Edward Newington McAllister humpelte auf Krücken in die einst so eindrucksvolle Bibliothek des alten Hauses am Victoria
Peak, deren weit ausladende Erkerfenster jetzt mit schweren Plastikbahnen abgedeckt waren, und die auch sonst noch unübersehbare Spuren der Vernichtung zeigte. Botschafter Raymond Havilland sah zu, wie der Staatssekretär die Akte über Sheng auf seinen Schreibtisch warf.
»Ich glaube, das war Ihnen verlorengegangen«, sagte der Analytiker, legte die Krücken übereinander und ließ sich mit einiger Mühe in den Sessel sinken.
»Die Ärzte sagten mir, daß Ihre Verletzungen nicht kritisch seien«, meinte der Diplomat. »Das freut mich.«
»Das freut Sie? Für wen, zum Teufel, halten Sie sich denn eigentlich, daß Sie sich darüber freuen wie ein Schneekönig?«
»Das ist eine Redewendung - sie klingt zugegebenermaßen etwas arrogant -, aber ich meine das durchaus ernst. Was Sie getan haben, war außergewöhnlich. Ich hätte Ihnen das niemals zugetraut.«
»Das kann ich mir vorstellen.« Der Staatssekretär rutschte auf dem Sessel etwas zur Seite und schob die verletzte Schulter gegen das Rückenkissen des Sessels. »Tatsächlich habe ich es gar nicht getan. Das war er.«
»Aber Sie haben es ermöglicht, Edward.«
»Ich war nicht in meinem Element - meinem Revier sozusagen. Diese Leute tun Dinge, von denen wir nur träumen, oder die wir uns auf einem Bildschirm ansehen und doch keinen Augenblick daran glauben, weil es so unerhört ist.«
»Wir würden keine solchen Träume haben oder uns von solchen Phantasien hypnotisieren lassen, wenn die Grundzüge dafür nicht im menschlichen Wesen steckten. Diese Leute tun das, was sie am besten können, so wie wir das tun, was wir am besten können. Jedem sein eigenes Revier, Herr Staatssekretär.«
McAllister starrte Havilland an, ohne jede Kompromißbereitschaft im Blick. »Wie ist das passiert? Wie ist Sheng an die Akte herangekommen?«
»Das ist eine andere Art von Revier. Ein Profi. Drei junge Männer sind getötet worden, auf schreckliche Weise. Ein absolut sicherer Safe erwies sich als nicht sicher genug.«
»Unentschuldbar!«
»Zugegeben«, sagte Havilland, lehnte sich vor und wurde plötzlich lauter. »Ebenso wie das, was Sie getan haben, unentschuldbar war! Für wen, in Gottes Namen, halten Sie sich eigentlich? Welches Recht hatten Sie, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen - eine völlig unerfahrene Hand? Sie haben jeden Eid verletzt, den Sie je im Dienst Ihrer Regierung abgelegt haben! Eine Entlassung reicht dafür nicht aus! Dreißig Jahre im Gefängnis wären Ihren Verfehlungen eher angemessen! Haben Sie denn eine Vorstellung, was da hätte passieren können? Ein Krieg, der den ganzen Pazifikraum - die ganze Welt - in die Hölle stürzen könnte!«
»Ich habe das getan, was ich getan habe, weil ich es konnte. Das ist eine Lektion, die ich von Jason Borowski gelernt habe, unserem Jason Borowski. Doch davon abgesehen, mein Rücktrittsgesuch liegt Ihnen vor, Herr Botschafter. Mit sofortiger Wirkung - es sei denn, Sie wollen Anklage erheben.«
»Und Sie?« Havilland sank in seinen Sessel zurück. »Machen Sie sich nicht lächerlich. Ich habe mit dem Präsidenten gesprochen, und er ist meiner Meinung. Sie werden Vorsitzender des Nationalen Sicherheitsrates.«
»Vorsitzender -? Das kann ich nicht!«
»Mit Dienstlimousine und allem Mist drum und dran.«
»Ich werde nicht wissen, was ich sagen soll!«
»Sie wissen, wie man denkt, und ich werde Ihnen zur Seite stehen.« »O mein Gott!«
»Beruhigen Sie sich. Sie brauchen bloß auszuwerten und nachzudenken. Und dann denjenigen von uns, die sprechen, erklären, was wir sagen sollen. Dort liegt nämlich die wahre Macht, müssen Sie wissen. Nicht bei denjenigen, die sprechen, sondern bei denjenigen, die denken.«
»Das kommt alles so plötzlich, so -«
»Sie haben es verdient, Herr Staatssekretär«, unterbrach ihn der Diplomat. »Der menschliche Verstand ist etwas Wunderbares. Wir wollen ihn niemals unterschätzen. Übrigens, der Arzt hat mir gesagt, daß Lin Wenzu durchkommen wird. Er wird den linken Arm nicht mehr gebrauchen können, aber er wird am Leben bleiben. Ich bin sicher, daß Sie eine Empfehlung zur Weiterleitung an MI-6 in London haben werden. Man wird Ihren Wunsch respektieren.«
»Mr. und Mrs. Webb? Wo sind sie?«
»Inzwischen in Hawaii. Mit Dr. Panov und Mr. Conklin natürlich. Von mir halten die nicht viel, fürchte ich.«
»Herr Botschafter, Sie haben ihnen dazu auch wenig Anlaß gegeben.«
»Wahrscheinlich nicht, aber das ist auch nicht meine Aufgabe.«
»Ich glaube, ich verstehe. Jetzt wenigstens.«
»Ich hoffe, daß Ihr Gott mit Männern wie uns Erbarmen hat, Edward. Sonst möchte ich ihm nicht begegnen.«
»Es gibt immer Vergebung.«
»Wirklich? Dann lege ich, glaube ich, keinen Wert darauf, ihn kennenzulernen. Er würde sich doch nur als Schwindler entpuppen.«
»Warum?«
»Weil er eine Rasse hirnloser, blutrünstiger Wölfe auf die Welt losgelassen hat, die sich keinen Deut um das Überleben des Stammes scheren, nur um ihr eigenes. Das ist ja nicht gerade ein vollkommener Gott, oder?«
»Er ist vollkommen! Wir sind die Unvollkommenen.«
»Dann ist das alles für ihn nur ein Spiel. Er setzt seine Schöpfung in die Welt und sieht ihr zu seinem eigenen Vergnügen dabei zu, wie sie sich selbst in die Luft jagt. Er sieht uns dabei zu, wie wir uns selbst in die Luft jagen.«
»Es ist ja unser Sprengstoff, Herr Botschafter. Wir haben den freien Willen.«
»Aber in der Bibel steht doch, daß alles nach seinem Willen geschieht, oder nicht? Sein Wille geschehe.«
»Das ist eine Grauzone.«
»Perfekt! Eines Tages könnten Sie wirklich Außenminister werden.«
»Das glaube ich nicht.«
»Ich auch nicht«, nickte Havilland. »Aber bis dahin erledigen wir unsere Aufgabe - sorgen dafür, daß alles im Lot bleibt, und hindern die Welt daran, sich zu zerstören. Danken Sie den Geistern, wie man hier im Osten sagt, für Menschen wie Sie und mich und wie Jason Borowski und David Webb. Wir schieben die Stunde von Armageddon immer wieder einen Tag hinaus. Was geschieht denn, wenn wir nicht da sind?«
Ihr langes kastanienbraunes Haar fiel über sein Gesicht, und ihr Körper preßte sich gegen den seinen, ihre Lippen auf die seinen. David schlug die Augen auf und lächelte. Es war, als hätte es keinen Alptraum gegeben, der ihr Leben so brutal unterbrochen hatte, nichts, was sie an den Rand eines Abgrunds getragen hatte, in dem der Tod und unsagbarer Schrecken lauerten! Sie waren zusammen, und das behagliche Gefühl jener Realität erfüllte ihn mit tiefer Dankbarkeit. Das war mehr als genug für ihn - mehr als er je für möglich gehalten hätte.
Er begann, für sich die Ereignisse der letzten vierundzwanzig Stunden zu rekonstruieren, sein Lächeln wurde breiter, und ein kurzes Lachen drang aus seiner Kehle. Die Dinge waren nie so, wie sie sein sollten, nie so, wie man es erwartete. Er und Mo Panov hatten auf dem Flug von Hongkong nach Hawaii viel zuviel getrunken, während Alex Conklin bei geeistem Tee oder Mineralwasser blieb, oder was auch immer sonst frisch geheilte Trinker anderen demonstrierten - keine Vorhaltungen, einfach stilles Märtyrertum. Marie hatte den Kopf des berühmten Dr. Panov gehalten, während der angesehene Psychiater sich in der erdrückend engen Toilette der britischen Militärmaschine übergab, und hatte Mo dann mit einer Decke zugedeckt, als er in tiefen Schlaf sank. Anschließend hatte sie sanft, aber entschieden die amourösen Annäherungsversuche ihres Mannes zurückgewiesen, ihn dafür dann aber später entschädigt, als sie und ihr wieder nüchterner Partner fürs Leben im Hotel in Kahala angekommen waren. Eine grandiose, ans Delirium grenzende Nacht der Liebe, von der Jugendliche nur träumen, und die die Schrecken des Alptraums weggespült hatte.
Alex? Ja, jetzt erinnerte er sich. Conklin hatte die erste Linienmaschine von Oahu nach Los Angeles und Washington genommen. »Dort gibt es Köpfe einzuschlagen«, hatte er es formuliert. »Und das habe ich auch vor.« Alexander Conklin hatte eine neue Mission in seinem kaputten Leben. Verantwortung nannte sie sich.
Mo? Morris Panov? Die Geißel der Psychologen und Scharlatane seines Berufes. Er befand sich im Zimmer nebenan und kurierte ohne Zweifel den gigantischsten Kater seines Lebens.
»Du hast gelacht«, flüsterte Marie mit geschlossenen Augen und drückte das Gesicht an seinen Hals. »Was ist denn so komisch?«
»Du, ich, wir - alles.«
»Ich muß wirklich sagen, daß dein Sinn für Humor nicht ganz der meine ist. Andererseits höre ich da, glaube ich, einen Mann namens David.«
»Was anderes wirst du in Zukunft auch nicht mehr hören!«
Es klopfte an der Tür, nicht an der Tür zum Korridor, sondern der zum Nachbarzimmer. Panov. Webb stieg aus dem Bett, ging schnell ins Badezimmer und griff sich ein Handtuch, das er sich um die Hüfte schlang. »Augenblick, Mo!« rief er und ging zur Tür.
Moris Panov, blaß, aber gefaßt, stand mit einem Koffer in der Hand da. »Darf ich den Tempel des Eros betreten?«
»Du bist ja schon drin, alter Freund.«
»Das will ich auch hoffen ... Einen wunderschönen Nachmittag, meine Liebe«, sagte der Psychiater zu Marie gewandt, die noch im Bett lag, und ging zu einem Stuhl an der Glastür, die auf den Balkon hinausführte und den Blick auf den Strand von Hawaii freigab. »Keine Umstände, auch nichts zu essen, und wenn du aufstehen willst, dann keine Sorge, ich bin schließlich Arzt, glaube ich.«
»Wie geht's dir, Mo?« Marie setzte sich auf und zog das Laken über sich.
»Viel besser als vor drei Stunden, aber davon verstehst du ganz bestimmt nichts. Du bist ja zum Verrücktwerden normal.«
»Du warst zu angespannt, du mußtest dich lockern.«
»Wenn Sie hundert Dollar die Stunde verlangen, reizende Lady, dann nehme ich eine Hypothek auf mein Haus auf und melde mich an für fünf Jahre Therapie.«
»Das hätte ich gerne näher definiert«, sagte David lächelnd und setzte sich Panov gegenüber. »Was soll der Koffer?«
»Ich reise ab. Ich habe schließlich Patienten in Washington und bilde mir ganz gern ein, daß die mich vielleicht brauchen.«
Eine Weile herrschte Schweigen im Zimmer, und David und Marie sahen Morris Panov an. »Was sagen wir jetzt, Mo?« fragte Webb. »Und wie sagen wir es?«
»Sagt gar nichts, überlaßt mir das Reden. Marie ist wehgetan worden, sie hat mehr leiden müssen, als dem Normalmaß entspricht. Aber das, was sie ertragen kann, geht auch über das Normalmaß hinaus, und deshalb wird sie damit fertig. Das Schlimme ist, daß wir von bestimmten Leuten eben das erwarten. Das ist unfair, aber so ist es eben.«
»Ich mußte überleben, Mo«, sagte Marie und sah ihren Mann an. »Ich mußte ihn zurückbekommen. Und so war es.«
»Und du, David. Du hast ein traumatisches Erlebnis durchgemacht, etwas, womit nur du fertig wirst, und du brauchst gar kein leeres Gewäsch von mir, um damit fertig zu werden. Du bist jetzt du, niemand sonst. Jason Borowski gibt es nicht mehr. Er kann nicht mehr zurückkommen. Bau dir dein Leben als David Webb auf - konzentriere dich auf Marie und David. Das ist alles, was es gibt, und alles, was es geben sollte. Und wenn jemals die Ängste zurückkommen sollten - das werden sie wahrscheinlich nicht, aber ich hätte nichts dagegen, wenn du selbst ein paar aufbauen würdest -, dann ruf mich an, und ich nehme die nächste Maschine nach Maine. Ich liebe euch beide, und Maries Rindfleischeintopf ist etwas ganz Besonderes.«
Sonnenuntergang, ein strahlender orangeroter Kreis über dem westlichen Horizont, der langsam in den Pazifik versank. Sie gingen am Strand entlang, die Hände fest ineinander verschlungen, so nahe, daß sich ihre Körper berührten - so natürlich, so gut, so richtig.
»Was tut man, wenn man ein Stück von sich selbst haßt?« sagte Webb.
»Man akzeptiert es«, antwortete Marie. »Wir alle haben eine dunkle Seite unseres Wesens, David. Wir möchten das liebend gern leugnen, aber das können wir nicht. So ist das. Vielleicht können wir nicht ohne sie existieren. Und deine dunkle Seite ist eine Legende, die Jason Borowski heißt, aber das ist auch schon alles.«
»Ich verabscheue ihn.«
»Er hat dich zu mir zurückgebracht. Das ist das einzige, worauf es ankommt.«