Finsternis. Die Gestalt in der Uniform eines Ledernacken der Vereinigten Staaten ließ sich im hinteren Teil des Parks am Victoria Peak von der Mauer fallen. Er kroch nach links, an einem Stück Drahtverhau vorbei, das ein weggesprengtes Mauerstück absichern sollte, und arbeitete sich stets im Schutz des Schattens quer über den Rasen auf die Hausecke zu. Er spähte durch die zerschmetterten Fenster ins Hausinnere auf die Überreste eines großen Viktorianischen Arbeitszimmers. Vor den Glassplittern und den eingedrückten Fensterrahmen stand ein Ledernacken Wache; er hatte einen M-16-Karabiner ins Gras gestellt und hielt ihn am Lauf fest; eine 45er Pistole hatte er umgeschnallt. Daß er neben dem Karabiner noch die kleinere Waffe trug, war ein Zeichen für höchste Alarmstufe, das begriff der Eindringling und lächelte, als er sah, daß der Wachposten es nicht für nötig hielt, die M-16 in den Händen zu halten. Ledernacken mit schußbereiten Waffen wären ihm nicht gelegen gekommen. Auf die Weise konnte ein Gewehrkolben einem Menschen gegen den Schädel krachen, ehe der wußte, daß er in seiner Reichweite war. Der Eindringling wartete auf den geeigneten Augenblick, der kam, als der Brustkorb des Postens sich in einem langen Gähnen hob und seine Augen sich kurz schlössen, als er tief einatmete. Der Eindringling rannte um die Ecke, sprang hoch und warf dem Posten eine Drahtschlinge um den Hals. Sekunden später war es vorbei. Es war kaum ein Laut zu hören gewesen.
Der Killer ließ die Leiche einfach liegen, in diesem Teil des Gartens war es wesentlich dunkler als anderswo. Fast alle Scheinwerfer im hinteren Garten teil waren bei den Explosionen kaputtgegangen. Er richtete sich auf und schob sich zur nächsten
Ecke vor, wo er eine Zigarette herauszog und sie sich mit einem Gasfeuerzeug anzündete, wobei er schützend die Hand über die Flamme hielt. Dann trat er in das Scheinwerferlicht und schlenderte gelassen um die Ecke auf die breiten, angekohlten Verandatüren zu, wo ein zweiter Ledernacken auf der Treppe Wache hielt. Der Eindringling hielt die Zigarette in der linken Hand, hinter der er sein Gesicht versteckte, während er an der Zigarette sog.
»Wohl eine rauchen gegangen?« fragte der Posten.
»Mhm, hab nicht schlafen können«, sagte der Mann in einem Dialekt, der ihn als einen Mann aus dem Südwesten auswies.
»Diese Scheißpritschen sind für alles mögliche gemacht, bloß schlafen kann man darauf nicht. Brauchst dich bloß auf eine zu setzen, dann weißt du Bescheid ... He, Augenblick! Wer, zum Teufel, bist du denn?«
Der Ledernacken bekam keine Chance, den Karabiner in Anschlag zu bringen. Der Eindringling machte einen Satz und trieb dem Posten das Messer mit tödlicher Akkuratesse in die Kehle und schnitt jeden Laut und alles Leben damit ab. Dann zerrte der Killer die Leiche schnell um die Ecke und ließ sie im Schatten liegen. Er wischte sein Messer an der Uniform des Toten ab, steckte es sich wieder unter den Uniformrock, an der rechten Hüfte unter dem Gürtel, und kehrte zu den Verandatüren zurück. Er betrat das Haus.
Jetzt ging er durch den langen, nur schwach beleuchteten Korridor, an dessen Ende ein dritter Ledernacken vor einer breiten geschnitzten Tür stand. Der Posten ließ den Karabiner sinken und sah auf die Uhr. »Du kommst früh«, sagte er. »Ich soll erst in einer Stunde und zwanzig Minuten abgelöst werden.«
»Ich gehöre nicht zu dieser Einheit, Kumpel.«
»Bist du aus der Gruppe von Oahu?«
»Yeah.« »Ich dachte, die hätten euch Witzbolde schleunigst hier weggeschafft und zurück nach Hawaii. So heißt es wenigstens.«
»Ein paar von uns haben Befehl bekommen, hierzubleiben. Wir sind jetzt unten im Konsulat. Dieser Typ, wie heißt er doch gleich, McAllister, hat uns die ganze Nacht lang verhört.«
»Das ist mal eine gottverflucht beschissene Geschichte, Kumpel!«
»Das kannst du laut sagen. Übrigens, wo hat denn dieser Knallkopf sein Büro? Er hat mich hier heraufgeschickt, damit ich ihm seine Spezialmischung Pfeifentabak bringe.«
»Das paßt zu dem. Kannst ihm ja eine Prise Hasch reintun.«
»Welches Büro?«
»Ich hab ihn vorher mit dem Arzt durch die erste Tür rechts gehen sehen. Dann, später, ehe er weggegangen ist, ist er hier hineingegangen.« Der Wachposten deutete mit einer Kopfbewegung auf die Tür hinter sich.
»Wem gehört denn die Bude hier?«
»Ich weiß nicht, wie er heißt, aber er ist hier der große Macker. Die nennen ihn den Botschafter.«
Die Augen des Killers verengten sich. »Botschafter?«
»Yeah. Aber das ist hier alles im Eimer. Dieser Scheißverrückte hat hier alles in die Luft gepustet, aber der Safe ist noch intakt, deshalb bin ich hier, und noch einer, der draußen in den Tulpenbeeten Wache hält. Ich schätze, die haben ein paar Millionen für einen Sonderetat lockergemacht.«
»Oder für sonst etwas«, sagte der Eindringling leise. »Die erste Tür rechts, hm?« fügte er hinzu, drehte sich um und griff unter seinen Uniformrock.
»Mal langsam«, sagte der Ledernacken. »Warum haben die vom Tor nicht Bescheid gesagt?« Er griff nach dem Funkgerät, das er am Koppel trug. »Tut mir leid, aber ich muß dich überprüfen lassen, Kumpel. Das ist Vorschrift -«
Der Killer warf sein Messer. Während es sich dem Posten in die Brust bohrte, warf er sich auf ihn und drückte ihm mit den Daumen die Kehle ein. Dreißig Sekunden später öffnete er die Tür von Havillands Büro und zerrte den Toten hinein.
Sie gingen in völliger Dunkelheit über die Grenze; anstelle der zerknitterten, unauffälligen Kleider, die sie vorher angehabt hatten, trugen sie jetzt Straßenanzüge und Regimentskrawatten. Jeder hatte einen Attachekoffer bei sich, mit dem Diplomatensiegel gesichert, das für Grenzwachen tabu war. In Wahrheit enthielten die Koffer ihre Waffen und einige weitere Gegenstände, die Borowski aus d'Anjous Wohnung geholt hatte, nachdem McAllister das geheiligte Siegel rausgerückt hatte, das selbst die Volksrepublik respektierte - so lange wenigstens, wie China den Wunsch hatte, daß man seinem Personal im Auswärtigen Dienst dieselbe Höflichkeit erwies. Der V-Mann aus Macao, der den Namen Wong trug - den hatte er wenigstens genannt -, war von den Diplomatenpässen gebührend beeindruckt, hatte sich aber um der Sicherheit willen als auch wegen der zwanzigtausend Dollar, die für ihn, wie er behauptete, eine moralische Verpflichtung darstellten, dazu entschlossen, den Grenzübergang auf seine Weise vorzubereiten.
»Es ist nicht so schwierig, wie ich früher vielleicht behauptet habe, Sir«, erklärte Wong. »Zwei der Grenzwachen sind meine Vettern mütterlicherseits - möge die Seele meiner Mutter in Frieden ruhen -, und wir helfen einander. Ich tue mehr für sie als sie für mich, aber ich bin ja auch in der besseren Position. Sie essen besser als die meisten in der Stadt Zhuhai Shi, und beide haben Fernsehgeräte.«
»Wenn das Ihre Vettern sind«, sagte Jason, »warum waren Sie dann gegen die Uhr, die ich einem der beiden das letztemal gegeben habe? Sie haben gesagt, die sei zu teuer.«
»Weil er sie verkaufen wird, Sir, und ich möchte nicht, daß er verdorben wird. Er erwartet dann von mir zuviel.«
Und so, dachte Borowski, wurde die strengste Grenze der Welt bewacht. Aber wie dem auch sei, Wong bedeutete ihnen, um Punkt 20.55 Uhr durch das letzte Tor rechts zu gehen; er selbst würde ein paar Minuten später durch ein anderes Tor gehen. Ihre Pässe mit den roten Streifen wurden genau studiert; dann ließ man die geehrten Diplomaten, begleitet vom Lächeln eines Vetters, schnell passieren. Die Präfektin der Provinzkontrolle von Zhuhai Shi-Guangdong, die ihnen die Pässe zurückgab, hieß sie sofort in China willkommen. Es handelte sich um eine kleine, breitschultrige Frau, und Jason überlegte, daß er ihr nicht im Nahkampf würde gegenübertreten wollen. Sie sprach englisch mit ausgeprägtem Akzent, aber verständlich.
»Sie haben Regierungsgeschäfte in Zhuhai Shi?« fragte sie, und ihre umwölkten, irgendwie feindselig blickenden Augen straften ihr Lächeln Lügen. »Die Garnison von Guangdong vielleicht? Dort kann ich Ihnen einen Wagen besorgen.«
»Bu xiexie«, sagte der Staatssekretär ablehnend und ging wieder auf das Englische über, um der Höflichkeit seiner Gastgeberin Respekt zu erweisen. »Es handelt sich um eine Besprechung ohne große Bedeutung, die nur ein paar Stunden dauern wird, und wir werden noch im Laufe der Nacht nach Macao zurückkehren. Man wird hier Kontakt mit uns aufnehmen, also werden wir bei einer Tasse Kaffee darauf warten.«
»Darf ich Sie in mein Büro bitten?«
»Nein, danke. Ihre Leute werden nach uns im ... Kafie dian -in dem Cafe suchen.«
»Dort drüben links, Sir. An der Straße. Nochmals willkommen in der Volksrepublik.«
»Wir werden Ihre Höflichkeit nicht vergessen«, sagte McAllister und verbeugte sich.
»Seien Sie bedankt«, erwiderte die stämmige Frau, nickte und entfernte sich.
»Mit Ihren Worten, Analytiker«, sagte Borowski, »das haben Sie sehr gut gemacht. Aber ich sollte vielleicht hinzufügen, daß sie nicht auf unserer Seite ist.«
»Natürlich nicht«, pflichtete der Staatssekretär ihm bei. »Sie hat Anweisung, jemand hier in der Garnison oder in Beijing anzurufen und zu bestätigen, daß wir die Grenze überschritten haben. Dieser Jemand wird mit Sheng Verbindung aufnehmen, und er wird wissen, daß ich es bin - und Sie. Niemand sonst.«
»Er sitzt bereits im Flugzeug«, sagte Jason, während sie langsam auf das schwach beleuchtete Cafe am Ende eines plattenbelegten Weges zugingen, der in die Straße einmündete. »Er ist hierher unterwegs. Übrigens, man wird uns folgen, das wissen Sie doch, oder?«
»Nein, das weiß ich nicht«, antwortete McAllister und sah Borowski kurz an. »Sheng wird vorsichtig sein. Ich habe ihm genügend Informationen gegeben, um ihn zu beunruhigen. Wenn er glaubte, daß es nur eine Akte gäbe - was zufälligerweise der Fall ist -, könnte er Risiken eingehen, in der Meinung, er könne sie mir abkaufen und mich dann umbringen. Aber er meint oder muß annehmen, daß es in Washington eine Kopie gibt. Er will, daß sie vernichtet wird. Er wird nichts unternehmen, um mich zu beunruhigen oder mich in Panik zu versetzen. Vergessen Sie nicht, ich bin der Amateur und bekomme schnell Angst. Ich kenne ihn. Er hat sich inzwischen alles zusammengereimt und trägt wahrscheinlich mehr Geld bei sich, als ich mir je erträumt habe. Natürlich geht er davon aus, daß er es zurückbekommt, sobald die Akten vernichtet sind und er mich umbringt. Sie sehen also, ich habe ein sehr gutes Motiv dafür, daß meine Mission nicht scheitert - oder keinen Erfolg hat, indem sie scheitert.«
Wieder starrte der Mann von Medusa den Mann aus Washington an. »Sie haben sich das alles wirklich gründlich überlegt, nicht wahr?«
»Sehr gründlich«, antwortete McAllister und blickte geradeaus. »Wochenlang, jede Einzelheit. Offen gestanden, hatte ich nicht gedacht, daß Sie beteiligt sein würden, weil ich dachte, Sie würden bis dahin tot sein. Aber ich wußte, daß ich Sheng erreichen konnte. Irgendwie - natürlich inoffiziell. Jede offizielle Begegnung, selbst ein vertrauliches Gespräch, würde nach protokollarischen Vorschriften ablaufen, und selbst wenn ich ihn unter vier Augen sprechen könnte, ohne seine Adjutanten, dürfte ich ihn nicht einmal anfassen. Sonst sähe das Ganze wie ein von der Regierung sanktionierter Mord aus. Ich habe überlegt, ihn direkt anzusprechen, sozusagen um der alten Zeiten willen, und dabei Worte zu gebrauchen, die eine Reaktion auslösen würden - so ähnlich, wie ich das gestern nacht getan habe. Wie Sie zu Havilland sagten, die einfachsten Wege sind gewöhnlich die besten. Wir neigen dazu, die Dinge zu komplizieren.«
»Zu Ihren Gunsten spricht, daß das häufig auch sein muß. Man darf sich schließlich nicht mit einer rauchenden Pistole in der Hand erwischen lassen.«
»Was für ein abgedroschener Ausdruck«, sagte der Analytiker und lachte spöttisch. »Was bedeutet er eigentlich? Daß man Sie in die Irre geführt hat, daß Sie einen belanglosen Fehler begangen haben, der doch Konsequenzen hatte? In der Politik geht es nicht darum, daß ein einzelner sich in eine peinliche Situation gebracht hat. Das Geschrei der Leute nach Rechtschaffenheit widert mich immer wieder an, wo die meisten doch gar keine Vorstellung davon haben, wie wir vorgehen müssen.«
»Vielleicht wollen die Leute hie und da einfach nur eine ehrliche Antwort.«
»Die können sie nie kriegen«, sagte McAllister, als sie auf die Tür des Cafes zugingen, »weil sie die nicht verstehen könnten.«
Borowski blieb vor der Tür stehen. »Sie sind blind«, sagte er, und sein Blick bohrte sich in den des Staatssekretärs. »Man hat mir auch keine ehrliche Antwort gegeben, geschweige denn eine Erklärung. Sie sind zu lange in Washington gewesen. Sie sollten es einmal mit ein paar Wochen in Cleveland probieren oder mit Bangor, Maine. Das könnte Ihnen andere Perspektiven verschaffen.«
»Halten Sie mir keine Vorträge, Mr. Borowski. Weniger als sechsundvierzig Prozent unserer Bevölkerung sind daran interessiert, ihre Stimme bei der Wahl abzugeben - und bei dieser Wahl wird entschieden, welche Richtung unser Land einschlagen soll. Das bleibt alles uns überlassen - den Wichtigtuern und den professionellen Bürokraten. Wir sind alles, was ihr habt... Können wir jetzt bitte hineingehen? Ihr Freund Mr. Wong hat gesagt, wir sollten nur kurz drin bleiben, Kaffee trinken und dann wieder auf die Straße gehen. Er hat gesagt, er würde uns in genau fünfundzwanzig Minuten treffen, und zwölf davon sind bereits verstrichen.«
»Zwölf? Nicht zehn oder fünfzehn, sondern zwölf?«
»Exakt.«
»Was tun wir, wenn er sich um zwei Minuten verspätet? Erschießen wir ihn dann?«
»Sehr komisch«, sagte der Analytiker und stieß die Tür auf.
Sie verließen das Cafe und traten hinaus auf das dunkle, abgetretene Pflaster an der Grenzstation von Guangdong. Da an der Grenze wenig Betrieb herrschte, waren höchstens ein Dutzend Leute zu sehen, die über die Grenze kamen und in der
Finsternis verschwanden. Von den drei Straßenlampen in der unmittelbaren Umgebung funktionierte nur eine und verstrahlte ihr schwaches Licht. Die Sicht war schlecht. Fünfundzwanzig Minuten verstrichen, dehnten sich zu dreißig, wurden schließlich achtunddreißig. Jetzt sprach Borowski.
»Irgend etwas stimmt nicht. Er hätte inzwischen Kontakt aufnehmen sollen.«
»Zwei Minuten Verspätung, und wir erschießen ihn?« sagte McAllister, und dann mißfiel ihm sofort sein Versuch, witzig zu sein. »Ich meine, ich habe den Eindruck gewonnen, alles käme darauf an, ruhig zu bleiben.«
»Wenn es um zwei Minuten geht, aber nicht um fast fünfzehn«, erwiderte Jason. »Das ist nicht normal«, fügte er leise hinzu, wie im Selbstgespräch. »Andererseits könnte es ganz normal abnormal sein. Er möchte, daß wir Kontakt mit ihm aufnehmen.«
»Ich verstehe nicht -«
»Das brauchen Sie nicht. Gehen Sie einfach neben mir her, so als würden wir planlos dahinschlendern, um uns die Zeit zu vertreiben, bis man uns abholt. Wenn sie uns sieht, wird die Damenringkämpferin nicht überrascht sein. Chinesische Beamte kommen notorisch zu spät; sie haben das Gefühl, daß ihnen das einen Vorteil einbringt.«
»>Laß sie schwitzen?««
»Genau. Nur daß wir uns jetzt nicht mit dem treffen, der das gesagt hat. Kommen Sie, gehen wir nach links; dort ist es dunkler. Geben Sie sich ganz locker; reden Sie über das Wetter, irgend etwas. Nicken Sie, schütteln Sie den Kopf, zucken Sie die Achseln - lauter ganz unauffällige Bewegungen.«
Sie gingen etwa fünfzehn Meter weit, und dann geschah es. »Kam Pek!« Der Name des Casinos klang im Flüsterton aus den Schatten hinter einem verlassenen Zeitungsstand.
»Wong?«
»Bleiben Sie, wo Sie sind, und tun Sie so, als würden Sie sich unterhalten, aber hören Sie mir zu!«
»Was ist geschehen?«
»Man folgt Ihnen.«
»Zwei Punkte für einen superschlauen Bürokraten«, sagte Jason. »Haben Sie einen Kommentar, Herr Staatssekretär?«
»Das kommt unerwartet, ist aber nicht unlogisch«, antwortete McAllister. »Eine Sicherheitsmaßnahme vielleicht. Wie wir wissen, wimmelt es hier ja von falschen Pässen.«
»Aber die Ringerin hat uns doch schließlich überprüft.«
»Dann ist das vielleicht, um sicherzustellen, daß wir uns nicht mit der Art von Leuten zusammentun, die Sie gestern nacht vorgeschlagen haben«, flüsterte der Analytiker, so leise, daß der chinesische V-Mann ihn nicht hören konnte.
»Das wäre möglich.« Borowski hob die Stimme etwas, so daß der V-Mann ihn verstand. Er sah zu der Grenze hinüber. Dort war niemand zu sehen. »Wer folgt uns?«
»Das Schwein.«
»Soo?«
»Ganz richtig, Sir. Deshalb darf ich mich auch nicht blicken lassen.«
»Sonst noch jemand?«
»Niemand, den ich sehen könnte, aber ich weiß nicht, wer auf der Straße zu den Bergen wartet.«
»Ich werde ihn erledigen«, sagte der Mann von Medusa, der einmal Delta geheißen hatte.
»Nein!« wandte McAllister ein. »Er hat vielleicht Anweisung von Sheng, sicherzustellen, daß wir allein bleiben, daß wir uns nicht mit anderen treffen. Sie haben gerade selbst gesagt, daß das möglich sei.« »Das könnte er nur, indem er selbst andere kontaktiert. Das kann er nicht ... wenn er es nicht kann. Und Ihr alter Freund würde ganz bestimmt keinen Funkkontakt zulassen, solange er in einem Flugzeug oder einem Helikopter sitzt. Der könnte angepeilt werden.«
»Und wenn spezielle Signale verabredet sind - eine Leuchtrakete zum Beispiel, oder eine nach oben gerichtete Taschenlampe, um dem Piloten zu sagen, daß alles klar ist?«
Jason sah den Analytiker an. »Sie denken wirklich alles zu Ende.«
»Es gibt eine Möglichkeit«, sagte Wong aus dem Schatten heraus, »und das ist ein Privileg, das ich mir selbst vorbehalten möchte, ohne Aufpreis.«
»Was für ein Privileg?«
»Ich werde das Schwein töten. Es wird in einer Art und Weise geschehen, die Sie nicht kompromittiert.«
»Was?« Der erstaunte Borowski wollte sich umdrehen.
»Bitte, Sir! Sie müssen geradeaus sehen.«
»Entschuldigung. Aber warum?«
»Er treibt wahllos Unzucht und bedroht die Frauen, die er beglückt, damit, daß sie und ihre Männer ihre Stellungen verlieren, und ihre Brüder und Vettern auch. In den letzten vier Jahren hat er über viele Familien Schande gebracht, darunter auch über die Familie meiner Mutter.«
»Warum hat man ihn nicht schon lange umgebracht?«
»Er ist immer mit bewaffneten Wachen unterwegs, selbst in Macao. Trotzdem sind schon einige Attentate auf ihn verübt worden. Aber die haben jedesmal zu Repressalien geführt.«
»Repressalien?« fragte McAllister leise.
»Leute wurden verhaftet, wiederum wahllos, und man warf ihnen vor, sie hätten Vorräte und Material aus der Garnison gestohlen. Die Strafe für derartige Verbrechen ist Tod durch Genickschuß in den Feldern.«
»Heiland«, murmelte Borowski. »Ich werde keine Fragen stellen. Sie haben Grund genug. Aber wie wollen Sie es anstellen?«
»Er hat diesmal keine Wachen bei sich. Vielleicht warten sie auf der Straße in die Berge auf ihn. Aber jetzt sind sie nicht bei ihm. Sie setzen sich in Bewegung, und wenn er Ihnen folgt, werde ich ihm folgen. Wenn er Ihnen nicht folgt, werde ich wissen, daß Ihre Reise nicht unterbrochen werden wird, dann werde ich nachkommen.«
»Nachkommen?« Borowski runzelte die Stirn.
»Nachdem ich das Schwein getötet habe, und seine Schweineleiche an einem angemessenen und für ihn schändlichen Ort hinterlassen habe. Auf der Frauentoilette.«
»Und wenn er uns folgt?« fragte Jason.
»Dann wird sich mir eine Gelegenheit bieten, während ich für Sie die Augen offenhalte. Ich werde seine Wachen sehen, aber sie werden mich nicht sehen. Ganz gleich, was er tut, es wird einen Augenblick geben, wo er sich von seinen Wachen trennt, und wenn auch nur ein paar Schritte weit. Das wird reichen, und man wird dann annehmen, daß er Schande über einen seiner Männer gebracht hat.«
»Dann gehen wir jetzt.«
»Sie kennen den Weg, Sir.«
»Als ob ich eine Karte hätte.«
»Ich treffe mich mit Ihnen am Fuß des ersten Hügels hinter dem hohen Gras. Erinnern Sie sich?«
»Das wäre schwer, die Stelle zu vergessen. Ich hätte mir dort fast ein Grab in China eingehandelt.«
»Nach sieben Kilometern biegen Sie in den Wald ab, auf die Wiesen zu.«
»Das habe ich vor. Sie haben mich das gelehrt. Gute Jagd, Wong.«
»Danke, Sir, die werde ich haben. Grund genug dafür habe ich.«
Die zwei Amerikaner schritten über den ramponierten Platz, entfernten sich aus dem schwachen Licht und traten in völlige Dunkelheit. Eine korpulente Gestalt in Zivilkleidung beobachtete sie aus dem Schutz, den der Schatten eines Betontunnels ihm bot. Er sah auf die Uhr und nickte dann mit einem schwachen Lächeln zufrieden. Dann drehte Oberst Soo Jiang sich um und ging durch den Tunnel in den Gebäudekomplex des Grenzübergangs zurück - eiserne Tore, hölzerne Wachhäuschen und Stacheldraht in der Ferne, alles in stumpfgraues Licht getaucht. Die Präfektin der Zhuhai-Shi-Guangdong-Provinzkontrolle, die mit fast männlich wirkenden Schritten begeistert auf ihn zuging, begrüßte ihn.
»Das müssen sehr wichtige Männer sein, Oberst«, sagte die Präfektin mit einem Blick, der gar nicht feindselig wirkte, sondern eher blinde Verehrung ausdrückte. Und Furcht.
»Oh, das sind sie, das sind sie wirklich«, pflichtete der Oberst ihr bei.
»Das müssen sie ganz sicherlich sein, wenn sich ein so bedeutender Offizier wie Sie so um sie kümmert. Ich habe das Telefongespräch mit dem Mann in Guangzhou geführt, wie Sie das verlangt haben, und er hat mir gedankt, aber er hat nicht nach meinem Namen gefragt -«
»Ich werde dafür sorgen, daß er ihn erfährt«, unterbrach sie Jiang müde.
»Und ich werde dafür sorgen, daß nur meine besten Leute an den Toren sind, um sie zu begrüßen, wenn sie heute nacht nach Macao zurückkehren.«
Soo sah die Frau an. »Das ist nicht nötig. Man wird sie nach Beijing bringen, zu streng geheimen Konferenzen auf höchster Ebene. Meine Anweisung lautet, daß ich alle Aufzeichnungen entfernen muß, aus denen hervorgeht, daß sie die Grenze von Guangdong überquert haben.«
»So vertraulich ist das?«
»Ja, allerdings, Genossin. Es handelt sich um geheime Staatsgeschäfte, und Sie müssen dafür sorgen, daß sie selbst gegenüber Ihren engsten Vertrauten geheim bleiben. hr Büro bitte.«
»Sofort«, sagte die breitschultrige Frau und machte militärisch kehrt. »Ich habe Tee oder Kaffee, ja sogar britischen Whisky aus Hongkong.«
»Ah ja, britischen Whisky. Darf ich Sie begleiten, Genossin? Meine Arbeit ist beendet.«
Die beiden etwas grotesk wirkenden Gestalten, die in eine Wagneroper gepaßt hätten, marschierten in einer Art watschelndem Gleichschritt auf die schmutzige Glastür zum Büro der Präfektin zu.
»Zigaretten!« flüsterte Borowski und packte McAllister an der Schulter.
»Wo?«
»Dort vorne, etwas abseits von der Straße, links, im Wald!«
»Die habe ich nicht gesehen.«
»Sie haben auch nicht darauf geachtet. Wer dort raucht, hält die Hand darüber, aber sie sind trotzdem da. Die Baumrinde wird einen kurzen Augenblick lang beleuchtet, und dann ist sie wieder dunkel. Kein Rhythmus, unregelmäßig. Rauchende Männer. Manchmal glaube ich, daß die hier im Osten vom Rauchen noch besessener sind als von Sex.«
»Was tun wir jetzt?«
»Genau das, was wir jetzt auch tun, nur lauter.«
»Was?«
»Gehen Sie einfach weiter und sagen Sie irgend etwas, was Ihnen gerade in den Sinn kommt, die werden das nicht verstehen. Sie haben sicher einmal Hiawatha auswendig gelernt oder Horatio auf der Brücke oder in Ihrer wilden Zeit auf dem College vielleicht Aura Lee. Sie brauchen nicht zu singen, sagen Sie einfach den Text auf. Das wird sie ablenken.«
»Aber warum?«
»Weil das genau das ist, was Sie vorhergesagt haben. Sheng vergewissert sich, daß wir uns niemandem anschließen, der ihm gefährlich werden könnte. Und in dieser Sicherheit wollen wir ihn wiegen, okay?«
»Großer Gott! Und wenn jetzt einer von denen Englisch spricht?«
»Das ist unwahrscheinlich, aber wenn Ihnen das lieber ist, könnten wir ja auch ein Gespräch improvisieren.«
»Nein, darauf verstehe ich mich nicht. Ich mag keine Partys und keine gesellschaftlichen Veranstaltungen, ich weiß nie, was ich sagen soll.«
»Deshalb habe ich ja vorgeschlagen, daß Sie einen Text aufsagen. Und jedesmal, wenn Sie eine Pause machen, werde ich Sie unterbrechen. Nur los jetzt, sprechen Sie ganz beiläufig, aber schnell. Dies ist nicht der Ort für chinesische Gelehrte, die schnelles Englisch verstehen ... Jetzt sind die Zigaretten ausgegangen. Sie haben uns entdeckt! Los!«
»O Gott ... Also gut. Äh, äh ... >Auf O'Reillys Veranda, bei Whisky und Bier -<«
»Sehr gut!« sagte Jason und funkelte seinen Schüler an.
»Da dachte ich mir plötzlich, war's denn nicht ergötzlich, die Tochter O'Reillys -«
»Aber Edward, Sie überraschen mich immer wieder aufs neue.«
»Das ist ein altes Lied unserer Verbindung«, flüsterte der Analytiker.
»Was? Ich kann Sie nicht hören, Edward, lauter.«
»Tatumta, tatumta, tatuta, tati, und Reilly, der alte -«
»Einfach klasse!« unterbrach ihn Borowski, als sie an dem Waldstück vorbeikamen, wo vor Sekunden Männer hinter Bäumen verborgen geraucht hatten. »Ich glaube, Ihr Freund wird durchaus Ihrer Ansicht sein. Sonst noch eine Idee?«
»Ich hab den Text vergessen.«
»Eine Idee, meinen Sie. Die fällt Ihnen sicher wieder ein.«
»Es hatte irgend etwas mit >Reilly der Alte< zu tun ... O ja, jetzt fällt es mir wieder ein. >Und als dann der ganze Spaß endlich um war, kam Reilly ... tatumta, tatumta - die Knarre im Arm<, jetzt ist es mir wieder eingefallen.«
»Sie gehören wirklich in ein Museum, falls Ripley eines besitzt ... Aber sehen Sie es einmal so, Sie können sich ja das ganze Projekt in Macao näher ansehen.«
»Was für ein Projekt ... Da war noch ein so blödes Lied, das wir immer gegrölt haben. >Hundert Flaschen Bier im Schrank, hundert Flaschen Bier. Und eine fällt runter-< O Gott, wie lang das her ist, richtig albern war das, und endlos - neunundneunzig Flaschen Bier im Schrank< -«
»Vergessen Sie's, jetzt können die uns nicht mehr hören.«
»Oh? Gott sei Dank!«
»Das klang ganz herrlich. Wenn einer dieser Witzbolde auch nur ein Wort Englisch verstanden hat, dann sind die jetzt noch konfuser als ich. Gut gemacht, Analytiker. Kommen Sie, gehen wir jetzt schneller.«
McAllister sah Jason an. »Sie haben das absichtlich getan, nicht wahr? Mich bedrängt, mich an etwas zu erinnern - irgend
etwas -, weil Sie wußten, daß ich mich dann konzentrieren und nicht in Panik geraten würde.«
Borowski gab darauf keine Antwort; er traf einfach eine Feststellung. »Noch hundert Fuß, und dann gehen Sie allein weiter.«
»Was? Sie wollen mich allein lassen?«
»Auf zehn, vielleicht auch fünfzehn Minuten. Hier gehen Sie weiter und halten Sie den Arm hoch, damit ich meinen Aktenkoffer darauf stützen und das verdammte Ding aufmachen kann.«
»Wo gehen Sie denn hin?« fragte der Staatssekretär, während der Aktenkoffer etwas unsicher auf seinem linken Arm ruhte. Jason klappte ihn auf, holte ein Messer mit langer Klinge heraus und schloß den Koffer wieder. »Sie dürfen mich jetzt nicht allein lassen!«
»Keine Sorge, niemand will Sie aufhalten - uns aufhalten. Wenn die das wollten, hätten sie es schon getan.«
»Sie meinen, das hätte ein Überfall sein können.«
»Ich habe mich auf Ihren analytischen Verstand verlassen und darauf, daß das keiner sein würde. Nehmen Sie den Koffer.«
»Aber was haben Sie -«
»Ich muß sehen, was dort hinten ist. Gehen Sie ruhig weiter.«
Der Mann von Medusa bog nach links ab und betrat an einer Straßenbiegung das Waldstück. Im schnellen Lauf, lautlos und instinktiv dem dichten Unterholz ausweichend, bewegte er sich in einem weiten Halbkreis nach rechts. Minuten später sah er das Glühen von Zigaretten und kroch jetzt wie eine große Katze auf die Gruppe von Männern zu, bis er nur noch drei Meter von ihnen entfernt war. Das schwache Mondlicht, das durch die Zweige über ihm gefiltert wurde, reichte aus, sie zählen zu können. Es waren sechs, und jeder war mit einer leichten Maschinenpistole bewaffnet, die er am Schulterriemen trug...
Und da war noch etwas, etwas, das ihn verblüffte. Jeder der Männer trug die gut geschnittene Uniform mit den vier Taschen, wie sie hohe Offiziere in der Armee der Volksrepublik trugen. Und nach den Gesprächsfetzen zu schließen, die er hören konnte, sprachen sie Mandarin, nicht Kantonesisch, wie es normalerweise Soldaten, ja selbst Offiziere der Garnison von Guangdong sprachen. Diese Männer waren nicht aus Guangdong. Sheng hatte seine Elitegarde eingeflogen.
Plötzlich schnippte einer der Offiziere sein Feuerzeug an und sah auf die Uhr. Borowski studierte das Gesicht über der Flamme. Er kannte es, und sein Anblick bestätigte seine Vermutung. Es war das Gesicht des Mannes, der versucht hatte, Echo auszuhorchen, indem er sich in jener schrecklichen Nacht als Gefangener auf dem Lastwagen ausgegeben hatte, der Offizier, den Sheng mit einem gewissen Maß von Achtung behandelt hatte. Ein cleverer Killer, mit weicher Stimme.
»Xian zai«, sagte der Mann und verkündete damit, daß der Augenblick gekommen sei. Er hob ein Funkgerät auf und sprach. »Da U shi, da U shi!« Er bellte es förmlich und rief seinen Verbindungsmann mit dem Codezeichen Marmor. »Sie sind allein, da ist sonst niemand. Wir werden jetzt weisungsgemäß handeln. Warten Sie das Signal ab.«
Die sechs Offiziere standen gleichzeitig auf, schoben sich die Waffen zurecht und traten ihre Zigaretten aus. Dann eilten sie auf den Weg zu.
Borowski entfernte sich auf Händen und Knien, sprang dann auf und rannte durch den Wald. Er mußte McAllister erreichen, ehe Shengs Leute ihn einholten und im Mondlicht sahen, daß er allein war. Wenn die Wachen unruhig wurden, könnten sie sonst ein anderes Signal aussenden - Konferenz geplatzt. Er erreichte die Straßenbiegung und rannte noch schneller, sprang über heruntergefallene Zweige, die andere gar nicht gesehen hätten, glitt zwischen Lianen und Sträuchern durch, mit denen andere nicht gerechnet hätten. In weniger als zwei Minuten sprang er lautlos dicht neben McAllister aus dem Wald.
»Du lieber Gott!« stöhnte der Staatssekretär.
»Seien Sie still!«
»Sie sind wahnsinnig!«
»Das sagen ausgerechnet Sie.«
McAllister reichte Jason stumm und mit zitternden Händen seinen Aktenkoffer. Nach ein paar Augenblicken fügte er hinzu: »Wenigstens ist das hier nicht explodiert.«
»Ich hätte Ihnen sagen sollen, daß Sie ihn nicht fallen lassen dürfen.«
»O Gott!... Sollten wir nicht von der Straße verschwinden? Wong hat gesagt -«
»Das können Sie vergessen. Wir bleiben jetzt deutlich sichtbar, bis wir das Feld auf dem zweiten Hügel erreichen, und dann werden Sie besser zu sehen sein als ich. Schnell. Jetzt wird dann irgendein Signal gegeben werden, und das bedeutet, daß Sie wieder recht hatten. Ein Pilot wird Landefreigabe erhalten -aber nicht über Funk, nur durch ein Lichtsignal.«
»Wir sollen uns doch irgendwo mit Wong treffen. Am Fuß des ersten Hügels hat er, glaube ich, gesagt.«
»Wir werden ihm ein paar Minuten Zeit lassen, aber ich glaube, ihn können wir auch vergessen. Er wird das sehen, was ich gesehen habe, und ich würde dann an seiner Stelle so schnell wie möglich nach Macao zurückrennen, zu den zwanzigtausend Dollar, die dort auf mich warten, und behaupten, ich hätte mich verlaufen.«
»Was haben Sie denn gesehen?«
»Sechs Männer mit so viel Munition, daß sie einen ganzen Berg entlauben könnten.«
»Mein Gott, da kommen wir nie raus!«
»Sie sollten noch nicht aufgeben. Ich hatte mir das auch überlegt.« Borowski wandte sich McAllister zu und beschleunigte das Tempo. »Andererseits«, fügte er hinzu, und in seiner Stimme klang jetzt tödlicher Ernst, »das Risiko war immer da - wenn wir nach Ihrem Plan handeln.«
»Ja, ich weiß. Ich werde auch nicht durchdrehen. Ganz bestimmt nicht.« Jetzt war der Wald plötzlich zu Ende; der Weg führte quer durch hohe Wiesen. »Weshalb meinen Sie, daß diese Leute hier sind?« fragte der Analytiker.
»Zur Sicherheit, falls es eine Falle geben sollte, und das würde jeder in diesem Geschäft annehmen. Das habe ich Ihnen gesagt, und Sie wollten mir nicht glauben. Aber wenn einiges von dem stimmt, was Sie gesagt haben, und ich glaube, daß das der Fall ist, dann werden die sich nicht blicken lassen - um sicherzugehen, daß Sie nicht in Panik geraten und wegrennen. Wenn das der Fall ist, dann ist das unser Fluchtweg.«
»Wie denn?«
»Sie gehen nach rechts, quer über die Wiese«, erwiderte Jason, ohne damit die Frage zu beantworten. »Ich lasse Wong fünf Minuten Zeit, es sei denn, wir entdecken irgendwo ein Signal oder hören ein Flugzeug, aber keine Sekunde länger. Und auch nur deshalb so lange, weil ich wirklich das Augenpaar haben möchte, für das ich bezahlt habe.«
»Könnte er um diese Männer herumkommen, ohne gesehen zu werden?«
»Ja, falls er nicht schon nach Macao unterwegs ist.«
Sie erreichten das Ende der Wiese und damit den Ansatz des ersten Hügels, der mit Bäumen bestanden war. Borowski sah auf die Uhr und blickte dann zu McAllister hinüber. »Gehen wir dort hinauf, damit man uns nicht mehr sieht«, sagte er und wies auf die Bäume über ihnen. »Ich bleibe hier; Sie gehen weiter hinauf, aber nicht auf die Wiese, lassen Sie sich nicht sehen, halten Sie sich am Rand. Wenn Sie irgendwelche Lichter sehen oder ein Flugzeug hören, dann pfeifen Sie. Sie können doch pfeifen, oder?«
»Eigentlich nicht besonders gut. Als die Kinder noch klein waren und wir einen Hund hatten, einen Cockerspaniel -«
»Ach du meine Güte! Dann werfen Sie Steine, das werde ich hören. Los jetzt!«
»Ja, ich verstehe. Los.«
Delta - denn jetzt war er Delta - begann seine Wache. Immer wieder schoben sich tiefliegende Wolken vor die Mondsichel, und er mußte die Augen zusammenkneifen, damit ihm nichts entging, damit er bemerkte, wenn sich irgend etwas vor die monotone Silhouette der Wiese schob, wenn sich Grashalme bogen und sich auf den Hügel zu bewegten, auf ihn zu. Drei Minuten verstrichen, und er glaubte schon, das Ganze sei Zeitvergeudung, als plötzlich ein Mann zu seiner Rechten aus dem Gras heraustaumelte und auf das Unterholz zustrebte. Borowski ließ den Aktenkoffer los und zog das lange Messer aus dem Gürtel.
»Kam Pek!« flüsterte der Mann.
»Wong?«
»Ja, Sir«, sagte der V-Mann und ging um die Baumstämme herum, näherte sich Jason. »Sie begrüßen mich mit einem Messer?«
»Dort hinten gibt es ein paar andere Leute, und ich habe offengestanden nicht geglaubt, daß Sie auftauchen würden. Ich habe Ihnen gesagt, daß Sie aussteigen dürfen, falls das Risiko zu groß wird. Ich hatte nicht erwartet, daß das so früh passieren würde, aber ich hätte das akzeptiert. Was die dort tragen, sind recht eindrucksvolle Waffen.«
»Ich hätte die Situation ausnützen können, aber außer dem Geld haben Sie mir die Möglichkeit gegeben, etwas sehr
Befriedigendes zu tun. Für mich und viele andere auch. Mehr Leute, als Sie sich vorstellen können, werden dankbar sein.«
»Soo, das Schwein?«
»Ja, Sir.«
»Warten Sie«, sagte Borowski erschrocken. »Warum sind Sie so sicher, daß die glauben werden, einer jener Männer hätte es getan?«
»Welche Männer?«
»Die Streife mit Maschinenpistolen dort hinten! Die sind nicht aus Guangdong, nicht aus der Garnison. Die sind aus
Beijing!«
»Es ist in Zhuhai Shi geschehen. Am Tor.«
»Zur Hölle mit Ihnen! Jetzt haben Sie alles auffliegen lassen! Die haben auf Soo gewartet!«
»Wenn das so ist, Sir, wäre er sowieso nicht gekommen.«
»Warum?«
»Er war dabei, sich mit der Präfektin zu betrinken. Er hatte den Raum verlassen, um sich zu erleichtern, und da habe ich ihn gestellt. Jetzt liegt er nebenan, in einer schmutzigen Frauentoilette, mit durchgeschnittener Kehle und abgeschnittenen Genitalien.«
»Du lieber Gott ... Dann ist er uns nicht gefolgt.«
»Nein, er machte auch keine Anstalten, das zu tun.«
»Ich verstehe - das heißt, nein, ich verstehe nicht. Man hat ihn heute nacht ausgeschaltet. Das ist eine Operation von Beijing, und doch war er der erste Kontaktmann hier unten -«
»Von solchen Dingen weiß ich nichts«, unterbrach ihn Wong.
»Oh, tut mir leid, davon können Sie nichts wissen.«
»Sie haben mich dafür bezahlt, daß ich die Augen offenhalte, Sir. Wohin soll ich sehen und was wollen Sie, daß ich tue?« »Hatten Sie Schwierigkeiten, an der Streife auf der Straße vorbeizukommen?«
»Nein. Ich habe sie gesehen, die mich nicht. Jetzt sitzen sie im Wald am Wiesenrand. Falls Ihnen das hilft - der Mann mit dem Funkgerät hat dem, den er erreicht hat, gesagt, er könne weggehen, sobald das Signal kommt. Ich weiß nicht, was das bedeutet, aber ich nehme an, es betrifft einen Helikopter.«
»Das nehmen Sie an?«
»Der Franzose und ich sind dem englischen Major eines Nachts hierher gefolgt. Deshalb wußte ich auch, wo ich sie hinbringen mußte. Ein Helikopter landete, und dann stiegen Männer aus, die sich mit dem Engländer trafen.«
»Das hat er mir auch gesagt.«
»Ihnen gesagt, Sir?«
»Lassen Sie nur. Bleiben Sie hier. Wenn diese Streife dort drüben herüberkommen sollte, dann möchte ich das wissen. Ich bin oben auf der Wiese vor dem zweiten Hügel, ganz rechts. Auf derselben Wiese, wo Sie und Echo den Helikopter gesehen haben.«
»Echo?«
»Der Franzose.« Delta hielt inne, überlegte. »Sie dürfen kein Streichholz anzünden, nicht auf sich aufmerksam machen -« Plötzlich waren Geräusche zu hören. Steine prasselten gegen Bäume. McAllister gab sein Signal!
»Packen Sie sich ein paar Steine oder Holzstücke und werfen Sie sie in den Wald zur Rechten. Das werde ich dann hören.«
»Ich stecke mir jetzt ein paar ein.«
»Ich habe nicht das Recht, Sie das zu fragen«, sagte Delta und hob seinen Aktenkoffer auf, »aber haben Sie eine Waffe?«
»Eine drei-siebenundfünfzig Magnum mit einem Gurt voll Munition, die verdanke ich meinem Vetter mütterlicherseits. Möge der Heiland meine Mutter in Frieden ruhen lassen.«
»Ich hoffe, Sie nie wiederzusehen, und für den Fall leben Sie wohl, Wong. Ein Teil von mir ist vielleicht mit dem nicht einverstanden, was Sie tun und was Sie sind. Aber Sie sind ein verdammt tüchtiger Mann. Und glauben Sie mir, das letztemal haben Sie mich wirklich geschlagen.«
»Nein, Sir, Sie haben mich besiegt. Aber ich würde es gern noch einmal versuchen.«
»Vergessen Sie's!« rief der Mann von Medusa und rannte den Hügel hinauf.
Wie ein riesenhafter, ungeheurer Vogel, dessen Unterleib in blendendem Licht pulsierte, senkte sich der Hubschrauber auf die Wiese herab. Wie verabredet, stand McAllister so, daß man ihn deutlich sehen konnte, und wie erwartet, richtete sich der Suchscheinwerfer des Helikopters auf ihn. Jason Borowski stand ebenfalls der Übereinkunft gemäß etwa vierzig Meter entfernt im Waldschatten - so daß man ihn sehen konnte, aber nicht deutlich. Die Drehflügel schwangen langsam aus und kamen knirschend und scharrend zum Stillstand. Die Stille, die jetzt herrschte, wirkte unheilverheißend. Die Tür öffnete sich, die Treppe wurde ausgefahren, und der schlanke, grauhaarige Sheng Chou Yang kam mit einer Aktentasche die Treppe herunter.
»Schön, Sie nach all den Jahren wiederzusehen, Edward«, rief der erstgeborene Sohn eines Taipan. »Möchten Sie den Hubschrauber untersuchen? Es ist so, wie Sie es verlangt haben
- nur ich und mein vertrautester Pilot.«
»Nein, Sheng, das können Sie für mich tun!« schrie McAllister aus vielleicht dreißig Meter Entfernung, zog eine Sprühdose unter seinem Jackett hervor und warf sie zu dem Hubschrauber hinüber. »Sagen Sie dem Piloten, er soll auf ein paar Minuten herauskommen und die Kabine aussprühen. Wenn jemand in der Maschine ist, dann wird der schnell herauskommen.«
»Das paßt gar nicht zu Ihnen, Edward. Männer wie wir wissen, wann sie einander vertrauen können. Wir sind doch keine Narren.«
»Tun Sie, was ich sage, Sheng!«
»Natürlich.« Er erteilte dem Piloten einen Befehl, worauf der aus der Maschine trat. Sheng Chou Yang nahm die Sprühdose und sprühte das Innere des Hubschraubers mit dem Gas aus. Einige Minuten verstrichen, niemand kam heraus. »Sind Sie jetzt zufrieden, oder soll ich das verdammte Ding in die Luft jagen? Das würde keinem von uns etwas nützen. Kommen Sie, mein Freund, wir sind doch über solche Spielchen hinaus. Das waren wir immer.«
»Aber Sie sind geworden, was Sie sind. Ich bin geblieben, was ich war.«
»Das läßt sich ändern, Edward! Ich kann verlangen, daß Sie an all unseren Konferenzen teilnehmen. Ich kann dafür sorgen, daß Sie eine prominente Position einnehmen. Sie werden ein Stern am Himmel Ihres Außenministeriums sein.«
»Dann stimmt es also, wie? Alles, was in der Akte steht. Sie sind zurückgekommen. Die Kuomintang ist nach China zurückgekehrt -«
»Wir sollten leise miteinander reden, Edward.« Sheng blickte zu der Silhouette des Mannes hinüber, den er für einen Killer hielt, und deutete dann nach rechts. »Das ist eine Sache, die nur uns angeht.«
Borowski bewegte sich schnell, er rannte zu dem Hubschrauber hinüber, während die beiden Männer ihm den Rücken zukehrten. Als der Pilot in die Maschine kletterte, war der Mann von Medusa hinter ihm.
»An jing!« flüsterte Jason und befahl dem Mann, still zu sein. Er unterstrich den Befehl mit seiner Maschinenpistole. Ehe der verblüffte Pilot reagieren konnte, hatte Borowski ihm einen Streifen Stoff über den Kopf geworfen, ihn durch den verblüfften, aufgerissenen Mund gezogen und straff gespannt. Dann zog Jason eine lange, dünne Nylonschnur aus der Tasche und fesselte den Mann so an den Pilotensitz, daß er die Arme nicht bewegen konnte. Ein unvermuteter Start war unmöglich.
Borowski schob die Waffe wieder unter den Gürtel und kroch aus dem Helikopter. Das schwere Fluggerät versperrte ihm die Sicht auf McAllister und Sheng Chou Yang, was zugleich auch bedeutete, daß es ihnen die Sicht auf ihn versperrte. Er eilte zu seiner letzten Position zurück, wobei er sich mehrfach umsah und jederzeit bereit war, die Richtung zu ändern, falls die beiden Männer neben dem Flugzeug auftauchen sollten; der Helikopter bot ihm also Sichtschutz. Jetzt blieb er stehen, er war nahe genug; jetzt war es an der Zeit, sich unauffällig sehen zu lassen. Er holte eine Zigarette heraus und riß ein Streichholz an, zündete sie an. Dann schlenderte er, scheinbar ziellos, nach links, zu einer Stelle, von der aus er die beiden Gestalten auf der anderen Seite des Hubschraubers gerade noch sehen konnte. Er fragte sich, was zwischen den beiden Feinden wohl gesprochen werden mochte, und fragte sich, worauf McAllister wartete.
Tu es, Analytiker. Tu es jetzt! Das ist jetzt die beste Chance. Jeder Augenblick, den du zögerst, ist verschenkt, und das kann zu Komplikationen führen! Verdammt, tu es!
Borowski erstarrte. Er hörte ein Geräusch - ein Stein, der in der Nähe der Stelle, wo er auf die Wiese hinausgetreten war, gegen einen Baumstamm prallte. Dann ein weiterer, viel näher, und noch einer, schnell danach. Eine Warnung Wongs. Shengs Streife überquerte jetzt das Feld.
Analytiker, auf die Weise sterben wir beide! Wenn ich jetzt hinüberrenne und schieße, dann kommen sechs Männer angerannt, mit mehr Waffengewalt, als wir bewältigen können! Um Himmels willen, tu es doch!
Der Mann von Medusa starrte Sheng und McAllister an; seine Nerven waren zum Zerreißen gespannt, und er machte sich
Vorwürfe, daß er es so weit hatte kommen lassen. Tod durch das Versagen eines Amateurs, eines verbitterten Bürokraten, der seinen Augenblick im Rampenlicht wollte.
»Kam Pek!« Es war Wong! Er hatte sich durch den Wald geschlichen und war jetzt, von den Bäumen verborgen, hinter ihm.
»Ja? Ich habe die Steine gehört.«
»Das, was Sie jetzt hören, wird Ihnen nicht gefallen, Sir.«
»Was denn?«
»Die Streife kommt den Hügel herauf gekrochen.«
»Das ist ein Schutzmanöver«, sagte Jason, den Blick immer noch auf die zwei Gestalten im Feld gerichtet. »Es kann immer noch gutgehen. Sehr viel können die nicht sehen.«
»Ich bin nicht sicher, daß das jetzt etwas zu sagen hat, Sir. Die bereiten sich vor. Ich habe sie gehört - sie haben ihre Waffen entsichert.«
Borowski schluckte, und ein Gefühl der Hilflosigkeit, der Niederlage, ergriff von ihm Besitz. Aus Gründen, die ihm für den Augenblick unerklärlich waren, entstand eine umgekehrte Falle. »Sie verschwinden jetzt besser von hier, Wong.«
»Darf ich Sie etwas fragen? Sind das die Leute, die den Franzosen umgebracht haben?«
»Ja.«
»Und für die das Schwein Soo die letzten vier Jahre auf so widerliche Weise tätig war?«
»Ja.«
»Ich glaube, dann bleibe ich hier, Sir.«
Ohne ein Wort zu sagen, ging der Mann von Medusa zu seinem Aktenkoffer zurück. Er hob ihn auf und warf ihn in den Wald. »Öffnen Sie ihn«, sagte er. »Wenn wir hier rauskommen,
können Sie den Rest Ihrer Tage im Casino verbringen, ohne Nachrichten zu überbringen.«
»Ich spiele nicht.«
»Doch, jetzt spielen Sie, Wong.«
»Haben Sie wirklich geglaubt, daß wir, die großen Kriegsherren des ältesten Reiches der größten Kulturnation, die die Welt je gekannt hat, dieses Reich ungewaschenen Bauern und ihren Nachkommen überlassen würden, die nur verabscheuungswürdige Gleichmacherei im Kopf haben?« Sheng stand vor McAllister und hielt seine Aktentasche mit beiden Händen fest. »Unsere Sklaven sollten sie sein, nicht unsere Herrscher.«
»Diese Art von Denken hat dazu geführt, daß Sie das Land verloren haben - Sie, die Führer, nicht das Volk. Das Volk hat man nicht gefragt. Wenn man das getan hätte, dann hätte es vielleicht Kompromisse gegeben, eine Einigung, und dann würde dieses Reich immer noch Ihnen gehören.«
»Mit marxistischen Tieren schließt man keine Kompromisse -und mit Lügnern auch nicht. So wie ich auch mit Ihnen keinen Kompromiß schließen werde, Edward.«
»Was sagen Sie da?«
Mit der linken Hand ließ Sheng den Aktenkoffer aufschnappen und holte die Akte heraus, die sein Beauftragter vom Victoria Peak gestohlen hatte. »Erkennen Sie das?« fragte er ruhig.
»Das glaube ich nicht!«
»Glauben Sie es ruhig, mein alter Widersacher. Ein wenig Geschicklichkeit kann alles bewirken.«
»Das ist unmöglich!«
»Die Akte ist hier. In meiner Hand. Und auf der ersten Seite steht ganz deutlich, daß es nur eine Kopie gibt, die nur mit
Militäreskorte weitergegeben werden darf, Geheimhaltungsstufe eins. Meiner Ansicht nach haben Sie das richtig eingeschätzt, als wir miteinander telefonierten. Der Inhalt dieser Akte würde dazu führen, daß der ganze Pazifikraum in Flammen aufgeht. Der Krieg wäre unvermeidlich. Der rechte Flügel von Beijing würde gegen Hongkong marschieren - das, was man dort den rechten Flügel nennt, in Ihrem Teil der Welt würden Sie sie als Linke bezeichnen. Albern, nicht wahr?«
»Ich habe eine Kopie herstellen und nach Washington schicken lassen«, unterbrach ihn der Staatssekretär schnell.
»Das glaube ich nicht«, sagte Sheng. »Alle Diplomatensendungen, sei es nun über Telefon, über Computer oder über Kuriertasche, müssen vom höchsten Beamten freigegeben werden. Der berüchtigte Botschafter Havilland würde das nicht zulassen, und ohne seine Erlaubnis würde das Konsulat keinen Finger rühren.«
»Ich habe eine Kopie an das chinesische Konsulat geschickt!« schrie McAllister. »Sie sind erledigt, Sheng!«
»Wirklich? Wer glauben Sie denn, daß in unserem Konsulat in Hongkong alle Mitteilungen von allen außenliegenden Quellen erhält? Sparen Sie sich die Antwort, ich übernehme das für Sie. Einer unserer Leute.« Sheng hielt inne, und seine fanatischen Augen loderten plötzlich. »Wir sind überall, Edward! Wir werden unsere Nation zurückgewinnen, unser Reich!«
»Sie sind wahnsinnig. Das kann nicht funktionieren. Sie werden einen Krieg auslösen!«
»Dann wird es ein gerechter Krieg sein! Die Regierungen auf der ganzen Welt werden ihre Wahl treffen müssen. Herrschaft des einzelnen oder Herrschaft des Staates. Freiheit oder Tyrannei!«
»Zu wenige von euch haben Freiheit gewährt und zu viele von euch waren Tyrannen.«
»Wir werden siegen - so oder so.«
»Mein Gott, das ist es also, was ihr wollt! Ihr wollt die Welt an den Abgrund treiben und sie zwingen, zwischen Vernichtung und Überleben zu wählen! Und ihr meint, ihr werdet bekommen, was ihr wollt, weil ihr glaubt, daß alle sich für das Überleben entscheiden! Diese Wirtschaftskommission, Ihre ganze Hongkong-Strategie ist erst der Anfang1. Ihr wollt euer Gift über den ganzen Pazifikraum verbreiten! Sie sind ein Eiferer, ein Fanatiker, Sie sind blind! Können Sie denn nicht erkennen, was für tragische Konsequenzen -«
»Man hat uns unsere Nation gestohlen, und wir werden sie uns zurückholen! Man kann uns nicht aufhalten! Wir werden marschieren!«
»Doch, man kann Sie aufhalten«, sagte McAllister leise, und seine rechte Hand schob sich auf seine Jackentasche zu. »Ich werde Sie aufhalten.«
Plötzlich ließ Sheng seinen Aktenkoffer fallen, und eine Waffe wurde sichtbar. Er feuerte, während McAllister instinktiv zurückfuhr und sich an die Schulter griff.
»Hinlegen!« brüllte Borowski und rannte vor den Hubschrauber, in das grelle Licht seiner Scheinwerfer, und gab einen Feuerstoß ab. »Wegrollen, wegrollen! Wenn Sie sich bewegen können, dann wälzen Sie sich zur Seite.«
»Sie!« schrie Sheng, gab schnell zwei Schüsse auf den am Boden liegenden Staatssekretär ab und hob dann die Waffe und drückte wiederholt ab, zielte auf den im Zickzack auf ihn zurennenden Mann von Medusa.
»Für Echo!« brüllte Borowski aus vollem Hals. »Für die Menschen, die Sie abgeschlachtet haben! Für den Lehrer an dem Seil, den Sie hingemetzelt haben! Für die Frau, die Sie nicht aufhalten konnten - o Gott! Für jene zwei Brüder, aber ganz besonders für Echo, du Scheißkerl!« Ein kurzer Feuerstoß zuckte aus seiner Maschinenpistole - und verstummte dann, und so sehr er auch auf den Abzug drückte, kein Schuß wollte sich mehr lösen! Der Abzug hatte sich verklemmt! Verklemmt! Und Sheng wußte das; er richtete seine Waffe langsam auf Jason, während der die seine wegwarf und auf den Killer zuhetzte. Sheng feuerte, als Delta sich instinktiv nach rechts warf, das Messer aus dem Gürtel riß, vom Boden abfederte, die Richtung wechselte und sich abrupt auf Sheng stürzte. Das Messer fand sein Ziel, und der Mann von Medusa riß dem Fanatiker die Brust auf. Der Mann, der Hunderte getötet hatte und Millionen töten wollte, war tot.
Kein Laut drang an sein Ohr; es war, als schwebte er im Nichts, als wäre die Zeit stehengeblieben. Die Streife war jetzt aus dem Wald herausgerannt, Feuerstöße hallten durch die Nacht ... Und jetzt waren hinter dem Hubschrauber ebenfalls Schüsse zu hören - Wong hatte den Aktenkoffer geöffnet und gefunden, was er brauchte. Zwei Soldaten der Streife stürzten zu Boden, die restlichen vier ließen sich fallen; einer kroch zum Wald zurück; er schrie etwas. Das Funkgerät! Er nahm mit ändern Männern Verbindung auf, weiteren Soldaten! Wie weit waren sie entfernt? Wie nahe?
Prioritäten! Borowski rannte hinter den Hubschrauber zu Wong hinüber, der am Waldrand neben einem Baum kauerte. »Da drinnen ist noch eine!« flüsterte der. »Geben Sie sie mir.«
»Sparen Sie mit Munition«, sagte Wong. »Es ist nicht mehr viel da.«
»Das weiß ich. Bleiben Sie hier und sorgen Sie dafür, daß die nicht hochkommen, schießen Sie ganz flach über den Boden.«
»Wo gehen Sie hin, Sir?«
»Ich schlage einen Bogen zwischen den Bäumen.«
»Das hätte mir der Franzose jetzt auch befohlen.«
»Er hätte recht gehabt. Er hatte immer recht.« Jason stürzte sich in den Wald hinein, das blutige Messer im Gürtel; seine Lungen drohten zu platzen, die Beine versagten ihm fast den
Dienst, und seine Augen spähten in die nächtliche Dunkelheit. Er arbeitete sich, so gut er konnte, durch das dichte Laub, bemüht, möglichst wenig Geräusche zu erzeugen.
Ein Knacken! Zweige auf dem Boden, auf die jemand getreten war! Er sah die schemenhafte Silhouette einer Gestalt, die auf ihn zukam, und duckte sich hinter einen Baumstamm. Er wußte, wer das war - der Offizier mit dem Funkgerät, der Killer aus dem Vogelreservat von Beijing, ein erfahrener Nahkämpfer: Er suchte die Flanken. Was ihm fehlte, war Guerillaausbildung, und dieses Manko würde ihn das Leben kosten. Man trat im Wald nicht auf Zweige, die abbrechen konnten.
Jetzt schlich der Offizier geduckt an ihm vorbei. Jason sprang vor, sein linker Arm umschlang den Hals des Mannes, die Waffe, die er in der Hand hielt, schmetterte gegen den Schädel des Soldaten, und dann war wieder sein Messer an der Reihe. Borowski kniete über der Leiche nieder, steckte seine Waffe in den Gürtel und nahm dem Offizier die Maschinenpistole weg. Er fand zwei weitere Ladestreifen; jetzt standen seine Chancen besser. Es war sogar möglich, daß sie lebend hier herauskamen. Lebte McAllister noch? Oder hatte ein frustrierter Bürokrat für einen Augenblick im Rampenlicht mit ewiger Dunkelheit bezahlt? Prioritäten!
Er eilte um die Wiese herum bis zu der Stelle, wo er beim erstenmal auf die Wiese eingedrungen war. Wongs sporadische Schüsse sorgten dafür, daß die drei übriggebliebenen Männer von Shengs Elitestreife dort blieben, wo sie waren. Plötzlich veranlaßte ihn etwas, sich umzudrehen - ein Summen in der Ferne, ein heller Punkt, ckr ihm aufgefallen war. Und es war beides! Das Geräusch kam von einem auf hohen Touren laufenden Motor, der Lichtpunkt war ein Scheinwerferbalken, der den Nachthimmel absuchte. Über den Baumwipfeln unter sich konnte er ein Fahrzeug ausmachen - ein Lkw - mit einem Scheinwerfer, der auf der Ladepritsche angebracht war und von einer geübten Hand bedient wurde. Jetzt bog der Lkw von der
Straße ab, das hohe Gras verdeckte ihn teilweise, nur noch der helle Scheinwerferbalken blieb sichtbar, und bewegte sich immer schneller auf den Hügel zu, war jetzt noch höchstens zweihundert Meter unter ihm. Prioritäten. Er mußte sich bewegen!
»Nicht schießen!« brüllte Borowski und rannte los. Die drei Offiziere fuhren herum, und ihre Maschinenpistolen übersäten die Stelle, von der die Stimme gekommen war, mit einem Kugelhagel.
Der Mann von Medusa trat hervor. Es war in wenigen Sekunden vorbei: Ein einziger Feuerstoß aus seiner
Maschinenpistole mähte die drei Chinesen nieder.
»Wong!« schrie er und rannte auf die Wiese hinaus. »Los, kommen Sie mit!« Sekunden später war er bei McAllister und Sheng. Jason beugte sich über den Analytiker, der beide Arme bewegte, die rechte Hand ausgestreckt hatte und verzweifelt nach etwas griff. »Mac, können Sie mich hören?«
»Die Akte!« flüsterte der Staatssekretär. »Holen Sie bitte die
Akte!«
»Was -?« Borowski sah zu der Leiche Sheng Chou Yangs hinüber und erblickte im schwachen Mondlicht das allerletzte, was er je zu sehen geglaubt hätte. Es war Shengs schwarzgeränderte Akte, eines der geheimsten, explosivsten Dokumente auf Erden. »Herr im Himmel!« sagte Jason leise und griff danach. »Hören Sie mir zu, Analytiker!« Borowski hob die Stimme, als Wong zu ihnen trat. »Wir müssen Sie jetzt bewegen, und das wird vielleicht weh tun, aber wir haben keine Wahl!« Er blickte zu Wong auf und fuhr fort: »Eine weitere Streife ist hierher unterwegs und rückt näher. Das ist ein Reservetrupp, der meiner Schätzung nach in zwei Minuten hier auftauchen wird. Beißen Sie jetzt die Zähne zusammen, Herr Staatssekretär. Es geht tos!«
Gemeinsam schleppten Jason und Wong McAllister zum Hubschrauber.
Plötzlich schrie Borowski auf: »Herrgott, warten Sie! .. Nein, gehen Sie weiter. Sie tragen ihn allein«, rief er dem V-Mann zu. »Ich muß noch einmal zurück!«
»Warum?« flüsterte der Staatssekretär gequält.
»Was machen Sie, Sir?« schrie Wong.
»Nahrung für revisionistische Gedanken!« schrie Jason geheimnisvoll und rannte zu Sheng Chou Yangs Leiche zurück. Als er sie erreicht hatte, bückte er sich und schob dem Toten einen flachen Gegenstand unter das Jackett. Dann richtete er sich auf und rannte zu dem Hubschrauber zurück, während Wong den Staatssekretär vorsichtig über zwei Sitze drapierte. Borowski sprang nach vorne, zog das Messer heraus, durchschnitt die Fesseln des Piloten und anschließend das Tuch, das er ihm über den Mund gebunden hatte. Der Pilot rang nach Luft und fing zu husten an, aber ehe der Anfall vorüber war, erteilte Jason bereits seine Befehle.
»Kai feiji ba!« schrie er.
»Sie können englisch sprechen«, keuchte der Pilot. »Ich spreche es fließend. Das war Bedingung.«
»Starten, Scheißkerl! Sofort!«
Der Pilot kippte ein paar Schalter um und ließ die Rotoren an, als ein Schwärm Soldaten, die man in den Scheinwerfern des Helikopters jetzt deutlich sehen konnte, auf die Wiese hinausstürzte. Die neue Streife sah sofort die fünf toten Männer von Shengs Elitegarde. Der ganze Trupp eröffnete das Feuer auf die sich langsam in den Himmel erhebende Maschine.
»Machen Sie, daß Sie hier sofort wegkommen!« brüllte Jason.
»Die Maschine ist gepanzert«, sagte der Pilot ruhig. »Dafür hat Sheng gesorgt. Selbst die Glasscheiben sind aus Panzerglas. Wo fliegen wir hin?« »Hongkong!« schrie Borowski und stellte erstaunt fest, daß der Pilot, der die Maschine steil in den Himmel gerissen hatte, sich jetzt lächelnd zu ihm herumdrehte.
»Die großzügigen Amerikaner oder die wohlwollenden Briten werden mir doch sicherlich Asyl gewähren, Sir? Das ist ein Traum der Geister!«
»Da soll mich doch der Teufel holen«, sagte der Mann von Medusa, als sie die erste Schicht tiefhängender Wolken erreichten.
»Das war eine höchst wirksame Idee, Sir«, sagte Wong aus dem dunklen hinteren Teil des Hubschraubers. »Wie sind Sie darauf gekommen?«
»Es hat schon einmal funktioniert«, sagte Jason und zündete sich eine Zigarette an. »Die Geschichte - sogar die Geschichte der unmittelbaren Vergangenheit - wiederholt sich gewöhnlich.«
»Mr. Webb?« flüsterte McAllister.
»Was ist denn, Analytiker? Wie fühlen Sie sich?«
»Das ist jetzt nicht wichtig. Warum sind Sie umgekehrt -zurück zu Sheng?«
»Um ihm ein sehr schönes Abschiedsgeschenk zu hinterlassen. Ein Kontobuch. Ein Geheimkonto auf den Cayman-Inseln.«
»Was?«
»Es wird keinem etwas nützen. Die Namen und die Kontonummern sind herausgetrennt. Aber es wird trotzdem interessant sein, wie Peking darauf reagiert, nicht wahr?«