die sie für sie in Hongkong gekauft hatten, hatten sie in dem Appartement gelassen, aber die Hose, die Bluse und die Schuhe, die sie an dem Tag getragen hatte, als man sie ins Krankenhaus gebracht hatte, waren da; niemand war es in den Sinn gekommen, sie zu entfernen. Warum auch? Sie konnten schließlich selbst sehen, daß sie sehr krank war. Das Zittern und die Krämpfe hatten sie überzeugt; alle sahen sie es. Jason Borowski würde das verstehen. Sie blickte auf das weiße Telefon auf dem Nachttisch. Es war sehr klein, die Tasten mit den Ziffern waren in den Hörer eingebaut. Sie überlegte, obwohl es niemanden gab, den sie hätte anrufen können. Sie ging an den Tisch und griff nach dem Telefon. Aber - wie nicht anders zu erwarten - es war tot. Es gab den Klingelknopf für die Schwester, das war alles, was sie brauchte, und alles, was man ihr erlaubte.

Sie ging ans Fenster und hob den weißen Vorhang etwas an, nur um die Nacht zu begrüßen. Die atemberaubenden farbigen Lichter Hongkongs erleuchteten den Himmel, und sie war näher am Himmel als am Boden. Wie David sagen würde - oder besser Jason: So sei es. Die Tür. Der Korridor.

So sei es.

Sie trat an das Waschbecken. Die Zahnbürste und die Zahnpasta, die das Krankenhaus gestellt hatte, waren noch in Plastik verpackt; auch die Seife war noch jungfräulich, in der Originalverpackung, mit der Garantie auf Reinheit, reiner als der Hauch von Engeln.

Daneben lag das Badezimmer; auch nichts Besonderes; nur ein Behälter mit Damenbinden und einer Aufschrift in vier Sprachen, was man mit ihnen nicht tun solle. Sie ging ins Zimmer zurück. Was suchte sie? Was auch immer es war, sie hatte es nicht gefunden.

Studiere alles. Du wirst etwas finden, das du brauchen kannst. Jasons Worte, nicht Davids. Und dann sah sie es.

Manche Krankenhausbetten - und dies war eines davon -haben einen Griff am Sockel, mit dem man das Bett hochstellen oder senken kann, je nachdem, in welche Richtung man ihn dreht. Diesen Griff kann man entfernen, wenn ein Patient intravenös ernährt wird oder wenn ein Arzt ihn in einer bestimmten Lage festhalten möchte, zum Beispiel im Falle eines Streckverbandes. Die Schwester kann diesen Griff abschrauben. Das geschieht häufig in der Besuchszeit, um zu verhindern, daß Besucher die Lage des Patienten gegen den Wunsch des Arztes verändern. Marie kannte diese Art von Betten und auch diesen Griff. Als David sich von den Verletzungen erholte, die ihm in Treadstone 71 zugefügt worden waren, wurde er intravenös ernährt; sie hatte den Schwestern zugeschaut. Die Schmerzen ihres künftigen Ehemannes waren schlimmer, als sie ertragen konnte, und die Schwestern spürten offenbar, daß sie, in dem

Bestreben, ihm Linderung zu verschaffen, die Behandlung stören könnte. Sie wußte, wie man den Griff abschraubte, und wenn er erst lose war, konnte man ihn benutzen wie ein Winkeleisen.

Sie schraubte ihn ab, legte sich wieder ins Bett und versteckte den Griff unter der Decke. Sie wartete und dachte, wie verschieden ihre zwei Männer doch waren - in einem Mann. Ihr Geliebter, Jason, konnte so kalt und geduldig sein, den richtigen Augenblick abwarten, um loszuspringen, zu schockieren, Gewalt anzuwenden, um des Überlebens willen. Und ihr Ehemann, David, so selbstlos, immer bereit zuzuhören - der Gelehrte - die Gewalt um jeden Preis vermeidend, weil er sie erlebt hatte, und den Schmerz und die Angst haßte - und mehr als alles andere die Notwendigkeit, seine Gefühle auszuschalten, zu reagieren wie ein Tier. Und jetzt wurde von ihm verlangt, wieder der Mann zu werden, den er so sehr verabscheute. David, mein David! Verlier nicht den Verstand! Ich liebe dich so sehr.

Geräusche im Korridor. Marie sah auf die Uhr auf dem Nachttisch. Sechzehn Minuten waren verstrichen. Sie legte beide Hände auf die Decke, als die Schwester eintrat und ließ die Lider sinken, als wäre sie müde.

»So, meine Liebe«, sagte die Frau und trat einige Schritte auf sie zu. »Sie haben mich gerührt, das kann ich nicht leugnen.

Aber ich habe meine Anweisungen - sehr genaue Anweisungen, die Sie betreffen. Der Major und Ihr Arzt sind jetzt weg. Also, was wollten Sie mir sagen?«

»Nicht ... jetzt«, flüsterte Marie, und der Kopf sank ihr herunter. Ihr Gesicht wirkte jetzt schläfrig.

»Ich bin so müde. Ich habe die ... Tablette genommen.«

»Geht es um den Posten draußen?«

»Er ist krank ... er faßt mich nie an - mir macht das nichts aus. Er besorgt mir Sachen ... ich bin so müde.«

»Was meinen Sie mit >krank

»Er ... sieht gern Frauen an ... er ... belästigt mich nicht ... wenn ich ... schlafe.« Marie fielen die Augen zu.

»Zang!« sagte die Schwester halblaut. »Schmutzig, schmutzig!« Sie ging hinaus, machte die Tür zu und herrschte den Posten an: »Die Frau schläft! Haben Sie mich verstanden!«

»Das ist ja ein Segen.«

»Sie sagt, Sie fassen sie nie an!«

»Daran habe ich nie auch nur gedacht!«

»Dann denken Sie jetzt auch nicht daran!«

»Ich kann auf Ihre Vorträge verzichten, Sie alte Vettel. Ich tue hier nur meine Pflicht.«

»Dann tun Sie sie auch! Ich spreche morgen früh mit Major Lin Wenzu!« Die Frau funkelte den Mann zornig an und marschierte in feindseliger Haltung den Korridor hinunter.

»Sie!« Das Flüstern kam aus Maries Tür, die einen Spalt offen stand. Sie schob sie etwas weiter auf und sagte: »Diese Schwester! Wer ist das?«

»Ich habe gedacht, Sie schlafen, Lady«, sagte der verwirrte Posten.

»Sie hat mir gesagt, daß sie Ihnen das sagen würde.«

»Was?«

»Sie will wiederkommen! Sie sagt, es gibt Verbindungstüren zu den anderen Zimmern. Wer ist sie?«

»Was hat sie gesagt?«

»Nicht reden! Schauen Sie mich nicht an! Sie wird Sie sehen!«

»Sie ist den Gang hinuntergegangen, nach rechts.«

»Das weiß man nie. Der Teufel ist ein Eichhörnchen! Verstehen Sie, was ich meine?«

»Ich weiß überhaupt nichts!« jammerte der Posten. »Nicht was sie meint und auch nicht, was Sie meinen, Lady!«

»Kommen Sie rein. Schnell! Ich glaube, sie ist eine Kommunistin! Aus Peking!«

»Beijing?«

»Ich gehe nicht mit ihr!« Marie zog die Tür auf und huschte hinter sie.

Der Posten kam mit einem langen Schritt ins Zimmer. Die Tür flog zu. Der Raum war dunkel; nur das Badezimmerlicht war eingeschaltet, aber die Badezimmertür war fast geschlossen. Der Mann war zu sehen, aber er konnte nichts sehen. »Wo sind Sie, Lady? Seien Sie ganz ruhig. Sie wird Sie nirgendwohin -«

Mehr brachte der Posten nicht heraus. Marie hatte ihm den Eisengriff über den Schädel geschlagen, und zwar mit der Kraft einer gesunden Frau, die auf der Ranch in Ontario durchaus gelernt hatte, beim Viehtrieb mit der Bullenpeitsche umzugehen. Der Posten brach zusammen; sie kniete nieder und arbeitete schnell.

Der Chinese war muskulös, aber weder besonders breit noch besonders groß. Marie war schlank und groß für eine Frau. Die Kleider und Schuhe des Postens paßten halbwegs. Nur ihr Haar war ein Problem. Sie sah sich um. Studiere alles. Du wirst etwas finden, das du benutzen kannst. Sie fand es. An einer Chromstange am Nachttisch hing ein Handtuch. Sie türmte sich das Haar auf dem Kopf auf und schlang das Handtuch darum. Es sah ohne Zweifel albern aus, vor allem bei näherem Hinschauen, aber eine Art Turban war es.

Bis auf Unterhosen und Socken ausgezogen, stöhnte der Posten und begann sich aufzurichten, brach dann aber wieder bewußtlos zusammen. Marie rannte zum Kleiderschrank, holte ihre eigenen Kleider heraus und ging zur Tür, öffnete sie vorsichtig, nur einen Spaltbreit. Zwei Schwestern - eine Asiatin und eine Europäerin - unterhielten sich leise im Korridor. Die

Chinesin war nicht die Frau, bei der sie sich über den Posten beschwert hatte. Eine weitere Schwester tauchte auf, nickte den beiden zu und ging geradewegs auf eine Tür auf der anderen Seite des Flurs zu. Eine Wäschekammer. Ein Telefon klingelte am Stationstresen, fünfzehn Meter von ihr entfernt; vor dem runden Tresen gabelte sich der Korridor. Ein Schild mit der Aufschrift AUSGANG hing von der Decke, und der Pfeil wies nach rechts. Die beiden Schwestern drehten sich um und gingen auf den Tresen zu; die dritte kam mit einem Arm voll Laken aus der Wäschekammer.

Am besten flieht man etappenweise und macht sich dabei die Verwirrung des Gegners zunutze.

Marie schlich sich aus dem Zimmer und rannte über den Flur auf die Wäschekammer zu. Sie ging hinein und schloß die Tür. Plötzlich hallte der Protestschrei einer Frauenstimme durch den Korridor und ließ sie erstarren. Sie konnte schwere, schnelle Schritte hören, die näher kamen, dann weitere Schritte.

»Der Posten!« schrie die chinesische Schwester auf englisch. »Wo ist dieses Schwein von Posten?«

Marie öffnete die Kammertür einen Spaltbreit. Drei aufgeregte Schwestern standen vor ihrem Krankenzimmer; sie rannten hinein.

»Sie! Sie haben sich ausgezogen! Zang sile, Sittenstrolch! Schauen Sie ins Badezimmer!«

»Sie!« schrie der Posten mit schwankender Stimme. »Sie haben sie entkommen lassen. Sie bleiben hier! Ich übergebe Sie meinem Vorgesetzten!«

»Loslassen, Schwein! Sie lügen!«

»Eine Kommunistin sind Sie! Aus Beijing!«

Marie schlich sich aus der Wäschekammer, einen Stapel Handtücher über der Schulter, rannte auf die Gabelung im Korridor zu und dort in Richtung, die der Pfeil ihr wies.

»Rufen Sie Major Lin! Ich habe eine kommunistische Agentin gefangen!«

»Rufen Sie die Polizei! Der Mann ist pervers!«

Vor dem Krankenhaus rannte Marie auf den Parkplatz zu, suchte sich die dunkelste Stelle und kauerte sich außer Atem in den Schatten zwischen zwei Wagen. Sie mußte nachdenken; sie mußte sich ein Bild von der Lage machen. Fehler konnte sie sich jetzt nicht leisten. Sie ließ die Handtücher und ihre Kleider fallen und durchsuchte die Taschen des Postens, suchte nach einer Brieftasche oder Geldbörse. Sie fand sie, öffnete sie und zählte in dem schwachen Licht das Geld. Die Börse enthielt etwas über sechshundert Hongkong-Dollar, was knapp hundert Dollar in amerikanischer Währung entsprach. Das reichte kaum für ein Hotelzimmer; dann sah sie eine Kreditkarte von einer Bank in Kowloon. Wenn nötig, würde sie die Karte vorlegen -falls sie ein Hotelzimmer fand. Sie nahm das Geld und die Plastikkarte heraus, steckte die Börse in die Tasche zurück und begann, sich umzuziehen, während sie gleichzeitig die Straßen außerhalb des Krankenhausgeländes musterte. Zu ihrer großen Erleichterung waren sie ziemlich überfüllt, und die Menschenmenge bot ihr Sicherheit.

Plötzlich kam ein Wagen auf den Parkplatz gerast und bremste mit quietschenden Reifen vor der Tür zur Notaufnahme. Marie richtete sich auf und spähte durch die Wagenfenster. Der hünenhafte chinesische Major und der kalte, sachliche Arzt sprangen aus dem Wagen und liefen auf den Eingang zu. Als sie durch die Tür verschwanden, rannte Marie vom Parkplatz auf die Straße.

Sie ging stundenlang, machte Station in einem Schnellimbiß, wo sie sich vollstopfte, bis sie keinen Hamburger mehr sehen konnte. Dann ging sie in die Damentoilette und betrachtete sich im Spiegel. Sie hatte abgenommen und dunkle Ringe unter den

Augen, aber sie war noch sie selbst. Bloß das verdammte Haar! Sie würden ganz Hongkong nach ihr absuchen, und ihre Größe und ihr Haar würden die wichtigsten Punkte jeder Beschreibung sein. Am ersten Punkt konnte sie wenig ändern, dafür um so mehr am zweiten. In einer Drogerie kaufte sie Haarnadeln und Spangen. Dann erinnerte sie sich an das, worum Jason sie in Paris gebeten hatte, als ihr Foto in den Zeitungen erschienen war. Sie kämmte sich das Haar straff nach hinten, band es zu einem Knoten zusammen und steckte sich die Seitenpartien am Kopf fest. Das Ergebnis war ein viel strengeres Gesicht, was durch ihren Gewichtsverlust und das fehlende Make-up noch betont wurde. So hatte es Jason - David - in Paris haben wollen ... Nein, überlegte sie, das in Paris war nicht David gewesen. Das war Jason Borowski. Und es war Nacht, wie damals in Paris.

»Warum tun Sie das, Miss?« fragte eine Verkäuferin, die neben dem Spiegel an der Kosmetiktheke stand. »Sie haben so hübsches Haar, sehr schön.«

»Oh? Ich bin es einfach leid, es immer bürsten zu müssen. Das ist alles.«

Marie verließ die Drogerie, kaufte von einem Straßenhändler flache Sandalen und von einem anderen eine imitierte Gucci-Handtasche - die G's standen auf dem Kopf. Jetzt hatte sie noch dreihundert Hongkong-Dollar übrig und keine Ahnung, wo sie die Nacht verbringen sollte. Zum Konsulat zu gehen, war es sowohl zu spät als auch zu früh. Eine Kanadierin, die nach Mitternacht dort eintraf und um eine Liste des im Konsulat beschäftigten Personals bat, würde Mißtrauen auslösen; außerdem hatte sie noch keine Zeit gehabt, darüber nachzudenken, wie sie die Bitte vorbringen sollte. Wohin also gehen? Sie brauchte Schlaf. Unternimm nichts, wenn du müde oder erschöpft bist. Die Gefahr, einen Fehler zu machen, ist dann zu groß. Ruhe ist eine Waffe. Vergiß das nicht.

Sie kam an einer Arkade vorbei, die gerade im Begriff war zu schließen. Ein junges amerikanisches Paar in Bluejeans feilschte mit dem Besitzer eines T-Shirt-Standes.

»Hey, jetzt kommen Sie schon, Mann«, sagte der junge Mann. »Sie wollen doch heute abend noch etwas verkaufen, oder nicht? Ich meine, Sie verdienen dann ein bißchen weniger, aber immerhin sind das ein paar dineros in Ihrer Tasche, stimmt's?«

»Keine dineros«, schrie der Händler grinsend, »nur Dollars, und davon bieten Sie mir zu wenig! Ich habe Kinder. Sie stehlen ihnen das kostbare Essen vom Mund!«

»Wahrscheinlich gehört ihm ein Restaurant«, sagte das Mädchen.

»Sie wollen Restaurants? Echtes chinesisches Essen?«

»Herrje, du hast recht, Lacy!«

»Mein dritter Vetter väterlicherseits hat einen Imbißstand zwei Straßen von hier. Ganz nahe, ganz billig, sehr gut.«

»Vergessen Sie's«, sagte der Junge. »Vier Dollar, US, für die sechs T-Shirts. Nehmen Sie's oder lassen Sie's bleiben.«

»Ich nehme es. Nur weil Sie zu stark für mich sind.« Der Händler griff nach den Geldscheinen, die der Amerikaner ihm hinhielt, und stopfte die T-Shirts in eine Papiertüte.

»Du bist großartig, Buzz.« Das Mädchen küßte ihn auf die Wange. »Er macht trotzdem noch vierhundert Prozent Profit.«

»Das ärgert mich so an euch Betriebswirten! Ihr habt einfach keinen Sinn für Ästhetik. Für das Jagdfieber, für die Freude am Wortwechsel!«

»Wenn wir je heiraten, werde ich dich den Rest meines Lebens ernähren müssen, du großer Geschäftsmann.«

Gelegenheiten werden sich bieten. Du mußt sie erkennen und schnell handeln. Marie ging auf die zwei Studenten zu.

»Bitte entschuldigen Sie«, sagte sie, hauptsächlich dem Mädchen zugewandt. »Ich habe Sie reden hören -« »War ich nicht großartig?« unterbrach sie der junge Mann.

»Sehr wortgewandt«, erwiderte Marie. »Aber ich fürchte, daß Ihre Freundin recht hat. Diese T-Shirts haben ihn ganz bestimmt weniger als fünfundzwanzig Cent das Stück gekostet.«

»Vierhundert Prozent«, sagte das Mädchen und nickte.

»Ich bin von Banausen umgeben!« schrie der junge Mann. »Ich studiere Kunstgeschichte. Eines Tages werde ich das Metropolitan-Museum leiten!«

»Versuch bloß nicht, es zu kaufen«, sagte das Mädchen und wandte sich wieder Marie zu. »Tut mir leid, wir sind nicht verrückt, uns macht das nur einen Riesenspaß. Wir haben Sie unterbrochen.«

»Mir ist das wirklich ausgesprochen peinlich, aber mein Flugzeug hat sich um einen Tag verspätet, und ich habe meine Gruppe nach China verpaßt. Das Hotel ist voll, und jetzt hätte ich gerne -«

»Eine Bleibe brauchen Sie?« unterbrach sie der Kunststudent.

»Ja. Offen gestanden, ich habe nicht allzuviel Geld. Ich bin Handelsschullehrerin und komme aus Maine -Betriebswirtschaft, muß ich leider gestehen.«

»Keine Ursache«, sagte das Mädchen und lächelte.

»Morgen kann ich mich meiner Gruppe anschließen, aber eben leider erst morgen.«

»Wir können Ihnen helfen, nicht wahr, Lacy?«

»Natürlich können wir das. Unser College hat eine Übereinkunft mit der chinesischen Universität von Hongkong.«

»Der Zimmerservice ist zwar nicht besonders, aber der Preis stimmt«, sagte der junge Mann. »Drei US-Dollar pro Nacht. Aber, heiliger Strohsack, die sind vielleicht vorsintflutlich!«

»Er meint, daß sie hier ziemlich puritanisch sind. Die Geschlechter schlafen getrennt.«

»>Boys und Girls zusammen««, sang der Kunststudent. »Den Teufel sind sie!« fügte er dann hinzu.

Marie saß auf der Pritsche in dem riesigen Raum, dessen Decke bestimmt fünfzehn Meter hoch war; wahrscheinlich handelte es sich um eine Turnhalle. Rings um sie junge Frauen, manche schlafend, manche nicht. Die meisten waren still, aber ein paar schnarchten, andere zündeten sich Zigaretten an, und gelegentlich hörte man eine zur Toilette schlurfen, wo die Neonbeleuchtung eingeschaltet war. Sie war unter Kindern, und sie wäre jetzt auch gern ein Kind gewesen, frei von den Schrecken, die überall waren. David, ich brauche dich! Du glaubst, ich sei so stark, aber, Liebling, ich schaffe das nicht! Was soll ich tun? Wie soll ich es tun?

Studiere alles. Du wirst etwas finden, was du gebrauchen kannst. Jason Borowski.

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