Kapitel 23

»Wer sind Sie?« schrie Borowski, vor Zorn halb von Sinnen, packte den alten Mann an der Kehle und preßte ihn gegen die Wand.

»Delta, hören Sie auf!« befahl d'Anjou. »Ihre Stimme! Min wird Sie hören. Die werden meinen, Sie bringen ihn um. Und dann werden die den Empfang verständigen.«

»Daß ich ihn umbringe, kann durchaus sein, und die Telefone funktionieren ohnehin nicht!« Jason ließ den Nachahmer seines Nachahmers los, ließ seinen Hals los, schleuderte ihn in einen Sessel.

»Die Tür«, fuhr d'Anjou zornig fort. »Sie müssen sie wieder anlehnen, so gut Sie können, um Himmels willen. Ich will lebend aus Beijing heraus, und jede Sekunde mit Ihnen verringert meine Chancen. Die Tor!«

Borowski fuhr wütend herum, packte die eingetretene Tür und schob sie in den Türrahmen zurück, rückte die Teile zurecht und trat danach. Der alte Mann massierte sich den Hals und versuchte plötzlich aufzuspringen.

»Non, man ami!« sagte der Franzose und versperrte ihm den Weg. »Bleiben Sie, wo Sie sind. Auf mich brauchen Sie nicht zu achten, nur auf ihn. Sehen Sie, er könnte Sie wirklich töten. In seiner Wut hat er keinen Respekt für die goldenen Jahre, und da ich schon beinahe so weit bin, habe ich diesen Respekt.«

»Wut? Empörend ist das!« stieß der alte Mann hervor. »Ich habe bei El Alamein gekämpft, und bei Gott, ich werde jetzt kämpfen!« Wieder versuchte der alte Mann aufzustehen, und wieder stieß d'Anjou ihn zurück.

»Oh, die heldenhaften Briten«, meinte der Franzose. »Wenigstens waren Sie so anständig, nicht Agincourt zu sagen.«

»Lassen Sie den Blödsinn!« schrie Borowski, stieß d'Anjou beiseite und beugte sich über den Sessel, stützte sich auf die beiden Armlehnen und drängte den alten Mann zurück. »Sie sagen mir jetzt, wo er ist, und zwar schnell, oder Sie werden sich wünschen, daß Sie El Alamein nie überlebt hätten!«

»Wo wer ist, Sie Wahnsinniger?«

»Sie sind nicht der Mann von unten! Sie sind nicht Joseph Wadsworth, der auf Zimmer drei-fünfundzwanzig gegangen ist!«

»Dies hier ist Zimmer drei-fünfundzwanzig, und ich bin Joseph Wadsworth! Brigadier, im Ruhestand, Royal Engineers!«

»Wann haben Sie sich hier eingetragen?«

»Diese Mühe hat man mir erspart«, erwiderte Wadsworth hochmütig.« Als Gast der Regierung genießt man gewisse Vorzüge. Man hat mich durch den Zoll geleitet und unmittelbar hierhergebracht. Ich muß sagen, daß der Zimmerservice nicht viel taugt - das hier ist weiß Gott nicht das Connaught -, und das verdammte Telefon ist meistens im Eimer.«

»Wann, habe ich Sie gefragt!«

»Gestern nacht, aber nachdem das Flugzeug sechs Stunden verspätet war, sollte ich wohl sagen, heute morgen.«

»Und wie lauteten Ihre Instruktionen?«

»Ich weiß nicht, ob das Sie etwas angeht.«

Borowski riß den Brieföffner aus Messing aus seinem Gürtel und drückte dem alten Mann die Spitze gegen den Hals. »Doch, wenn Sie diesen Sessel lebend verlassen wollen.«

»Du lieber Gott, Sie sind wirklich verrückt!«

»Sie haben recht, ich habe keine Zeit dafür, vernünftig zu sein, gar keine. Die Instruktionen!«

»Die sind ganz harmlos. Ich sollte gegen Mittag von jemandem abgeholt werden, und da es jetzt schon nach drei Uhr ist, darf man wohl annehmen, daß die Regierung hier genausowenig pünktlich ist wie die Fluglinie.«

D'Anjou tippte Borowski am Arm an. »Die Elf-Uhr-dreißig-Maschine«, sagte der Franzose leise. »Er ist die Tarnung und weiß überhaupt nichts.«

»Dann ist Ihr Judas hier in einem anderen Zimmer«, antwortete Jason über die Schulter. »Das muß er sein!«

»Sagen Sie nichts mehr, man wird ihn verhören.« Mit einer plötzlichen und unerwarteten Autorität schob d'Anjou Borowski von dem Sessel weg und sprach in ungeduldigem Tonfall eines höheren Offiziers: »Sehen Sie, Brigadier, wir entschuldigen uns bei Ihnen für die Belästigung. Ich weiß, das ist wirklich sehr unangenehm. Das ist jetzt das dritte Zimmer, in das wir eingebrochen sind - wir haben uns die Namen der Bewohner beschafft, um ein Schockverhör durchführen zu können.«

»Ein Schock - was? Ich verstehe nicht.«

»Einer von vier Leuten in diesem Stockwerk hat Narkotika im Wert von über fünf Millionen Dollar eingeschmuggelt. Da Sie drei es nicht waren, haben wir jetzt unseren Mann. Ich schlage vor, Sie halten es wie die zwei anderen. Sagen Sie, ein Betrunkener sei in Ihr Zimmer eingebrochen, einer, der mit der Unterbringung nicht zufrieden war und sich Mut angetrunken hatte - das werden die anderen auch sagen. Das passiert hier ziemlich häufig, und es ist besser, keinen Verdacht zu erwecken, nicht einmal irrtümlich. Die Regierung hier neigt zu übertriebenen Reaktionen.«

»Das würde mir gerade noch fehlen«, stotterte Wadsworth. »Die verdammte Pension ist ohnehin schon knapp genug.«

»Die Tür, Major«, befahl d'Anjou, zu Jason gewandt. »Vorsichtig jetzt. Sehen Sie zu, daß sie stehenbleibt.« Der Franzose wandte sich wieder dem Briten zu. »Halten Sie sie fest, Brigadier. Lehnen Sie sie einfach wieder an und lassen Sie uns zwanzig Minuten Zeit, bis wir unseren Mann haben. Und dann können Sie tun, was Sie wollen. Vergessen Sie nicht, ein Betrunkener. Zu Ihrem eigenen Nutzen.«

»Ja, ja, natürlich. Ein Betrunkener.«

»Kommen Sie, Major!«

Draußen im Korridor griffen sie sich ihre Taschen und eilten auf die Treppe zu. »Schnell!« sagte Borowski. »Es ist noch Zeit. Er muß sich umziehen - ich hätte mich auch umgezogen! Wir überprüfen die Ausgänge zu den Straßen, die Taxistände, und versuchen, uns zwei logische auszusuchen, oder, verdammt noch mal, unlogische. Wir nehmen uns jeder einen vor und vereinbaren Signale.«

»Zunächst einmal gibt es zwei Türen«, unterbrach ihn d'Anjou atemlos. »In diesem Korridor. Suchen Sie sich zwei heraus, aber machen Sie schnell. Treten Sie sie ein und beschimpfen die Leute, natürlich mit der Stimme eines Besoffenen.«

»Das war Ihr Ernst?«

»Und wie, Delta. Wie wir selbst erlebt haben, ist die Erklärung ja durchaus plausibel, und die Peinlichkeit des Ganzen wird jegliche formelle Untersuchung behindern. Die Hotelleitung wird ohne Zweifel unseren pensionierten Brigadier dazu überreden, den Mund zu halten. Sonst könnten die ihre angenehmen Posten verlieren Schnell jetzt! Suchen Sie sich eine Tür aus und tun Sie Ihre Arbeit!«

Jason blieb an der nächsten Türe zur Rechten stehen. Er atmete tief durch und rannte dann auf die Tür zu, trieb seine Schulter in die obere Füllung. Die Tür flog auf.

»Madaddemaa!« kreischte eine Frau auf Hindi. Sie war halb aus ihrem Sari gewickelt, der um ihre Füße lag.

»Kyaa baut hai?« kreischte ein nackter Mann, der aus dem Badezimmer gerannt kam und hastig seine Genitalien bedeckte.

Beide starrten den Eindringling an, der mit glasigem Blick herumtaumelte und dabei Gegenstände von der Kommode fegte und mit heiserer, betrunkener Stimme grölte: »Beschissenes Hotel! Die Toiletten funktionieren nicht, die Telefone sind im

Eimer! Nichts - Heiland, das ist gar nicht mein Zimmer! Tut mit leid ...« Borowski schwankte hinaus und knallte die Tür hinter sich zu.

»Sehr gut!« sagte d'Anjou. »Die hatten Ärger mit dem Schloß. Schnell, noch eines. Das hier!« Der Franzose wies auf eine Tür zur Linken. »Ich habe Gelächter hinter der Tür gehört und zwei Stimmen.«

Wieder warf sich Jason gegen die Tür, so daß diese aufbrach, und brüllte seine betrunkenen Klagen. Anstatt sich aber zwei verblüfften Gästen gegenüberzusehen, fand er ein junges, bis zu den Hüften nacktes Paar, von denen jeder an einer eingekniffenen Zigarette sog und mit glasigen Augen inhalierte.

»Willkommen, Nachbar«, sagte der junge Amerikaner. Seine Aussprache war ganz präzise, nur lief sie in Zeitlupe ab. »Lassen Sie sich durch die Dinge nicht stören. Die Telefone funktionieren nicht, dafür aber unsere Toilette. Benutzen Sie sie ruhig, teilen Sie sie mit uns. Nicht nervös werden.«

»Was, zum Teufel, haben Sie in meinem Zimmer verloren?« schrie Jason, noch betrunkener, so daß die Worte ineinander übergingen und verschwammen.

»Wenn das Ihr Zimmer ist, Sie Macho«, unterbrach ihn das Mädchen, das im Sessel schwankte, »dann haben wir Ihnen wenigstens eine tolle Nummer geboten. Wir sind nicht spießig.« Sie kicherte.

»Herrgott, Sie sind ja high!«

»Und ohne den Namen des Herrn vergeblich zu führen«, konterte der junge Mann, »Sie sind betrunken.«

»Wir glauben nicht an Alkohol«, fügte das Mädchen mit dem glasigen Blick hinzu. »Er erzeugt nur Feindseligkeit. Er steigt an die Oberfläche, wie die Dämonen Luzifers.«

»Lassen Sie sich entgiften, Nachbar«, fuhr der junge Amerikaner lallend fort. »Und dann machen Sie sich mit Hasch gesund. Ich führe Sie in die Felder, wo Sie Ihre Seele wiedefinden -«

Borowski raste aus dem Zimmer, knallte die Tür hinter sich zu und packte d'Anjou am Arm. »Gehen wir«, sagte er, als sie die Treppe erreicht hatten. »Wenn sich die Geschichte herumspricht, die Sie dem Brigadier aufgetischt haben, dann müssen die beiden zwanzig Jahre in der Äußeren Mongolei verbringen und dort Schafe kastrieren.«

Das chinesische Bedürfnis, Gäste unter Beobachtung zu halten, im Verein mit den strengen Sicherheitsvorschriften machte es erforderlich, daß das Hotel einen einzigen großen Eingang vorne für Gäste und einen zweiten an der Seite für Personal hatte. Letzterer war von uniformierten Wachen besetzt, die die Arbeitspapiere jedes einzelnen überprüften und sämtliche Handtaschen oder sonstige auffälligen Taschen an der Kleidung durchsuchten, wenn die Angestellten nach getaner Arbeit nach Hause gingen. Die Tatsache, daß es keinerlei Vertraulichkeit zwischen Wachen und Personal gab, deutete darauf hin, daß die Wachen häufig ausgewechselt wurden, damit die Bestechung keinen Spielraum hatte.

»Die Wachen wird er nicht riskieren«, sagte Jason, als sie am Personaleingang vorbeigingen, nachdem sie schnell ihre beiden Taschen in Verwahrung gegeben hatten, unter dem Vorwand, wegen des verspäteten Flugzeugs bereits zu spät zu einer Besprechung zu kommen. »Die sehen so aus, als würden sie Punkte dafür bekommen, wenn sie einen mit einer Hühnerkeule oder einem Stück Seife erwischen.«

»Außerdem verabscheuen sie die Leute, die hier arbeiten«, pflichtete d'Anjou ihm bei. »Aber weshalb sind Sie so sicher, daß er noch im Hotel ist? Er kennt Beijing. Er könnte sich ein Taxi zu einem anderen Hotel genommen haben.«

»Aber doch nicht so, wie er in dem Flugzeug ausgesehen hat, das habe ich Ihnen gesagt. Das käme für ihn nicht in Frage. Für mich auch nicht. Er braucht Bewegungsfreiheit und kann nicht zulassen, daß man ihm folgt. Die muß er haben, zu seinem eigenen Schutz.«

»Wenn das der Fall ist, könnte es sein, daß sein Zimmer im Augenblick beobachtet wird. Das hätte dasselbe Ergebnis. Die wissen, wie er aussieht.«

»Wenn er ich wäre - und davon muß ich im Augenblick ausgehen -, dann wäre er nicht dort. Er hat sich ein anderes Zimmer besorgt.«

»Sie widersprechen sich!« wandte der Franzose ein, als sie sich dem von Menschen umlagerten Eingang des Flughafenhotels näherten. »Sie sagten, er würde seine Anweisungen per Telefon bekommen. Der Anrufer wird das Zimmer verlangen, das sie ihm zugeteilt haben, und nicht das seines Strohmanns, nicht das von Wadsworth.«

»Falls die Telefone überhaupt funktionieren - das ist übrigens ein Umstand, der Ihrem Judas zustatten kommt -, dann ist es eine Kleinigkeit, Anrufe von einem Zimmer zum nächsten weiterzuleiten. Man braucht dazu nur einen Stöpsel in der Zentrale, falls es sich um eine primitive Anlage handelt, oder eine Programmierung, falls es eine Computervermittlung ist. Das ist nicht schwierig. Oder eine geschäftliche Besprechung, alte Freunde im Flugzeug - oder überhaupt keine Erklärung, was wahrscheinlich das beste ist.«

»Irrtum!« rief d'Anjou aus. »Sein Klient wird die Hotelvermittlung alarmieren und sich direkt in die Zentrale einschalten.«

»Das wird er ganz bestimmt nicht tun«, sagte Borowski uid schob den Franzosen durch eine Drehtür auf den Hotelvorplatz hinaus, der von verwirrten Touristen und Geschäftsleuten wimmelte, die nach einer Fahrgelegenheit Ausschau hielten. »Das ist ein Risiko, das er nicht eingehen kann«, fuhr Jason fort, während sie an einer Reihe kleiner, schäbiger Busse und altehrwürdiger Taxis am Randstein entlanggingen. »Der Klient Ihres Killers muß für maximalen Abstand zwischen den beiden sorgen. Es darf nicht die geringste Chance geben, daß man eine Verbindung nachweisen kann, und das bedeutet, daß alles sich auf einen sehr engen, sehr erlesenen Kreis beschränkt, ohne Verbindung mit einer Hotelzentrale, ohne daß auf jemanden aufmerksam gemacht wird, ganz besonders nicht auf Ihren Killer. Und das Risiko, im Hotel herumzugehen, werden die auch nicht eingehen. Sie werden sich ihm fernhalten, alles ihm überlassen. Es gibt hier zu viel Geheimpolizei; jemand aus diesem elitären Kreis könnte erkannt werden.«

»Die Telefone, Delta. Nach allem, was wir gehört haben, funktionieren die nicht. Was macht er dann?«

Jason runzelte die Stirn so, als versuchte er, sich an etwas zu erinnern, was ihm nicht einfallen wollte. »Er hat die Zeit auf seiner Seite, das ist sein Plus. Er wird zusätzliche Instruktionen für den Fall haben, daß man innerhalb einer bestimmten Zeit nach seiner Ankunft nicht mit ihm Verbindung aufgenommen hat- aus welchen Gründen auch immer -, und angesichts der Vorsichtsmaßregeln, die die treffen müssen, könnte es davon eine ganze Anzahl geben.«

»In dem Fall würden die immer noch nach ihm Ausschau halten, nicht wahr? Sie würden irgendwo draußen warten und versuchen, ihn aufzugabeln, oder?«

»Selbstverständlich, und das weiß er. Er muß an ihnen vorbeikommen und seine Position erreichen, ohne gesehen zu werden. Es ist für ihn die einzige Möglichkeit, die Kontrolle zu behalten. Seine erste Aufgabe.«

D'Anjou packte Borowski am Ellbogen. »Dann habe ich gerade einen der Aufpasser entdeckt, glaube ich.«

»Was?« Jason drehte sich halb herum und blickte auf den Franzosen herunter. Dabei verlangsamte er seine Schritte.

»Gehen Sie weiter«, befahl d'Anjou. »Dort zu dem Lieferwagen hinüber, zu dem, der halb aus der Straße herausragt, mit dem Mann auf der Schubleiter.«

»Ja, das leuchtet ein«, sagte Borowski. »Das ist der Störungsdienst vom Fernmeldeamt.« Im Schütze der Menschenmenge erreichten sie den Wagen.

»Schauen Sie hinauf. Versuchen Sie, interessiert zu wirken. Und dann sehen Sie nach links. Der Lieferwagen vor dem ersten Bus. Sehen Sie ihn?«

Das tat Jason und wußte sofort, daß der Franzose recht hatte. Der Lieferwagen war weiß und relativ neu und hatte getönte Glasscheiben. Abgesehen von der Farbe hätte es der Wagen sein können, der den Killer in Shenzen an der Lo-Wu-Grenze aufgenommen hatte. Borowski las die chinesischen Schriftzeichen auf der Tür. »Niao Jing Shan ... Mein Gott, das ist ja dasselbe! Der Name hat nichts zu bedeuten - er gehört zu einem Vogelreservat, dem Jing-Shan-Vogel-Reservat. In Shenzen hieß es Chutang, hier anders. Wie haben Sie das bemerkt?«

»Der Mann in dem offenen Fenster, dem letzten Fenster auf dieser Seite. Sie können ihn von hier aus nicht besonders gut sehen, aber er beobachtet den Eingang. Außerdem wirkt er irgendwie widersprüchlich - ich meine, für den Angestellten eines Vogelreservats.«

»Warum?«

»Er ist ein Offizier der Armee, und dem Schnitt seines Uniformrocks nach zu schließen und dem guten Tuch einer von hohem Rang. Rekrutiert die glorreiche Volksarmee jetzt Reiher für ihre Sturmtruppen? Oder ist er einfach nur ein besorgter Mann, der auf jemanden wartet, dem er folgen soll, und der eine recht geschickte Deckung benutzt, die nur dadurch etwas beeinträchtigt wird, daß der Blickwinkel ein offenes Fenster erfordert?«

»Ich kann wirklich ohne Echo nirgends hingehen«, sagte Jason Borowski, ehemals Delta. »Vogelreservat - Herrgott, das ist ja herrlich. Was für eine elegante Tarnung. So friedlich. Eine verdammt gute Tarnung.«

»Typisch chinesisch, Delta. Die rechtschaffene Maske verdeckt das nicht rechtschaffene Gesicht. Die konfuzianischen Parabeln warnen davor.«

»Davon spreche ich nicht. In Shenzen, an der Lo-Wu-Grenze, wo Ihr Killer mir das erstemal durch die Lappen ging, wurde er auch von einem Lieferwagen abgeholt - einem Lieferwagen mit getönten Scheiben - und der gehörte ebenfalls einem Vogelreservat der Regierung.«

»Wie Sie schon sagten, eine ausgezeichnete Tarnung.«

»Es ist mehr als das, Echo. Das ist eine Art Markierung, eine Identifikation.«

»Vögel werden in China seit Jahrhunderten verehrt«, sagte d'Anjou und sah Jason mit verwirrter Miene an. »Man hat sie immer schon in großen Kunstwerken dargestellt, den herrlichen Seidenmalereien. Sie gelten als Delikatesse, sowohl für das Auge als auch für den Gaumen.«

»In diesem Fall könnte ein sehr viel praktischerer Grund dahinterstecken.«

»Und der wäre?«

»Vogelreservate sind gewöhnlich weit ausgedehnt. Sie sind der Öffentlichkeit zugänglich, unterliegen aber den Vorschriften der Regierung, so wie das überall der Fall ist.«

»Und worauf wollen Sie hinaus, Delta?«

»In einem Land, wo schon zehn Leute, die mit der Parteilinie nicht einverstanden sind, Angst haben, zusammen gesehen zu werden - gibt es da einen besseren Ort als einen Naturpark, der sich normalerweise über Meilen erstreckt? Keine Büros oder Häuser oder Wohnungen, die man beobachten kann, keine angezapften Telefonleitungen und keine elektronische Überwachung. Bloß unschuldige Menschen, die Vögel beobachten, in einer Nation von Vogelliebhabern, und jeder mit einem offiziellen Passierschein, der ihm den Zugang auch dann erlaubt, wenn das Reservat offiziell geschlossen ist - bei Tag und bei Nacht.«

»Von Shenzen bis Peking? Das wäre viel großflächiger, als wir angenommen hatten.«

»Was auch immer es ist«, sagte Jason und sah sich um. »Uns betrifft es nicht. Nur er betrifft uns ... Wir müssen uns trennen, aber in Sichtweite bleiben. Ich werde hinübergehen -«

»Nicht nötig!« unterbrach ihn der Franzose. »Dort ist er!«

»Wo?«

»Gehen Sie zurück! Näher an den Lieferwagen von der Post. In seinem Schatten.«

»Welcher ist es?«

»Der Priester, der gerade das kleine Kind streichelt, das Mädchen«, antwortete d'Anjou, der den Rücken dem Wagen zuwandte und zu den Menschen vor dem Hoteleingang hinüberstarrte. »Ein Mann im Priesterrock«, fuhr der Franzose dann bitter fort. »Das ist einer der Tricks, die ich ihn gelehrt habe. Er hatte sich in Hongkong eine schwarze Soutane schneidern lassen, eine mit allem Drum und Dran und einem Etikett aus der Savile Row. An der Soutane habe ich ihn erkannt. Ich habe sie bezahlt.«

»Sie kommen aus einer wohlhabenden Diözese«, sagte Borowski und musterte den Mann, zu dem er jetzt am liebsten hinübergerannt wäre, den er packen wollte und ins Hotel zerren. Die Tarnung des Killers war gut - mehr als gut -, und Jason versuchte, dieses Urteil zu analysieren. Graue Koteletten ragten unter dem schwarzen Hut hervor; eine dünne Nickelbrille saß tief auf der Nase seines bleichen, farblosen Gesichts. Mit geweiteten Augen und hochgeschobenen Brauen ließ er Freude und Staunen erkennen über das, was er an diesem fremden Ort erlebte. Alles waren Gottes Werke und Gottes Kinder, und so war es ganz natürlich, daß er einem kleinen Chinesenmädchen liebevoll den Kopf tätschelte und der Mutter zulächelte und ihr freundlich zunickte. Das war es, dachte Jason voll widerstrebenden Respekts. Dieser Scheißkerl verströmte Liebe. In jeder Geste, jedem Blick der sanften Augen war Liebe zu spüren. Er war tatsächlich ein mitfühlender Priester, ein Hirte seiner Herde. Und als solchen würde man ihn in einer Menge ansehen, aber gleich wieder aus den Augen verlieren, wenn man einen Killer suchte.

Borowski erinnerte sich. Carlos! Der Schakal hatte Priesterkleidung getragen, er sah ganz deutlich seine dunklen südländischen Züge über dem gestärkten weißen Kragen, wie er aus der Kirche in Neuilly-sur-Seine in Paris kam. Jason hatte ihn gesehen! Sie hatten einander gesehen, ihre Blicke hatten sich gekreuzt, und jeder wußte, wer der andere war, ohne daß ein Wort gesprochen wurde. Hol dir Carlos. Locke Carlos in die Falle. Kain ist für Charlie und Carlos ist für Kain! Die Codes waren in seinem Schädel explodiert, als er in den Straßen von Paris hinter dem Schakal hergerannt war ... um ihn dann im Verkehr aus den Augen zu verlieren, während ein alter Bettler, der auf dem Pflaster kauerte, bösartig lächelte.

Dies war nicht Paris, dachte Borowski. Hier gab es keine Armee sterbender alter Männer, die diesen Meuchelmörder schützten. Diesen Schakal würde er in Peking fangen.

»Seien Sie bereit!« sagte d'Anjou und riß Jason aus seinen Erinnerungen. »Er nähert sich dem Bus.«

»Der ist voll.«

»Das ist es ja. Er wird als letzter zusteigen. Wer weist schon einen Priester ab, der es eilig hat? Auch das ist natürlich eine meiner Lektionen.«

Wieder hatte der Franzose recht. Die Tür des kleinen, vollgestopften, schäbigen Busses ging zu, und dann schob der Priester den Arm durch und hielt die Türe an, zwängte die Schulter hinein und bat offensichtlich darum, daß man ihn befreie. Die Tür schob sich wieder auf, der Killer quetschte sich hinein, und die Tür ging zu.

»Das ist der Schnellbus zum Tian-An-Men-Platz«, sagte d'Anjou. »Ich habe die Nummer.«

»Wir müssen ein Taxi finden. Kommen Sie!«

»Das wird nicht einfach sein, Delta.«

»Dafür habe ich eine besondere Technik«, erwiderte Borowski und verließ den Schatten des Lieferwagens vom Fernmeldeamt, als der Bus vorüberfuhr. Er bahnte sich, den Franzosen im Schlepptau, einen Weg durch die Menge vor dem Hotel, dann gingen sie an der Taxischlange entlang, bis sie deren Ende erreicht hatten. Gerade bog ein letztes Taxi in die Zufahrt ein und wollte sich in die Schlange einreihen, als Jason auf die Straße hinausrannte und die Hand hob. Das Taxi hielt an, und der Fahrer schob den Kopf durchs Fenster.

»Shemma?«

»Wei!« rief Borowski, rannte auf den Fahrer zu und hielt ihm ein Bündel Yuan-Scheine im Wert von wenigstens fünfzig amerikanischen Dollar hin. »Bi yao bang shu«, sagte er, was bedeutete, daß er dringend Hilfe brauche und bereit sei, dafür zu zahlen.

»Hao!« rief der Fahrer aus und griff nach dem Geld. »Bingli ba!« fügte er hinzu und rechtfertigte sein Verhalten mit einem plötzlich krank gewordenen Touristen.

Jason und d'Anjou stiegen ein, und der Fahrer maulte über den zweiten Fahrgast. Borowski ließ weitere zwanzig Yuan auf den Vordersitz fallen, was den Mann besänftigte. Er wendete, löste sich aus der Taxischlange und verließ den Flughafenkomplex.

»Dort vorne ist ein Bus«, sagte d'Anjou, im Sitz nach vorne gebeugt, in etwas schwerfälligem Mandarin, zu dem Fahrer. »Können Sie mich verstehen?«

»Ihre Sprache ist Guanzhou, aber ich verstehe.«

»Er fährt zum Tian-An-Men-Platz.«

»Welches Tor?« fragte der Fahrer. »Welche Brücke?«

»Das weiß ich nicht. Ich habe nur die Nummer vorne auf dem Bus gesehen. Sie lautet sieben-vier-zwei-eins.«

»Die letzte Ziffer ist eine Eins«, sagte der Fahrer. »Tian-Tor, zweite Brücke. Eingang zur Kaiserstadt.«

»Gibt es einen Parkplatz für die Busse?«

»Es wird viele Busse geben. Alle sind voll. Sie sind sehr überfüllt. Der Tian-An-Men-Platz ist bei diesem Stand der Sonne überlaufen.«

»Wir sollten den Bus, von dem ich spreche, auf der Straße überholen, was für uns günstig ist, weil wir vor seiner Ankunft am Tian-An-Men-Platz sein wollen. Schaffen Sie das?«

»Ohne Schwierigkeit«, antwortete der Fahrer und grinste. »Die Busse sind alt und haben oft eine Panne. Vielleicht kommen wir viele Tage, bevor er das Nordtor erreicht, dort an.«

»Ich hoffe, das ist nicht Ihr Ernst«, unterbrach ihn Borowski.

»O nein, großzügiger Herr Tourist. Alle Fahrer sind ausgezeichnete Mechaniker - wenn sie das Glück haben, ihre Motoren zu finden.« Der Fahrer lachte verächtlich und trat auf das Gaspedal.

Drei Minuten später überholten sie den Bus, in dem der Killer fuhr. Sechsundvierzig Minuten darauf erreichten sie die weiße Marmorbrücke über einen von Menschenhand geschaffenen Burggraben vor dem Tor des Himmlischen Friedens - von dem aus die Führer Chinas Paraden von Vernichtungswerkzeugen, von tödlichen Waffen abnahmen. Hinter dem Tor mit dem so wenig zutreffenden Namen liegt eine der außergewöhnlichsten menschlichen Leistungen auf der ganzen Erde. Der Tian-An-Men-Platz. Der elektrisierende Knotenpunkt Beijings.

Die Majestät seiner Weite nimmt als erstes das Auge des Besuchers gefangen, und dann die architektonische Gewalt der großen Halle des Volkes zur Rechten, mit einer Banketthalle, in der mehr als fünftausend Menschen Platz finden, und einem »Konferenzsaal« für zehntausend. Gegenüber dem Tor steht ein Obelisk, der bis in die Wolken reicht und auf einer zweistöckigen Terrasse aus Marmor in die Höhe ragt und im Sonnenlicht glitzert, während im Schatten darunter in die mächtige Basis die Kämpfe und Triumphe der Revolution Maos eingegraben sind. Dies ist das Denkmal für die Helden des Volkes, wobei Mao in diesem Pantheon der Erste ist. Und dann all die anderen Gebäude, Denkmäler, Museen, Tore, Bibliotheken - soweit das Auge reicht. Aber mehr als alles andere beeindruckt das Auge die grenzenlose Weite offenen Raums. Raum und Menschen... und für das Ohr noch etwas anderes, etwas völlig Unerwartetes. Man könnte ein Dutzend der großen Stadien der Welt, größer als das Colosseum Roms, in den Tian-An-Men-Platz hineinpacken, ohne Enge zu leiden; Hunderttausende von Menschen können über diesen Platz gehen, und doch wäre noch für weitere Hunderttausende Raum. Und dennoch fehlt hier ein Element, das man in der blutigen Arena Roms nie vermißt hätte, geschweige denn in den großen Stadien der modernen Welt. Der Lärm fehlt - der Geräuschpegel liegt nur wenige Dezibel über der absoluten Stille, nur unterbrochen von leisem Fahrradgeklingel. Erst wirkt die Stille friedlich, dann bedrohlich. Sie ist unnatürlich, wie von einer unhörbaren Stimme befohlen, gegen die keiner aufbegehrt, der man sich fügt - und das ist beängstigend. Besonders, wenn sogar die Kinder still sind.

Jason nahm das alles schnell und ohne Anteilnahme in sich auf. Er bezahlte dem Fahrer, was der Taxameter anzeigte, und verlagerte seine Konzentration auf die Probleme, die ihn und d'Anjou jetzt erwarteten. Aus welchem Grund auch immer, ob ihn nun ein Telefonanruf erreicht hatte, oder ob er sich für Instruktionen entschieden hatte, die man ihm schon vorab erteilt hatte, jedenfalls war der Killer zum Tian-An-Men-Platz unterwegs. Die Pavane würde mit seiner Ankunft beginnen, die langsamen Schritte des vorsichtigen Tanzes würden den Killer näher und näher zum Vertreter seines Klienten tragen, wobei der Klient selbst sich nicht blicken lassen würde. Aber ein Kontakt würde erst dann hergestellt werden, wenn der falsche Borowski davon überzeugt war, daß das Rendezvous sauber war. Aus diesem Grunde würde der »Priester« die Zielposition selbst erforschen, die Koordinaten des Treffpunkts umkreisen und sich vergewissern, ob etwa bewaffnete Häscher ihm auflauerten. Er würde einen, vielleicht auch zwei in seine Gewalt bringen und sie zwingen, mit seiner Messerspitze, oder indem er ihnen eine schallgedämpfte Pistole in die Rippen drückte, ihm die Information zu liefern, die er benötigte; ein einziger Blick würde ihm verraten, daß das Treffen ein Vorspiel zu seiner Exekution war. Am Ende schließlich, wenn ihm das Umfeld sauber vorkam, würde er einen seiner Gefangenen zum Vertreter seines Klienten schicken und sein Ultimatum stellen: Der Klient selbst mußte sich zeigen und in das von dem Killer ausgespannte Netz gehen. Alles andere war nicht akzeptabel; die Zentralfigur, der Klient, mußte das tödliche Gleichgewicht herstellen. Dann würde ein zweiter Treffpunkt vereinbart werden. Der Klient würde als erster eintreffen und würde beim ersten Anzeichen von Verrat sterben. So wäre Jason Borowski vorgegangen. Und so würde auch der Killer vorgehen, wenn er auch nur einen Funken Verstand hatte.

Bus Nummer 7421 rollte ans Ende der Busschlange und spuckte die Touristen aus. Der Killer im Priestergewand stieg aus, war einer älteren Frau beim Aussteigen behilflich und strich ihr über den Kopf, als er ihr ein sanftes Lebewohl zunickte. Er drehte sich um, ging schnell um den Bus herum und verschwand dahinter.

»Bleiben Sie gute zehn Meter hinter mir und behalten Sie mich im Auge«, sagte Jason. »Tun Sie, was ich tue. Wenn ich anhalte, bleiben Sie auch stehen, wenn ich abbiege, biegen Sie ab. Bleiben Sie in der Menge; gehen Sie von einer Gruppe zur nächsten, aber vergewissern Sie sich, daß Sie immer von Leuten umgeben sind.«

»Seien Sie vorsichtig, Delta. Er ist kein Amateur.«

»Das bin ich auch nicht.« Borowski rannte zum Bus, blieb stehen und schob sich vorsichtig um den heißen, übelriechenden Auspuff des Heckmotors herum. Der Priester war etwa fünfzig Meter vor ihm, und seine schwarze Soutane wirkte in dem diffusen Licht wie ein dunkler Leuchtturm. Mit oder ohne Menschenmenge, es fiel nicht schwer, ihm zu folgen. Die Tarnung des Killers war akzeptabel, und die Art und Weise, wie er seine Rolle spielte, ebenfalls. Aber wie das bei einer Tarnung meistens der Fall ist, war sie zugleich auch auffällig, und dadurch ein Handicap. Solche Handicaps klein zu halten, war der Unterschied zwischen Spitze und gutem Durchschnitt. Der Profi in Jason billigte den Status des Geistlichen, aber nicht das priesterliche Schwarz. Eine Priestersoutane war nun einmal schwarz, aber ein anglikanischer Pfarrer hätte auch einen grauen Anzug tragen können. Grau verschwamm im Sonnenlicht, Schwarz nicht.

Plötzlich löste sich der Killer aus der Menge und trat hinter einen chinesischen Soldaten, der Aufnahmen machte, die Kamera in Augenhöhe hielt und den Kopf dauernd bewegte. Borowski begriff. Das war kein harmloser Rekrut, der in Beijing Urlaub machte; dazu war er zu profiliert, seine Uniform zu gut geschnitten - so wie d'Anjou das bezüglich des Offiziers in dem Wagen des Vogelreservats festgestellt hatte. Die Kamera war ein raffiniertes Hilfsmittel, um sich die Menschenmenge genauer anzusehen - der erste Treffpunkt war nicht weit entfernt. Jetzt legte der Killer dem Soldaten väterlich die rechte Hand auf die linke Schulter. Seine Linke blieb unsichtbar, versteckt hinter der schwarzen Soutane - ohne Zweifel hatte er dem Offizier eine Pistole in die Rippen gepreßt. Der Uniformierte erstarrte, aber sein Ausdruck blieb selbst in seiner Panik stoisch. Er bewegte sich mit dem Killer, der jetzt seinen Arm fest gepackt hielt und Befehle erteilte. Plötzlich knickte der Soldat in der Mitte ab, hielt sich die linke - - Seite, erholte sich aber schnell wieder und schüttelte den Kopf; der »Priester« hatte ihm wieder die Waffe in die Seite gebohrt. Er würde jetzt die Befehle befolgen, die man ihm erteilte, oder auf dem Tian-An-Men-Platz sterben. Einen Kompromiß gab es nicht.

Borowski wirbelte herum, bückte sich, band sich den Schnürsenkel und entschuldigte sich bei den Menschen hinter sich. Der Killer hatte seine hintere Flanke überprüft; das Ausweichmanöver war notwendig. Jason richtete sich auf. Wo war er? Wo war der Mann in seiner Maske? Dort; der Killer -. hatte den Soldaten gehenlassen. Warum? Der Armeeoffizier rannte quer durch die Menge, schrie, gestikulierte wild und brach dann plötzlich zusammen, und die Leute sammelten sich erregt schnatternd um seinen reglosen Körper.

Ablenkungsmanöver! Vorsicht. Jason rannte weiter, er hatte das Gefühl, daß der Zeitpunkt stimmte. Das war also keine Pistole gewesen, sondern eine Nadel - kein Pistolenlauf, den man dem Mann in die Seite gepreßt hatte, sondern eine Nadel, die seine Haut nur angeritzt hatte. Der Killer hatte einen Bewacher erledigt; jetzt würde er den nächsten suchen, vielleicht dann noch einen. Das Drehbuch, das Borowski vorhergesagt hatte, war in Gang gekommen. Und da der Killer sich jetzt einzig und allein auf die Suche nach seinem nächsten Opfer konzentrieren würde, war jetzt der richtige Zeitpunkt! Jetzt! Jason wußte, daß er jeden Menschen auf der Erde mit einem lähmenden Schlag in die Nieren kampfunfähig machen konnte, ganz besonders einen Mann, der jetzt am allerwenigsten daran dachte, man könne ihn selbst angreifen - wo er doch seinerseits angriff und sich darauf konzentrierte. Borowski verringerte den Abstand zwischen sich und dem Killer. Fünfzehn Meter, zwölf, zehn ... Er arbeitete sich von einer Menschentraube in die nächste ... der schwarz gekleidete »Priester« war in Reichweite. Jetzt würde er zuschlagen! Marie!

Ein Soldat. Noch ein Soldat! Aber diesmal kam es nicht zu einem Angriff, sondern zur Kommunikation. Der Soldat nickte und deutete nach links. Jason sah verwirrt in die Richtung, die der Soldat gewiesen hatte. Ein kleiner Chinese in Zivilkleidung, mit einer Aktentasche mit dem Regierungssiegel, stand am Sockel einer breiten Steintreppe, die zum Eingang eines mächtigen Bauwerks mit Granitsäulen und zwei Pagodendächern hinaufführte. Der Bau stand unmittelbar hinter dem Heldendenkmal, und die kalligraphischen Zeichen über den mächtigen Türflügeln verkündeten, daß es sich um die Gedächtnishalle des Vorsitzenden Mao handelte. In zwei Reihen schoben sich die Menschen die Stufen hinauf, wobei Wachen damit beschäftigt waren, die einzelnen Gruppen voneinander getrennt zu halten. Der Zivilist stand zwischen den beiden Reihen, seine Aktentasche war ein Symbol seiner Autorität; deshalb ließ man ihn in Frieden. Plötzlich und ohne jede Vorwarnung packte der hochgewachsene Killer den Arm des Soldaten und stieß den kleineren Mann vor sich her. Jetzt krümmte sich der Rücken des Mannes, seine Schultern zuckten nach oben; man hatte ihm eine Waffe gegen die Wirbelsäule gedrückt und ganz spezifische Befehle erteilt.

Während die Erregung wuchs und sich immer mehr Menschen um den zusammengebrochenen ersten Soldaten sammelten und ein paar Polizeibeamte sich einen Weg durch die Menge bahnten, gingen der Meuchelmörder und sein Gefangener mit gleichmäßigen Schritten auf den Zivilisten auf der Treppe des Mao-Monuments zu. Der Mann hatte Angst, sich zu bewegen; und wieder begriff Borowski. Diese Männer waren dem Killer bekannt; sie gehörten dem innersten Kreis dieser Elite an, die zum Klienten des Meuchelmörders führte, und der Klient befand sich ganz in der Nähe. Das waren keine kleinen Handlanger. Das Ablenkungsmanöver, das jetzt nur mehr eine kleine Störung war, weil die Polizei inzwischen die Menge zerstreut und den reglosen Körper weggetragen hatte, hatte dem Killer die Sekunden verschafft, die er brauchte, um die Kette unter Kontrolle zu bekommen, die zu seinem Klienten führte. Der Soldat, den er mit eisernem Griff festhielt, war ein toter Mann, wenn er nicht gehorchte, und jeder einigermaßen gute Schütze konnte den Mann auf der Treppe mit einem einzigen Schuß töten. Die Zusammenkunft hatte zwei Stufen, und solange der Killer die zweite Stufe unter Kontrolle hatte, war er durchaus bereit, weiterzugehen. Der Klient befand sich ganz offenkundig irgendwo im Inneren des riesigen Mausoleums und konnte nicht wissen, was draußen geschah, noch würde einer seiner Helfer es wagen, seinem Vorgesetzten nach innen in die Konferenzzone zu folgen. Jetzt war keine Zeit mehr für Analysen, das wußte Jason. Er mußte handeln. Schnell. Er mußte sich Zutritt zu Mao Tse-tungs Monument verschaffen, mußte beobachten, mußte warten, bis die Zusammenkunft so oder so endete - und dabei kam ihm plötzlich in den Sinn, daß er den Killer vielleicht würde beschützen müssen. Eine widerwärtige, aber realistische Vorstellung. Sein einziges Plus war, daß der Mann in seiner Maske nach einem Drehbuch agiert hatte, das von ihm selbst hätte stammen können. Und wenn die Konferenz friedlich verlief, dann kam es einfach darauf an, dem Killer zu folgen, den dann ohne Zweifel der Erfolg seiner Taktik ebenso in Hochstimmung versetzt haben würde wie das, was sein Klient ihm gab - und dann einen arglosen Egozentriker der schlimmsten Sorte auf dem Tian-An-Men-Platz in seine Gewalt zu bekommen.

Borowski drehte sich um und hielt Ausschau nach d'Anjou. Der Franzose stand am Rande einer kontrollierten

Touristengruppe; er nickte, als hätte er Deltas Gedanken gelesen, wies neben sich auf den Boden und beschrieb mit dem Zeigefinger einen Kreis. Das war ein stummes Signal aus ihrer gemeinsamen Zeit bei Medusa. Das bedeutete, daß er bleiben würde, wo er war, sich aber, wenn er sich bewegen mußte, in Sichtweite jenes ganz bestimmten Ortes halten würde. Das war genug. Jason trat hinter den Killer und seinen Gefangenen und ging schräg durch die Menge, durchquerte schnell den freien Raum zu der Schlange auf der rechten Hälfte der Treppe und ging dort auf den Posten zu. In höflichem, fast devotem Mandarin sagte er: »Hoher Offizier, mir ist das äußerst peinlich! Die Kalligraphie auf dem Volksmonument hat mich so beeindruckt, daß ich meine Gruppe verloren habe, die erst vor wenigen Minuten hier durchgekommen ist.«

»Sie sprechen unsere Sprache sehr gut«, sagte der erstaunte Uniformierte, offenbar verblüfft, daß ein Nichtchinese ihn ansprach. »Sie sind sehr höflich.«

»Ich bin einfach ein unterbezahlter Lehrer aus dem Westen, der voll der Liebe für Ihre große Nation ist, hoher Offizier.«

Der Wachmann lachte. »Ich stehe zwar nicht so weit oben, aber unsere Nation ist groß. Meine Tochter trägt auf der Straße Bluejeans.«

»Wie bitte?«

»Nichts. Wo haben Sie Ihre Gruppenidentifikation?«

»Meine was?«

»Das Namensschild, das an der Kleidung zu tragen ist.«

»Es ist immer wieder heruntergefallen«, sagte Borowski und schüttelte hilflos den Kopf. »Es wollte einfach nicht steckenbleiben. Ich muß es verloren haben.«

»Wenn Sie Ihre Gruppe eingeholt haben, gehen Sie zu Ihrem Führer und beschaffen Sie sich ein neues. Gehen Sie nur. Stellen Sie sich auf der Treppe an. Hier ist irgend etwas nicht in

Ordnung. Die nächste Gruppe wird vielleicht warten müssen. Sie werden Ihre Tour verpassen.«

»Oh? Gibt es ein Problem?«

»Ich weiß nicht. Der Beamte mit der Aktentasche mit dem Regierungssiegel gibt uns unsere Anweisungen. Ich glaube, er zählt die Yuan, die man hier machen könnte, und meint, daß dieser heilige Ort so voll wie die Untergrundbahn von Beijing sein müßte.«

»Sie waren sehr liebenswürdig.«

»Beeilen Sie sich, Sir.«

Borowski hetzte die Stufen hinauf, bückte sich hinter der Menge, um erneut unnötigerweise einen Schnürsenkel festzuknoten, und hielt dabei den Kopf zur Seite gedreht, um den Killer zu beobachten. Jetzt redete der Mann, der immer noch den Soldaten festhielt, leise auf den Zivilisten ein - aber irgend etwas kam ihm seltsam vor. Der kleine Chinese in dem dunklen Anzug nickte, aber seine Augen waren nicht auf den Killer gerichtet, sondern an ihm vorbei. Aber stimmte das? Jasons Blickwinkel war nicht der beste. Doch wie auch immer, das Drehbuch lief unbehindert weiter ab, der Killer würde auf seine Weise mit seinem Klienten Verbindung aufnehmen.

Er trat durch die Tür ins Halbdunkel, ebenso wie alle anderen vor ihm, vom plötzlichen Auftauchen der gigantischen Marmorskulptur des sitzenden Mao beeindruckt, einem Bildwerk, das so hoch und majestätisch aufragte, daß man in seiner Anwesenheit am liebsten den Atem angehalten hätte. Und man hatte auch keineswegs auf theatralische Effekte verzichtet. Die Lichtbündel, die die exquisite, scheinbar durchsichtige Marmorskulptur beleuchteten, erzeugten eine ätherische Wirkung, die die gigantische sitzende Gestalt von dem Samtteppich dahinter abhob und von der Finsternis, die sie umgab. Die massive Statue mit den suchenden Augen schien in sich zu leben und sich ihrer Umgebung bewußt zu sein.

Jason zwang sich, die Augen abzuwenden und nach Türen und Korridoren zu suchen. Es gab keine. Es war ein Mausoleum, das ganz dem Heiligen einer Nation gewidmet war. Aber es gab Säulen, mächtige, hohe Marmorsäulen, die einem die Möglichkeit boten, sich abzusondern. Der Ort der Zusammenkunft konnte im Schatten einer jener Säulen liegen. Er würde warten, würde sich ebenfalls im Schatten halten und aufpassen.

Seine Gruppe betrat die zweite große Halle, die, falls das überhaupt möglich war, noch elektrisierender als die erste war. Sie sahen sich einem Sarg aus Kristallglas gegenüber, der den Leichnam des Vorsitzenden Mao Tse-tung umgab, eingehüllt in die rote Fahne, eine wächserne Leiche in friedlicher Ruhestellung - und doch schien es, als würden sich die geschlossenen Augen jeden Augenblick weit öffnen und sie in feuriger Mißbilligung anstarren. Rings um den erhaben aufgestellten Sarkophag waren Blumen angeordnet, und zwei Reihen dunkelgrüner Fichten in riesigen Keramiktöpfen säumten die gegenüberliegenden Wände. Wieder spielten die Lichtstrahlen eine dramatische Farbsymphonie, durchstießen sich miteinander schneidende Strahlenbündel die Dunkelheit und tauchten das leuchtende Gelb und Rot und Blau der Blumen in gleißendes Licht.

In der ersten Halle entstand Unruhe und störte das ehrfürchtige Schweigen der Menschen, aber das ging ebenso schnell vorbei, wie es angefangen hatte. Als letzter Tourist in der Reihe löste Borowski sich von der Gruppe, ohne daß die anderen das bemerkten. Er schlüpfte hinter eine Säule, suchte deren schützenden Schatten und spähte um den glitzernden weißen Marmor herum.

Was er sah, paralysierte ihn, während ein Dutzend Gedanken in seinem Schädel aufeinanderprallten und mehr als alles andere das eine Wort Falle! Es gab keine Gruppe hinter seiner eigenen! Sie war die letzte, die man eingelassen hatte - er war die letzte

Person, die man eingelassen hatte - ehe die schweren Torflügel sich geschlossen hatten. Das war das Geräusch, das er gehört hatte - das Schließen der Torflügel und das enttäuschte Aufstöhnen derer, die draußen darauf warteten, daß man ihnen den Zugang gestattete.

Etwas geht hier vor ... Die nächste Gruppe wird vielleicht warten müssen ... Ein freundlicher Wachmann auf den Stufen.

Mein Gott, das Ganze war von Anfang an eine Falle! jede Bewegung, jeder Anschein war kalkuliert gewesen! Von Anfang an! Die Information, für die er auf einer vom Regen gepeitschten Insel bezahlt hatte, die fast nicht zu beschaffenden Flugtickets, die erste Entdeckung des Killers auf dem Flughafen- ein professioneller Killer, der zu einer viel besseren Verkleidung fähig war, mit zu auffälligem Haar und mit Kleidern, die ihn nur unzureichend tarnten. Und dann die Komplikation mit einem alten Mann, einem pensionierten Brigadier der Royal Engineers - so unlogisch logisch! So richtig, die Witterung der Täuschung so genau, so unwiderstehlich! Ein Soldat im Fenster eines Lieferwagens, der nicht nach ihm Ausschau hielt, sondern nach ihnen! Die schwarze Soutane - ein dunkler Leuchtturm in der Sonne, bezahlt von dem, der den Killer geschaffen hatte -, so leicht zu entdecken, so leicht zu verfolgen. Herrgott, von Anfang an! Schließlich die Szenenfolge auf dem riesigen Platz, aus einem Drehbuch, das von Borowski selbst hätte stammen können - wieder für den Verfolger unwiderstehlich. Eine umgedrehte Falle: den Jäger fangen, während er seinem Opfer auflauert.

Verzweifelt sah Jason sich um. Vorne, in der Ferne, war ein Sonnenstrahl zu sehen. Die Ausgangstüren befanden sich am anderen Ende des Mausoleums; sie würden bewacht sein, jeden Touristen würde man unter die Lupe nehmen, wenn er hinausging.

Schritte. Hinter seiner rechten Schulter. Borowski wirbelte nach links herum, zog den Messingbrieföffner aus dem Gürtel.

Eine Gestalt in einem grauen Mao-Anzug von militärischem Schnitt ging vorsichtig im Schatten der Fichten an der mächtigen Säule vorbei. Er war nicht einmal zwei Meter von ihm entfernt. In der Hand hielt der Mann eine Waffe mit einem dicken Aufsatz auf dem Lauf als Garantie dafür, daß ein Schuß nicht lauter als ein Spucken klingen würde. Jason führte seine tödlichen Kalkulationen in einer Art und Weise durch, die David Webb nie verstehen würde. Die Klinge mußte ihr Ziel so finden, daß sie den sofortigen Tod garantierte. Aus dem Mund seines Feindes durfte kein Laut dringen, während er die Leiche in die Finsternis zurückzerrte.

Er sprang vor, und die zu Klauen gebogenen Finger seiner linken Hand klammerten sich wie ein Schraubstock um das Gesicht des Minnes, während er ihm den Brieföffner in den Hals trieb und die Klinge die Sehnen und zerbrechlichen Knorpel durch trennte und die Luftröhre durchschnitt. Mit einer einzigen fließenden Bewegung ließ Borowski die linke Hand sinken, packte die große Waffe, die sein Feind noch immer umkrampft hielt, und drehte die Leiche herum, ließ sich mit ihr unter die Zweige der Fichten fallen, die die rechte Mauer säumten. Er schob die Leiche in die dunklen Schatten zwischen zwei großen Keramiktöpfen. Dann kroch er über die Leiche, die Waffe vor dem Gesicht, und arbeitete sich an der Mauer entlang auf die erste Halle zu, wo er sehen konnte, ohne gesehen zu werden.

Ein zweiter uniformierter Mann durchquerte den Lichtstrahl, der die Dunkelheit des Eingangs zur zweiten Halle erleuchtete. Er stand jetzt vor Maos Kristallsarg, beleuchtet von den gespenstischen Strahlenbündeln, und sah sich um. Er hielt ein Funkgerät an den Mund und sprach, lauschte dann; fünf Sekunden später veränderte sich sein Gesichtsausdruck, wurde besorgt. Er ging schnell nach rechts, verfolgte den Weg, den man dem ersten Mann zugeteilt hatte. Jason huschte zu der Leiche zurück, arbeitete sich auf Händen und Knien lautlos über den Marmorboden und schob sich an den Rand der tiefhängenden Zweige.

Der Soldat kam jetzt näher, seine Schritte wurden langsamer, er musterte die letzten Leute in der Schlange vor sich. Jetzt! Borowski sprang auf, als der Mann an ihm vorüberging, drückte ihm den Arm von hinten um den Hals und erstickte jeden Laut, während er ihn unter die Zweige zog und ihm die Waffe in den Leib preßte. Er drückte ab; die gedämpfte Detonation klang höchstens wie ein Husten, nicht lauter. Der Mann stieß einen letzten heftigen Atemzug aus und erschlaffte.

Er mußte hier raus! Wenn er in dem ehrfürchtigen Schweigen des Mausoleums in die Falle ging und getötet wurde, dann hatte der Killer freie Bahn, und nichts würde dann mehr Maries Tod abwenden können.

Seine Feinde ließen die Falle jetzt zuschnappen. Er mußte irgendwie überleben! Die sauberste Flucht erfolgt in Etappen unter Ausnutzung herrschender Verwirrung, oder indem man selbst Verwirrung erzeugt.

Etappe eins und Etappe zwei waren erledigt. Eine gewisse Verwirrung existierte bereits, falls andere Männer in ihre Funkgeräte flüsterten.

Jetzt bedurfte es nur noch eines Brennpunkts, einer so heftigen und unerwarteten Störung, daß die, die ihn in den Schatten jagten, selbst Objekte einer plötzlichen hysterischen Suche wurden.

Und dazu gab es nur eine Möglichkeit, und Jason verspürte keinerlei obskure heroische Gefühle wie Ich könnte bei dem Versuch sterben. Er mußte es tun! Es mußte klappen! Alles hing von seinem Überleben ab, mehr als nur seine eigene Sicherheit. Er war jetzt ganz Profi, auf dem Höhepunkt seiner Leistungsfähigkeit, ruhig, entspannt und zielbewußt.

Borowski stand auf und schob sich quer durch das Astwerk, durchquerte den freien Raum, bis er die Säule vor sich erreicht hatte. Dann rannte er zur nächsten, und dann wieder zur nächsten, der ersten Säule in der zweiten Halle, zehn Meter von dem theatralisch angestrahlten Sarkophag entfernt. Er schob sich um das Marmorgebilde herum und wartete, beobachtete die Eingangstür.

Und dann geschah es. Der Offizier, der der »Gefangene« des Killers war, tauchte mit dem kleinen Zivilisten mit der Aktentasche auf. Der Soldat trug ein Funkgerät; jetzt hob er es an, um zu sprechen und zu lauschen, schüttelte dann den Kopf, steckte das Funkgerät in die rechte Jackettasche und zog die Pistole aus dem Halfter. Der Zivilist nickte, griff unter sein Jackett und holte einen kurzläufigen Revolver heraus. Die beiden gingen auf den gläsernen Sarg mit den sterblichen Überresten Mao Tse-tungs zu, sahen einander dann an und trennten sich; einer ging nach links, der andere nach rechts.

Jetzt! Jason hob die Waffe, zielte schnell und feuerte. Einmal! Eine Haaresbreite zu weit rechts. Zweimal! Die Schüsse klangen wie Husten im Schatten, als beide Männer gegen den Sarkophag stürzten. Borowski packte den heißen Zylinder auf dem Lauf der Pistole mit dem Rockschoß und drehte ihn herunter. Er hatte noch fünf Kugeln übrig. Er betätigte den Abzug schnell hintereinander. Die Explosionen füllten das Mausoleum, hallten von den Marmorwänden wider, ließen das Kristallglas des Sarges zersplittern, und die Kugeln bohrten sich in die krampfhaft zuckende Leiche Mao Tse-tungs, eine durchdrang die blutlose Stirn, eine andere fetzte ein Auge weg.

Sirenen heulten auf; schrille Glocken ertönten, ohrenbetäubend, und von überall tauchten gleichzeitig Soldaten auf und rasten, von Panik erfüllt, auf den Schauplatz des empörenden Geschehens zu. Die zwei Reihen von Touristen, die sich in dem gespenstischen Licht des Totenhauses eingesperrt fühlten, wurden hysterisch. Sie rasten auf die Tore zu, ins Freie, und trampelten die nieder, die sich ihnen in den Weg stellten. Jason Borowski schloß sich ihnen an, bahnte sich seinen Weg ins Innere der Menschentraube. Jetzt hatten sie das grelle Licht des Tian-An-Men-Platzes erreicht, und er rannte die Stufen hinunter.

D'Anjou! Jason lief nach rechts, bog um die Ecke und rannte an der Säulenhalle entlang, bis er die Vorderseite erreicht hatte. Die Wachen gaben sich die größte Mühe, die erregten Menschenmassen zu beruhigen, während sie gleichzeitig herauszufinden versuchten, was passiert war. Ein Krawall war im Entstehen.

Borowski suchte die Stelle ab, wo er d'Anjou zuletzt gesehen hatte, und dann wanderte sein Blick über den ganzen Platz, zu einer Stelle, wo er den Franzosen vermutete. Nichts, da war niemand, der ihm auch nur entfernt ähnelte.

Plötzlich war auf einer Straße links von Jason das Quietschen von Reifen zu hören. Er wirbelte herum. Ein Lieferwagen mit getönten Fenstern raste über den Platz, auf das Südtor des Tian-An-Men-Platzes zu.

Sie hatten d'Anjou erwischt. Echo war in ihrer Hand.

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