Kapitel 33

Sie waren jetzt in dem abgeschotteten Haus, in dem Kommunikationszentrum mit den weißen Wänden - in einer antiseptischen Zelle, die zu einem futuristischen Laborkomplex gepaßt hätte. Weißgesichtige Computer ragten über den weißen Theken zur Linken auf, Dutzende schmaler, dunkler, rechteckiger Münder mit Digitalanzeigen als Zähnen und ausdruckslosen Gesichtern, auf denen grüne Zahlen auf und ab tanzten. Zur Rechten stand ein weißer Konferenztisch auf dem weiß gekachelten Boden, und die einzige Abweichung vom antiseptischen Weiß waren ein paar schwarze Aschenbecher. Die Spieler hatten rings um den Tisch Platz genommen. Man hatte die Techniker weggeschickt, alle Systeme in Wartestellung versetzt, nur der Red-Alert für Notfälle, eine acht mal zwanzig Zentimeter große Tafel auf dem Computer in der Mitte, blieb aktiv; vor der verschlossenen Tür wartete ein Operator für den Fall, daß die beunruhigenden roten Lichter aufleuchten sollten. Außerhalb dieses geheiligten, isolierten Raumes löschte die Feuerwehr von Hongkong die letzten schwelenden Spuren des Brandes, während die Polizei die erschrockenen Bewohner aus den umliegenden Anwesen von Victoria Peak beruhigte - von denen viele überzeugt waren, daß Armageddon gekommen sei, in Gestalt eines Angriffs vom Festland -, indem sie jedem sagten, die schrecklichen Ereignisse seien das

Werk eines geistesgestörten Verbrechers, den inzwischen Sondereinheiten der Regierung getötet hätten. Doch das reichte nicht aus, die skeptischen Bewohner des exklusiven Viertels zu beruhigen. Ihre Welt war ohnehin bedroht, und sie wollten Beweise. Deshalb wurde die Leiche des Meuchelmörders auf einer Bahre an den neugierigen Zuschauern vorbeigetragen, die Plane ein Stück zur Seite gezogen, so daß man den von Kugeln durchbohrten, blutüberströmten Leichnam sehen konnte. Erst jetzt kehrten die Reichen vom Victoria Peak in ihre Villen zurück, und mancher von ihnen überlegte schon jetzt im stillen, ob er Schadenersatzansprüche an seine Versicherung stellen könne.

Die Spieler saßen auf weißen Plastikstühlen, lebende, atmende Roboter, die auf ein Signal warteten; keiner von ihnen hatte den Mut oder die Energie, den Anfang zu machen. In ihre Erschöpfung mischte sich die Angst vor gewaltsamem Tod, zeichnete ihre Gesichter - alle, mit Ausnahme eines einzigen. Auch in sein Gesicht hatte die Erschöpfung tiefe Furchen eingegraben, aber in seinem Blick war keine Furcht, nur Verwirrung. Er begriff immer noch nicht ganz, was eigentlich geschehen war. Noch vor Minuten hatte der Tod für ihn keinen Schrecken mehr besessen; er war dem Leben vorzuziehen. Jetzt, da seine Frau neben ihm saß und seine Hand hielt, konnte er spüren, wie tief in ihm der Zorn anschwoll, in den Tiefen seines verwirrten Bewußtseins aufwallte und nach oben drängte, wie weit entfernter Donner über einem See, wenn ein Sommergewitter naht.

»Wer hat uns das angetan?« sagte David Webb mit einer Stimme, die kaum lauter als ein Flüstern war.

»Ich«, antwortete Havilland, am Ende des rechteckigen weißen Tisches. Der Botschafter beugte sich langsam vor und erwiderte Webbs tödlich starren Blick. »Wenn ich jetzt vor Gericht stünde, würde ich auf mildernde Umstände plädieren müssen.«

»Und die wären?« fragte David mit monotoner Stimme.

»Zunächst wäre da die Krise zu erwähnen«, sagte der Diplomat. »Zum zweiten Sie.«

»Das müssen Sie erklären«, unterbrach Alex Conklin vom anderen Ende des Tisches her und sah Havilland an. Webb und Marie saßen links von ihm, vor der weißen Wand, Morris Panov und Edward McAllister ihnen gegenüber. »Und lassen Sie nichts aus«, fügte der CIA-Mann hinzu.

»Das ist nicht meine Absicht«, sagte der Botschafter, ohne den Blick von David zu wenden. »Die Krise ist echt, die Katastrophe steht unmittelbar bevor. Eine Gruppe von Fanatikern in Peking hat eine Verschwörung angezettelt; der Anführer ist ein Mann, der in der Hierarchie seiner Regierung einen so fest verwurzelten Platz hat und als Philosophenfürst so verehrt wird, daß es unmöglich ist, ihn bloßzustellen. Niemand würde es glauben. Jeder, der den Versuch machte, würde zum Paria werden. Schlimmer noch, der bloße Versuch würde zu einem solchen Aufschrei der Empörung führen, daß Peking sich beleidigt und argwöhnisch zurückziehen würde und zu keinerlei Verhandlungen mehr bereit wäre. Wenn aber andererseits die Verschwörung nicht zerschlagen wird, dann wird sie die Verträge von Hongkong zunichte machen und damit die Kronkolonie in den Abgrund stürzen. Die sofortige Besetzung durch die Volksrepublik würde die Folge sein. Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, was das bedeuten würde - wirtschaftliches Chaos, Gewalt, Blutvergießen, und ohne Zweifel Krieg. Wie lange würde es möglich sein, solche Feindseligkeiten einzudämmen, bis andere Nationen sich gezwungen sähen, Partei zu ergreifen? Das Risiko ist unvorstellbar.«

Stille. Blicke, die sich nicht losließen.

»Fanatiker der Kuomintang«, sagte David mit ausdrucksloser und kalter Stimme. »China gegen China. Der Schlachtruf, den die Wahnsinnigen schon seit vierzig Jahren brüllen.«

»Aber nur brüllen, Mr. Webb. Worte, Gerede, aber keine Taten, keine Anschläge, keine Strategien.« Havilland verschränkte die Hände auf dem Tisch und atmete tief. »Und die gibt es jetzt. Die Strategie liegt vor. Eine so heimtückische, raffinierte Strategie, die so gründlich durchdacht ist, daß sie glauben, sie könne nicht scheitern. Aber natürlich wird sie scheitern, und dann wird die Welt sich einer geradezu katastrophalen Krise gegenübersehen. Sie könnte durchaus die allerletzte Krise auslösen, eine Krise, die wir nicht überleben können. Der Pazifikraum würde ganz bestimmt nicht überleben.«

»Damit sagen Sie mir nichts, was ich nicht selbst gesehen hätte. Sie haben alle wichtigen Stellen unterwandert und gewinnen wahrscheinlich immer noch Anhänger dazu, aber trotzdem sind sie Fanatiker, eine Randgruppe. Und wenn die anderen genauso sind wie der Irre, den ich gesehen habe, dann würde man sie alle auf dem Tian-An-Men-Platz aufhängen. Man könnte die Exekution über Fernsehen übertragen, und sogar die Gegner der Todesstrafe würden es billigen. Er war - er ist - ein Sadist, ein Schlächter. Schlächter sind keine Staatsmänner. Man nimmt sie nicht ernst.«

»Hitler hat man ernst genommen, damals, neunzehnhundertdreiunddreißig«, meinte Havilland. »Und den Ayatollah Khomeini vor erst ein paar Jahren auch. Aber offenbar wissen Sie nicht, wer der wahre Rädelsführer ist. Er würde sich niemals zeigen, unter gar keinen Umständen, wenn auch nur die entfernteste Chance bestünde, daß Sie ihn sehen könnten. Trotzdem kann ich Ihnen versichern, daß er ein Staatsmann ist und sehr ernst genommen wird. Aber, um es noch einmal zu sagen, sein Ziel ist nicht Peking. Es ist Hongkong.«

»Ich habe gesehen, was ich gesehen habe, und gehört, was ich gehört habe, und es wird lange dauern, bis ich das werde vergessen können ... Sie brauchen mich nicht, Sie haben mich nie gebraucht. Sie müssen diese Leute nur isolieren, dafür sorgen, daß das Zentralkomitee erfährt, was gespielt wird, und Taiwan auffordern, sie fallenzulassen - und Taiwan wird das tun! Die Zeiten haben sich geändert. Taiwan will ebensowenig einen Krieg wie Peking.«

Der Botschafter musterte den Mann von Medusa und bemühte sich, abzuschätzen, wieviel David wußte. Er begriff, daß Webb in Peking etliches gesehen hatte, woraus er eigene Schlüsse ziehen konnte, aber nicht soviel, daß er begriff, worum es bei der Hongkong-Verschwörung ging. »Dazu ist es zu spät. Das Spiel ist schon im Gang. Verrat auf der höchsten Ebene der Regierung Chinas, Verrat an die verachteten Nationalchinesen, denen man unterstellt, finanziell mit dem Westen unter einer Decke zu stecken. Selbst die ergebenen Anhänger von Deng Xiaoping könnten einen solchen Schlag gegen Pekings Stolz nicht hinnehmen, einen derartigen Gesichtsverlust vor der ganzen Welt - die Rolle eines hereingelegten Tölpels. Wir würden es auch nicht einfach hinnehmen können, wenn bekannt würde, daß General Motors, IBM und die New Yorker Börse von Verrätern Amerikas geführt wurden, ausgebildet von den Sowjets, von Verrätern, die Milliarden in Projekte gesteckt haben, die dem nationalen Interesse zuwiderlaufen.«

»Die Analogie stimmt«, unterbrach McAllister, die Finger gegen die rechte Schläfe gedrückt. »Alles zusammengenommen ist es nämlich genau das, was Hongkong für die Volksrepublik sein wird - das und noch hunderttausendmal mehr. Aber es gibt noch ein anderes Element, und das ist ebenso beunruhigend wie alles andere, was wir bis jetzt erfahren haben. Das möchte ich jetzt darlegen - in meiner Position als Aialytiker, als jemand, dessen Aufgabe es ist, die Reaktionen von Gegnern und potentiellen Gegnern zu kalkulieren -«

»Machen Sie es kurz«, unterbrach Webb. »Sie reden zuviel und reiben sich zuviel den Kopf, und ich mag Ihre Augen nicht.

Sie haben Augen wie ein toter Fisch. Sie haben in Maine zuviel geredet. Sie sind ein Lügner.«

»Ja. Ja, ich verstehe, was Sie sagen und warum Sie es sagen. Aber ich bin ein anständiger Mann, Mr. Webb. Ich glaube an Anstand.«

»Ich nicht. Nicht mehr. Fahren Sie fort. Das ist alles ungeheuer interessant, und ich verstehe kein Wort, weil bis jetzt kein gottverfluchter Satz mit Sinn und Verstand gesagt worden ist. Was haben Sie für einen Beitrag zu geben, Sie Lügner?«

»Ich meine den Faktor des organisierten Verbrechertums.« McAllister schluckte, als David die Beleidigung wiederholte, brachte seine Worte aber doch so vor, als erwarte er, daß jeder begreife. Als er nur verständnislose Blicke erntete, fügte er hinzu: »Die Triaden!«

»Mafia auf asiatisch«, sagte Marie, ohne den Blick von dem Staatssekretär zu wenden. »Kriminelle Bruderschaften.«

McAllister nickte. »Rauschgift, illegale Einwanderung, Glücksspiel, Prostitution, Geldverleih - das ganze Spektrum.«

»Und mehr«, fügte Marie hinzu. »Sie haben sich ein eigenes Wirtschaftssystem aufgebaut. Sie besitzen Banken natürlich durch Strohmänner getarnt - in ganz Kalifornien, Oregon, dem Staate Washington und auch in meinem Land, in British Columbia. Sie waschen Millionensummen von Geld, jeden Tag tun sie das, durch Transaktionen ins Ausland.«

»Was die Krise nur noch verschlimmert«, sagte McAllister eifrig.

»Warum?« fragte David. »Worauf wollen Sie hinaus?«

»Verbrechen, Mr. Webb. Die Führer der Volksrepublik haben dem Verbrechen einen erbitterten Kampf angesagt. Wir haben Berichte darüber, daß in den letzten drei Jahren über hunderttausend Hinrichtungen stattgefunden haben, wobei kaum ein Unterschied zwischen kleineren Vergehen und schweren

Straftaten gemacht wird. Das paßt zu dem Regime - der Herkunft des Regimes. Alle Revolutionsregimes halten sich für einen Ausbund an Tugend; daß ihre Sache sauber bleibt, ist das allerwichtigste. Peking ist zwar bereit, sich ideologisch anzupassen, um Nutzen aus den westlichen Märkten zu ziehen, wenn es um das organisierte Verbrechen geht, versteht Peking überhaupt keinen Spaß.«

»Das klingt ja, als ob das alles miteinander Paranoiker wären«, warf Panov ein.

»Das sind sie auch. Etwas anderes können sie sich gar nicht leisten.«

»Aus ideologischen Gründen?« fragte der Psychiater skeptisch.

»Der Einwohnerzahl wegen, Doktor. Daß die Revolution sauber bleiben soll, ist ein Vorwand. In Wirklichkeit haben sie Angst, weil das Land riesengroß, ungeheuer dicht besiedelt ist und gigantische Ressourcen hat. Mein Gott, wenn sich da das organisierte Verbrechen breitmachte - und bei einer Milliarde Menschen sollten Sie nicht einmal einen Moment lang glauben, daß es dafür nicht genügend Interessenten gäbe-, könnte China eine Nation von Triaden werden. Marktflecken, Dörfer, ganze Städte könnten in >Familien<-Territorien aufgeteilt werden, die alle vom westlichen Kapital und der westlichen Technik profitieren. Es würde eine Schwemme illegaler Exporte geben, die die ganze Welt überfluten würde. Rauschgift von zahllosen Hügeln und Feldern, die man unmöglich überwachen könnte, Waffen aus Fabriken, die sonst das Militär beliefern - Textilien aus Untergrundspinnereien, die gestohlene Maschinen und Bauernarbeit einsetzen würden, und damit die Industrien im Westen vernichten würden. Verbrechen.«

»Das wäre ein großer Sprung nach vorne, wie ihn in den letzten vierzig Jahren niemand geschafft hat«, sagte Conklin.

»Wer hätte es auch gewagt, den Versuch zu unternehmen?« fragte McAllister. »Wenn man dafür hingerichtet werden kann, daß man fünfzig Yuan gestohlen hat, wer wagt es da, es auf hunderttausend abzusehen? Dazu braucht es Protektion, Organisation und Helfershelfer in hoher Position. Das ist es, was Peking fürchtet, und daher dieser Verfolgungswahn. Die Führer der Volksrepublik haben panische Angst vor Korruption auf den oberen Ebenen der Hierarchie. Das könnte zu einer Erosion der politischen Infrastruktur führen. Die Führer würden die Kontrolle verlieren, und das werden sie nicht riskieren. Ich wiederhole, solche Ängste sind paranoid, aber für die chinesische Führung sind sie schrecklich real. Jede leiseste Andeutung, daß mächtige kriminelle Gruppierungen im Verein mit Verschwörern aus dem Inneren den Versuch unternehmen, ihre Wirtschaft zu infiltrieren, würde für sie ausreichen, die Verträge zu brechen und ihre Truppen nach Hongkong zu schicken.«

»Der Schluß, den Sie ziehen, liegt auf der Hand«, sagte Marie. »Aber wo ist die Logik? Wie könnte das geschehen?«

»Es geschieht bereits, Mrs. Webb«, antwortete Botschafter Havilland. »Und deshalb haben wir Jason Borowski gebraucht.«

»Jetzt sollte jemand einmal am Anfang beginnen«, sagte David.

Das tat der Diplomat. »Es begann vor über dreißig Jahren, als ein hochintelligenter junger Mann aus Taiwan in das Land seiner Väter zurückgeschickt wurde, wo man ihm einen neuen Namen, eine neue Familie gab. Es war ein langfristig angelegter Plan, der in Fanatismus und Rachsucht wurzelte ...«

Webb lauschte der unglaublichen Geschichte von Sheng Chou Yang. Jede Einzelheit, jede Tatsache war überzeugend, weil es keinen Grund mehr gab für Lügen. Siebenundzwanzig Minuten später, als er geendet hatte, griff Havilland nach einem schwarzen Aktendeckel. Er klappte ihn auf, so daß ein Stapel von etwa siebzig zusammengehefteten Seiten zu sehen war, schloß ihn wieder und legte den Ordner vor David. »Das hier ist alles, was wir wissen, alles, was wir erfahren haben - Details, Einzelheiten, alles, was ich Ihnen gesagt habe. Der Bericht darf dieses Haus nur in Form von Asche verlassen, aber Sie können ihn gerne lesen. Wenn Sie irgendwelche Zweifel oder Fragen haben, dann schwöre ich Ihnen, daß ich jeden Hebel in unserer Regierung in Bewegung setzen werde - angefangen beim Oval Office bis zum Nationalen Sicherheitsrat -, um Sie zufriedenzustellen. Das bin ich Ihnen schuldig.« Der Diplomat hielt inne und fixierte Webb. »Vielleicht haben wir kein Recht, das von Ihnen zu verlangen, aber wir brauchen Ihre Hilfe. Wir brauchen alle Informationen, die Sie uns geben können.«

»Damit Sie jemanden hineinschicken können, um diesen Sheng Chou Yang zu erledigen.«

»Darauf läuft es im wesentlichen hinaus. Aber in Wirklichkeit ist es viel komplizierter. Wir müssen unsichtbar bleiben. Niemand darf sehen oder auch nur entfernt ahnen, daß wir etwas unternehmen. Sheng hat sich hervorragend getarnt. Peking sieht in ihm einen Mann mit einer Vision, einen großen Patrioten, der wie ein Sklave für Mutter China arbeitet; sozusagen einen Heiligen. Es ist unmöglich, an ihn heranzukommen. Die Leute um ihn, seine Adjutanten, seine Leibwachen, sind eine Schutztruppe, deren Loyalität einzig und allein seiner Person gilt.«

»Deshalb wollten Sie den Mann, der in die Maske Davids geschlüpft war«, unterbrach Marie. »Er war Ihr Bindeglied zu Sheng.«

»Wir wußten, daß er Aufträge von ihm angenommen hat. Sheng mußte - muß - seine Opposition ausschalten, ebenso diejenigen, die sich in ideologischer Hinsicht gegen ihn stellen, wie jene anderen, die er aus seinen Operationen ausschließen will.«

»Dieser letztgenannten Gruppe«, unterbrach McAllister, »gehören die Anführer rivalisierender Triaden an, denen Sheng nicht vertraut, und denen die Fanatiker der Kuomintang nicht vertrauen. Wenn sie bemerken würden, daß sie hinausgedrängt werden sollen, dann würde es zu einem Bandenkrieg kommen, das weiß er, und einen solchen Krieg könnte Sheng ebensowenig dulden wie die Briten, wo doch Peking vor der Haustüre steht. In den letzten zwei Monaten sind sieben Anführer von Triaden getötet worden, und ihre Organisationen wurden zerschlagen.«

»Der neue Jason Borowski war Shengs perfekte Lösung«, fuhr der Botschafter fort. »Ein bezahlter Meuchelmörder ohne politische oder nationale Bindungen, so daß man die Morde nicht mit China in Verbindung bringen konnte.«

»Aber er ist doch nach Peking gegangen«, wandte Webb ein. »Ich habe ihn doch nach dort verfolgt. Selbst wenn das Ganze als Falle für mich anfing -«

»Eine Falle für Sie!« rief Havilland aus. »Die wußten über Sie Bescheid?«

»Vor zwei Tagen habe ich meinen Nachfolger von Angesicht zu Angesicht gesehen, auf dem Flughafen. Wir wußten beide, wer der andere war - es war unmöglich, das zu übersehen. Er hat das bestimmt nicht geheimgehalten und die Schuld für einen fehlgeschlagenen Auftrag auf sich genommen.«

»Das waren Sie«, unterbrach McAllister. »Ich habe es gewußt!«

»Sheng und seine Leute wußten das auch. Ich war der neue Revolverheld in der Stadt und mußte aus dem Weg geräumt werden. Sie konnten das Risiko nicht eingehen, daß ich noch mehr erfuhr. Und so wurde noch in derselben Nacht eine Falle ausgedacht und für mich aufgestellt.«

»Heiland!« rief Conklin aus. »Ich habe in Washington gelesen, was in Kai-tak geschehen ist. In den Zeitungen stand, man nehme an, es handle sich um einen Anschlag von Rechtsterroristen. Um die Kommunisten aus dieser Hochburg des Kapitalismus herauszuhalten. Das warst du?»

»Beide Regierungen mußten sich etwas für die Weltpresse einfallen lassen«, fügte der Staatssekretär hinzu. »Ebenso wie wir etwas über heute nacht sagen müssen -«

»Ich möchte auf folgendes hinaus«, sagte David, indem er McAllister völlig ignorierte. »Dieser Sheng hat den Killer kommen lassen, ihn dazu benutzt, mir eine Falle zu stellen, und ihn dadurch zum Teil des inneren Kreises gemacht. Das widerspricht jeder Erfahrung - als Klient hält man Distanz zu einem bezahlten Killer.«

»Nur wenn man damit rechnet, daß er lebend davonkommt«, erwiderte Havilland und sah den Staatssekretär an. »Edwards Theorie ist - und der schließe ich mich an -, daß geplant war, den Mann nach Erledigung des letzten Auftrags oder, falls man zu der Ansicht gelangte, daß er zuviel wußte und er daher zur Last geworden war - bei Entgegennahme einer Zahlung zu töten

- natürlich in der Meinung, er würde einen weiteren Auftrag erhalten. Auf die Weise hätte man alle Spuren verwischt. Die Ereignisse in Kai-tak haben ohne Zweifel sein Todesurteil besiegelt.«

»Er war nicht intelligent genug, das zu erkennen«, sagte Jason Borowski. »Er konnte nicht logisch denken.«

»Woher wissen Sie das?« fragte der Botschafter.

»Unwichtig«, antwortete Webb und starrte wieder den Diplomaten an. »Also war alles, was Sie mir gesagt haben, zum Teil die Wahrheit und zum Teil Lüge. Hongkong steht auf dem Spiel, aber nicht aus den Gründen, die Sie mir genannt hatten.«

»Die Wahrheit war unsere Glaubwürdigkeit, das mußten Sie akzeptieren. Die Lügen dienten dazu, Sie zu rekrutieren.« Havilland lehnte sich in seinen Sessel zurück. »Und ehrlicher kann ich nicht sein.«

»Schweine!« sagte Webb mit leiser, eisiger Stimme.

»Meinetwegen«, nickte Havilland. »Aber wie ich schon vorher erwähnte, es gab mildernde Umstände, ganz speziell zwei solche Umstände. Die Krise und Sie.«

»Und?« sagte Marie.

»Lassen Sie mich Sie fragen, Mr. Webb ... Mrs. Webb. Wenn wir zu Ihnen gekommen wären und Ihnen unser Problem geschildert hätten, wären Sie dann bereit gewesen, uns zu helfen? Wären Sie aus freien Stücken wieder Jason Borowski geworden?«

Schweigen. Alle sahen David an, während sein Blick ausdruckslos über den Tisch wanderte und schließlich an dem Aktendeckel hängenblieb. »Nein«, sagte er leise. »Ich habe kein Vertrauen zu Ihnen.«

»Das wußten wir«, meinte Havilland und nickte wieder.

»Aber von unserem Standpunkt aus mußten wir Sie rekrutieren. Sie waren fähig, etwas zu tun, wozu sonst niemand imstande war, und da Sie es getan haben, behaupte ich, daß diese Einschätzung korrekt war. Der Preis dafür war schrecklich, das unterschätzt niemand, aber wir meinten - ich meinte -, daß es keine andere Wahl gab. Die Zeit arbeitete gegen uns - arbeitet immer noch gegen uns.«

»Ganz genauso wie vorher«, sagte Webb. »Der Major ist tot.«

»Der Major?« McAllister beugte sich vor.

»Ihr Lohnkiller, Ihr Meuchelmörder, der falsche Jason Borowski. Was Sie uns angetan haben, war umsonst.«

»Nicht unbedingt«, wandte Havilland ein. »Das hängt jetzt davon ab, was Sie uns sagen können. Daß es hier oben einen Toten gegeben hat, wird morgen Schlagzeilen machen, das können wir nicht verhindern, aber Sheng kann nicht wissen, wer gestorben ist. Es sind keine Fotos gemacht worden, es war zu dem Zeitpunkt keine Presse hier, und die Reporter, die inzwischen eingetroffen sind, sind von der Polizei vom Grundstück ferngehalten worden. Wir können die Information kontrollieren, die hinausgeht, indem wir selbst sie liefern.«

»Was ist mit der Leiche?« fragte Panov. »Es gibt da Vorschriften ... «

»Von MI-6 außer Kraft gesetzt«, sagte der Botschafter. »Das hier ist immer noch britisches Territorium, und die Verbindungen zwischen London, Washington und dem Amtssitz des Gouverneurs sind schnell gelaufen. Das Gesicht des Toten war zu verstümmelt, als daß jemand eine Beschreibung hätte liefern können, und seine Überreste befinden sich in Gewahrsam, für niemanden zugänglich. Edward hat da verdammt schnell gehandelt.«

»Da sind immer noch David und Marie«, beharrte der Psychiater. »Zu viele Leute haben sie gesehen, sie gehört.«

»Genau sehen und hören konnten sie nur ein paar Ledernacken«, sagte McAllister. »Das ganze Kontingent wird in einer Stunde nach Hawaii zurückgeflogen, darunter auch zwei Tote und sieben Verwundete. Sie haben das Gelände bereits verlassen und befinden sich auf dem Flughafen. Es war ein solches Chaos mit soviel Panik. Die Polizei und die Feuerwehr waren anderweitig beschäftigt; im Garten war niemand von denen. Wir können sagen, was wir wollen.«

»Das scheint sich bei Ihnen zu einer Gewohnheit entwickelt zu haben«, bemerkte Webb.

»Sie haben gehört, was der Botschafter gesagt hat«, sagte der Staatssekretär und wich dabei Davids Blick aus. »Wir hatten nicht das Gefühl, eine Wahl zu haben.«

»Seien Sie ruhig sich selbst gegenüber fair, Edward.« Wieder sah der Botschafter Webb an, während er mit dem Staatssekretär sprach. »Ich war der Meinung, daß wir keine andere Wahl hätten. Sie haben heftige Einwände erhoben.«

»Ich hatte unrecht«, sagte McAllister mit fester Stimme, als der Diplomat schließlich den Blick zu ihm wandern ließ. »Aber das ist ohne Belang«, fuhr er dann schnell fort. »Wir müssen jetzt entscheiden, was wir sagen werden. Das Konsulat kann sich kaum vor Anrufen der Presse retten.«

»Das Konsulat!« unterbrach Conklin. »Und das soll ein abgeschottetes Haus sein!«

»Es war keine Zeit, zur Tarnung einen entsprechenden Mietvertrag abzuschließen«, sagte der Botschafter. »Wir haben uns bemüht, so wenig wie möglich durchsickern zu lassen und haben uns einen Vorwand ausgedacht. Soweit uns bekannt ist, hat niemand Fragen gestellt, aber in dem Polizeibericht mußten der Eigentümer und der Mieter genannt werden. Welchen Kommentar gibt das Konsulat denn ab, Edward?«

»Einfach, daß die Situation noch nicht hinreichend geklärt ist. Sie warten auf uns, aber viel länger können sie die Presse nicht mehr hinhalten. Es ist besser, wenn wir etwas vorbereiten, als wenn wir den Spekulationen Tür und Tor öffnen.«

»Unbedingt«, pflichtete Havilland ihm bei. »Ich vermute, das bedeutet, daß Sie sich bereits etwas überlegt haben.«

»Nicht gerade originell, aber es könnte uns helfen, wenn ich Mr. Webb richtig verstanden habe.«

»Wenn Sie was verstanden haben?«

»Sie haben von einem Major gesprochen. Der Killer war Offizier?«

»Ja, früher. Ein Offizier, und darüber hinaus geistesgestört. Ein krankhafter Mörder, um es genau zu sagen.«

»Haben Sie seinen Namen erfahren, seine Identität?«

David sah den Staatssekretär scharf an, und Alcott-Price' triumphierende Worte kamen ihm in den Sinn ... Wenn ich verliere und die Geschichte bekannt wird, wie viele praktizierende Antisoziale könnten denn daran Freude haben?

Wie viele Männer, die >anders< sind, würden sich ein Vergnügen daraus machen, meinen Platz einzunehmen, so wie ich den Ihren eingenommen habe? Diese verdammte blutige Welt wimmelt von Jason Borowskis. Man braucht ihnen bloß ein Ziel zu geben, eine Idee, und schon kommen sie gerannt ... »Ich habe nie herausgefunden, wer er war«, sagte Webb.

»Trotzdem war er jedenfalls ein ehemaliger Offizier.«

»Das stimmt. Bei einem britischen Kommandotrupp.«

»Er war also Brite?«

»Ja.«

»Dann werden wir eine Geschichte verbreiten, die eben das ausdrücklich leugnet. Kein Engländer, keine Militärakte - genau die entgegengesetzte Richtung.«

»Ein weißer Amerikaner männlichen Geschlechts«, sagte Conklin leise und sah den Staatssekretär mit so etwas wie Respekt an. »Geben Sie ihm einen Namen und einen Hintergrund aus einer abgeschlossenen Akte. Vorzugsweise irgendein Strolch aus der Gosse, ein Psychopath, kaputt, der in seinem Wahn auf irgend jemand hier oben losgegangen ist.«

»So etwas Ähnliches, aber vielleicht nicht ganz«, sagte McAllister verlegen, als wolle er dem erfahrenen CIA-Mann nicht widersprechen. Vielleicht auch aus einem anderen Grund. »Weißer männlichen Geschlechts, ja, Amerikaner, ja. Und ganz sicher ein Mann unter einem zwanghaften Drang, der ihn antrieb zu morden, der seine Wut auf ein ganz bestimmtes Ziel lenkte -so wie Sie sagen - hier oben.«

»Auf wen?« fragte David.

»Auf mich«, erwiderte McAllister, und seine Augen bohrten sich in die Webbs.

»Und das heißt, ich«, sagte David. »Ich bin jener Mann, jener Mann, der unter zwanghaftem Drang handelt.«

»Ihr Name würde nicht fallen«, fuhr der Staatssekretär ruhig, fast kühl fort. »Wir könnten einen staatenlosen Amerikaner erfinden, der jahrelang überall im Fernen Osten von den Behörden gesucht wurde, wegen Verbrechen aller Art, angefangen bei mehrfachem Mord bis zum Rauschgifthandel. Wir werden sagen, ich hätte mit der Polizei in Hongkong, Macao, Singapur, Japan, Malaysia, Sumatra und den Philippinen zusammengearbeitet. Damit hätte ich bewirkt, daß sein Geschäft praktisch aufflog und er Millionen verlor. Er erfährt, daß ich wieder hier und auf dem Victoria Peak stationiert bin. Und er geht auf mich los, auf mich, den Mann, der ihn ruiniert hat.« McAllister hielt inne, drehte sich zu David herum. »Da ich einige Jahre hier in Hongkong verbracht habe, kann ich mir kaum vorstellen, daß Peking mich übersehen hat. Ich bin überzeugt, daß es eine Akte über einen Analytiker gibt, der sich während seines Einsatzes hier eine Anzahl Feinde verschafft hat. Ich habe mir Feinde gemacht, Mr. Webb. Das war mein Beruf. Wir waren bemüht, unseren Einfluß in diesem Teil der Welt auszuweiten, und jedesmal, wenn Amerikaner in irgendwelche kriminellen Aktivitäten verwickelt waren, habe ich mir redlich Mühe gegeben, den Behörden dabei behilflich zu sein, sie dingfest zu machen, oder zumindest dafür zu sorgen, daß sie Asien verließen. Wie hätten wir besser unsere guten Absichten zeigen können, als indem wir unseren eigenen Leuten das Handwerk legten? Das war auch der Grund, weshalb man mich nach Washington zurückbeordert hat. Und indem wir meinen Namen benutzen, verschaffen wir der Geschichte eine gewisse Authentizität, die Sheng Chou Yang nicht entgehen wird. Sehen Sie, wir kennen einander. Er wird über ein Dutzend Möglichkeiten nachdenken; hoffentlich auch die richtige, aber keine, die auch nur entfernt mit einem britischen Major in Beziehung steht.«

»Wobei die richtige Spekulation die wäre«, unterbrach Conklin leise, »daß hier seit etlichen Jahren niemand mehr etwas von dem ersten Jason Borowski gehört hat.«

»Genau.«

»Also bin ich die Leiche unter Gewahrsam«, sagte Webb, »an die man keinen heranläßt.«

»Ja, die könnten Sie sein«, sagte McAllister. »Sehen Sie, wir wissen nicht, was Sheng weiß, wieviel er in Erfahrung gebracht hat. Jedenfalls muß für ihn zweifelsfrei feststehen, daß der Tote nicht sein Killer ist.«

»Womit einem weiteren Mann in seiner Maske der Weg offengehalten wird, dorthin zurückzukehren und Sheng in die Falle zu locken«, fügte Conklin voll Respekt hinzu. »Ich muß den Hut vor Ihnen ziehen, Mr. McAllister. Sie sind zwar ein Schweinehund, aber Sie verstehen sich auf Ihr Handwerk.«

»Sie würden in die Schußlinie geraten, Edward«, sagte Havilland und sah dabei den Staatssekretär aufmerksam an. »Das habe ich nie von Ihnen verlangt. Sie haben wirklich Feinde.«

»Ich möchte es aber so machen, Herr Botschafter. Sie beschäftigen mich, damit ich Sie, so gut ich kann, berate, und nach meiner festen Überzeugung ist das die sicherste Methode. Wir brauchen eine dichte Nebelwand. Und die kann mein Name liefern - für Sheng. Der Rest läßt sich irgendwie mit mehrdeutigen Formulierungen kaschieren, Formulierungen, die jeder, den wir erreichen wollen, verstehen wird.«

»Also gut«, sagte Webb und schloß plötzlich die Augen.

»David -« Marie berührte sein Gesicht.

»Tut mir leid.« Webb griff nach dem Aktendeckel, der vor ihm lag und schlug ihn dann auf. Auf dem ersten Blatt war eine Fotografie zu sehen, darunter in Druckbuchstaben ein Name. Der Name lautete Sheng Chou Yang, aber das war keine

Überraschung. Es war das Gesicht. Es war das Gesicht des Schlächters! Des Wahnsinnigen, der Frauen und Männer mit seinem juwelenbesetzten Zeremonienschwert zerhackte, der Brüder dazu zwang, mit rasiermesserscharf geschliffenen Messern gegeneinander zu kämpfen, bis einer den anderen tötete, der das Leben des tapferen, gemarterten Echo mit einem Schwertstreich nahm. Borowski hörte zu atmen auf, und die unvorstellbare Grausamkeit brachte sein Blut in Wallung, als diese schrecklichen Bilder ihm wieder vor Augen traten. Während er die Fotografie anstarrte, drängte sich ihm der Anblick Echos auf, d'Anjous, der sein Leben wegwarf, um Delta zu retten. Delta wußte, daß es Echos Tod zuzuschreiben war, daß er den Killer hatte fangen können. Echo war mutig gestorben, trotzig, hatte seinen schrecklichen Tod hingenommen, auf daß ein anderer Mann von Medusa nicht nur fliehen konnte, sondern auch, um mit dieser letzten Geste auszudrücken, daß der Wahnsinnige mit dem Schwert getötet werden mußte!

»Das«, flüsterte Jason Borowski, »ist der Sohn Ihres unbekannten Taipan?«

»Ja«, sagte Havilland.

»Ihr verehrter Philosophenfürst? Der chinesische Heilige -?«

»Ja, der ist es.«

»Dann haben Sie sich geirrt! Er hat sich gezeigt! Herrgott, und wie er sich gezeigt hat!«

Der Botschafter war völlig perplex. »Sind Sie sicher?«

»Und ob.«

»Dann müssen das außergewöhnliche Umstände gewesen sein«, sagte McAllister verblüfft. »Und das bestätigt auch, daß der falsche Borowski nie lebend aus China herausgekommen wäre. Trotzdem, der Grund dafür muß ja ein wahres Erdbeben gewesen sein!«

»Das war es auch. Niemand außerhalb Chinas wird je davon erfahren. Maos Mausoleum wurde zu einer Schießbude. Das war ein Teil der Falle, und sie haben verloren. Echo hat auch verloren.«

»Wer?« fragte Marie, die immer noch seine Hand festhielt.

»Ein Freund.«

»Maos Mausoleum?« wiederholte Havilland. »Wie ungeheuerlich!«

»Ganz und gar nicht«, sagte Borowski. »Wie raffiniert. Der letzte Ort in China, an dem jemand einen Angriff erwarten würde. Er geht hinein und meint, er sei der Verfolger, der sein Opfer verfolgt und damit rechnet, es hier zu fangen. Das Licht ist schwach, er ist unaufmerksam. Und die ganze Zeit ist er das Opfer, gejagt, isoliert, in der Falle. Raffiniert.«

»Sehr gefährlich für die Jäger«, sagte der Botschafter. »Für Shengs Leute. Nur eine falsche Bewegung, und es wäre ihr Ende gewesen. Wahnsinn!«

»Falsche Bewegungen waren nicht möglich. Sie hätten ihre eigenen Leute getötet, wenn ich das nicht getan hätte. Das verstehe ich jetzt. Als alles schiefging, verschwanden sie einfach. Mit Echo.«

»Zurück zu Sheng. Bitte, Mr. Webb.« Havilland wirkte

selbst wie ein Besessener, und seine Augen flehten David an. »Sagen Sie uns, was Sie gesehen haben, was Sie wissen.«

»Er ist ein Ungeheuer«, sagte Jason leise, und seine Augen starrten glasig die Fotografie an. »Eine Ausgeburt der Hölle, ein Savonarola, der martert und tötet - Männer, Frauen, Kinder -und dabei lächelt. Er hält Predigten wie ein Prophet, der zu Kindern spricht, aber darunter ist er ein Verrückter, der seine Bande von Besessenen mit schierem Terror beherrscht. Diese Bewacher, von denen Sie sprachen, diese ihm persönlich ergebenen Männer, sind keine Soldaten, es sind Söldner, sadistische Schläger, die ihr Handwerk von einem Meister gelernt haben. Er ist Auschwitz, Dachau und Bergen-Belsen, alles in einem. Gott steh uns bei, wenn er je an die Macht gelangen sollte.«

»Das kann er, Mr. Webb«, sagte Havilland leise, und sein entsetzter Blick war fest auf Jason Borowski gerichtet. »Und das wird er. Sie haben gerade einen Sheng Chou Yang beschrieben, den die Welt nie gesehen hat, und in diesem Augenblick ist er der mächtigste Mann in China. So wie Adolf Hitler als Sieger in den Reichstag marschierte, wird Sheng ins Zentralkomitee marschieren und alle Mitglieder zu Marionetten machen. Was Sie uns erzählt haben, ist viel katastrophaler als alles, was wir uns je vorgestellt haben - China gegen China ... Und danach Armageddon. Großer Gott!«

»Er ist eine Bestie«, flüsterte Jason heiser. »Er muß töten wie ein Raubtier, aber aus reiner Mordlust. Er tötet zum Vergnügen.«

»Was Sie da sagen, sind Gemeinplätze.« McAllister unterbrach ihn fast brutal, aber eindringlich. »Wir müssen mehr wissen - ich muß mehr wissen!«

»Er hat eine Versammlung einberufen.« Borowski sprach wie im Traum, sein Kopf schwankte dabei leicht, und seine Augen hingen wie gebannt an der Fotografie. »Das war die erste Nacht des Großen Schwertes, wie er sagte. Es gab einen Verräter, sagte er. Eine solche Versammlung konnte nur ein Irrer veranstalten. Überall Fackeln, draußen auf dem Lande, eine Stunde von Peking entfernt, in einem Vogelreservat - können Sie sich das vorstellen? Ein Vogelreservat - und er hat wirklich das getan, was ich gesagt habe. Er hat einen Mann getötet, der an Seilen hing, hat mit seinem Schwert auf den schreienden Körper eingeschlagen. Und dann eine Frau, die ihre Unschuld beteuerte, und er hat ihr den Kopf abgeschlagen - den Kopf! Vor allen! Und dann zwei Brüder ...«

»Ein Verräter?« flüsterte McAllister. »Hat er einen gefunden? Hat jemand gestanden? Gibt es so etwas wie einen Gegenaufstand?«

»Hören Sie auf!« schrie Marie.

»Nein, Mrs. Webb! Er durchlebt das jetzt aufs neue. Sehen Sie ihn doch an. Sehen Sie das nicht? Er ist dort.«

»Ich fürchte, unser Kollege hat recht, Marie«, sagte Panov leise und sah Webb an. »Er schwankt hin und her, versucht, in die Realität zurückzufinden. Es ist schon in Ordnung. Lassen Sie ihn nur. Es könnte uns allen viel Zeit sparen.«

»Quatsch!«

»... da war kein Verräter, keiner, der sprach, nur die Frau, die an ihm gezweifelt hatte. Er hat sie getötet. Und dann herrschte Stille, eine schreckliche Stille. Er warnte alle, sagte allen, sie wären überall und doch gleichzeitig unsichtbar. In den Ministerien, der Sicherheitspolizei, überall ... und dann hat er Echo umgebracht, aber Echo wußte, daß er sterben mußte. Er wollte schnell sterben, weil er ohnehin nicht mehr lange leben konnte. Nachdem sie ihn gefoltert hatten, wußte er, daß er keine Chance mehr hatte. Trotzdem, er hat mir Zeit verschafft ... «

»Wer ist Echo, David?« fragte Morris Panov. »Bitte, sagen Sie es uns.«

»Alpha, Bravo, Charlie, Delta, Echo ... Foxtrott -«

»Medusa«, sagte der Psychiater. »Das ist Medusa, nicht wahr? Echo war bei Medusa.«

»Er war in Paris. Der Louvre. Er hat versucht, mir das Leben zu retten, aber ich habe das seine gerettet. Das war in Ordnung, das war richtig. Er hat dafür vor Jahren meines gerettet. >Ruhe ist eine Waffec, sagte er. Er hat die anderen um mich herum aufgestellt und mich zum Schlafen gezwungen. Und dann entkamen wir dem Dschungel.«

»>Ruhe ist eine Waffe< ..«, sagte Marie leise, schloß die Augen und drückte die Hand ihres Mannes. Tränen liefen ihr über die Wangen. »O Gott

»... Echo sah mich im Wald. Wir benutzten die alten Signale, die wir früher schon benutzt hatten, Jahre davor. Er hatte das nicht vergessen. Keiner von uns vergißt das je.«

»Sind wir auf dem Land, in dem Vogelreservat, David?« fragte Panov und packte McAllister an der Schulter, um ihn davon abzuhalten, Webb jetzt zu unterbrechen.

»Ja«, erwiderte Jason Borowski, und seine Augen wirkten jetzt blicklos. »Wir wissen es beide. Er wird sterben. So einfach, so klar. Sterben. Tod. Nicht mehr. Nur Zeit kaufen, wertvolle Minuten. Dann schaffe ich es vielleicht.«

»Was schaffen Sie - Delta! Panov zog den Namen in die Länge, leise und betont.

»Dann erledige ich den Unmenschen Den Schlächter. Er verdient es nicht zu leben; er hat kein Recht zu leben. Er tötet zu leicht - und lächelt dabei. Echo hat es gesehen. Ich habe es gesehen. Und jetzt geschieht es - alles geschieht gleichzeitig. Die Explosionen im Wald, alle rennen, schreien, jetzt kann ich es tun! Ganz einfach .. Er sieht mich! Er starrt mich an! Er weiß, daß ich sein Feind bin! Ich bin dein Feind, Schlächter! Ich bin das letzte Gesicht, das du sehen wirst! ... Was habe ich falsch gemacht? Irgend etwas stimmt nicht! Er schützt sich! Er zieht jemand vor sich. Ich muß hinaus! Ich kann es nicht tun!«

»Sie können nicht oder Sie wollen nicht?« fragte Panov und beugte sich vor. »Sind Sie Jason Borowski oder sind Sie David Webb? Wer sind Sie?«

»Delta!« schrie das Opfer, und sein Ausbruch ließ alle am Tisch zusammenfahren. »Ich bin Delta! Ich bin Borowski! Kain ist für Delta, und Carlos ist für Kain!« Das Opfer, wer auch immer er in diesem Augenblick war, sackte in dem Stuhl zusammen. Dann war es still.

Es dauerte einige Minuten - niemand wußte, wie lange, niemand achtete darauf -, bis der Mann, der seine eigene Identität nicht mehr finden konnte, den Kopf hob. »Es tut mir leid«, sagte David Webb. »Ich weiß nicht, was mit mir los war. Es tut mir leid.«

»Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen, David«, sagte Panov. »Sie sind zurückgegangen. Das ist schon verständlich. Es ist in Ordnung.«

»Ja, ich bin zurückgegangen. Verrückt, nicht wahr?«

»Ganz und gar nicht«, sagte der Psychiater. »Das ist ganz natürlich.«

»Ich muß zurückgehen, das ist doch auch verständlich, oder nicht, Mo?«

»David!« schrie Marie und griff nach ihm.

»Ich muß«, sagte Jason Borowski und hielt vorsichtig ihre Handgelenke fest.

»Das kann sonst keiner, so einfach ist das. Ich kenne die Codes, und ich weiß den Weg ... Echo hat sein Leben für meines gegeben, weil er glaubte, daß ich es tun würde. Daß ich den Schlächter töten würde. Und ich habe versagt. Aber diesmal werde ich nicht versagen.«

»Und was ist mit uns?« Marie klammerte sich an ihm fest, und ihre Stimme hallte von den weißen Wänden wider. »Bedeuten wir denn gar nichts?«

»Ich komme zurück, das verspreche ich dir«, sagte David, schob ihre Arme von sich und sah ihr in die Augen. »Aber ich muß dorthin zurück, kannst du das nicht verstehen?«

»Für diese Leute? Diese Lügner!«

»Nein, nicht für sie. Für jemanden, der leben wollte - mehr als alles andere. Du hast ihn nicht gekannt; er war ein Überlebenstyp. Aber er wußte, daß sein Leben nicht den Preis meines Todes wert war. Ich mußte leben und das tun, was ich tun mußte. Ich mußte leben und zu dir zurückkommen, das wußte er auch. Er hat sich die Gleichung angesehen und seine Entscheidung getroffen. Irgendwann kommt für uns alle der Augenblick, wo wir diese Entscheidung treffen müssen.«

Borowski drehte sich zu McAllister herum.

»Gibt es hier jemanden, der ein Foto von einer Leiche machen kann?«

»Von wessen Leiche?« fragte der Staatssekretär.

»Von meiner«, sagte Jason Borowski.

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