Kapitel 26

Borowski hielt die schwarze Shanghai-Limousine auf der dunklen, von Bäumen gesäumten Straße an. Wenn die Karte stimmte, hatte er jetzt das Osttor des Sommerpalastes passiert -das heißt, eigentlich waren es mehrere alte kaiserliche Villen in einer Parkanlage, die vom Kunming-See beherrscht wurde. Er war in nördlicher Richtung am Ufer entlanggefahren, bis die vielfarbigen Lichter der Lustgärten verblichener Kaiser am Horizont verblaßt und der Dunkelheit der Landstraße gewichen waren. Er schaltete die Scheinwerfer aus, stieg aus dem Wagen und trug das, was er gekauft hatte und was jetzt in einem wasserdichten Beutel verwahrt war, zu den Bäumen an der Straße und grub den Absatz in den Boden. Die Erde war weich, und das erleichterte sein Vorhaben, denn er mußte mit der Möglichkeit rechnen, daß man seinen Mietwagen durchsuchte. Er griff in den Beutel und holte ein Paar feste Handschuhe und ein Jagdmesser mit einer langen Klinge heraus. Er kniete nieder und grub ein Loch, das tief genug war, um den Beutel darin zu verbergen; er ließ es offen, nahm sich das Messer und schnitt eine Kerbe in den Stamm des nächststehenden Baumes, so daß das weiße Holz unter der Rinde sichtbar wurde. Dann verwahrte er Messer und Handschuhe in dem Beutel und deckte ihn mit Erde zu. Er ging zum Wagen zurück, warf einen Blick auf das Armaturenbrett und ließ den Motor an. Wenn die Entfernungsangaben auf der Karte ebenso genau waren wie ihre Angaben bezüglich der für Privatpersonen gesperrten Zonen in und um Beijing, dann war die Einfahrt zum Jing-Shan-Reservat nur noch einen knappen Kilometer entfernt und mußte hinter der nächsten Straßenbiegung liegen.

Die Landkarte war korrekt. Zwei Scheinwerferbalken strahlten das hohe, grüne Stahltor unter einer riesigen Tafel an, auf die bunte Vögel gemalt waren; das Tor war verschlossen. In einem kleinen, verglasten Verschlag rechts davon saß ein einzelner Wachmann. Als er Jasons näher kommende Scheinwerferbündel sah, sprang er auf und rannte heraus. Es war schwer festzustellen, ob der Mann nun eine Uniform trug oder nicht, jedenfalls war keine Waffe zu sehen.

Borowski fuhr dicht an das Tor heran, stieg aus und ging auf den Chinesen zu, wobei er überrascht feststellte, daß der Mann Ende Fünfzig oder Anfang Sechzig war.

»Bei tong, bei tong!« begann Jason, ehe der Posten etwas sagen konnte, und entschuldigte sich damit für die Störung. »Ich habe Schreckliches hinter mir«, fuhr er fort und zog die Liste mit den Verhandlungspartnern des Franzosen aus der Innentasche. »Ich hätte vor dreieinhalb Stunden hier sein sollen, aber der Wagen ist nicht gekommen, und ich konnte Mister ...« Er wählte den Namen eines Textilministers von der Liste -»Wang Xu nicht erreichen, und bestimmt ist er ebenso ärgerlich wie ich!«

»Sie sprechen unsere Sprache«, sagte der Posten verwirrt. »Sie haben einen Wagen ohne Fahrer.«

»Der Minister hat das gestattet. Ich bin schon oft in Beijing gewesen. Wir sollten heute zusammen zu Abend essen.«

»Hier gibt es kein Restaurant.«

»Hat er vielleicht eine Nachricht für mich hinterlassen?«

»Niemand hinterläßt hier irgend etwas, nur verlorene Gegenstände. Ich habe einen sehr hübschen japanischen Feldstecher, den ich Ihnen billig verkaufen könnte.«

Es geschah. Hinter dem Tor, etwa dreißig Meter im Inneren des Geländes, sah Borowski im Schatten eines hohen Baumes einen Mann mit einem langen Uniformrock - vier Taschen - ein Offizier. Er trug einen breiten Gürtel mit einem dicken Halfter an der Hüfte. Eine Waffe.

»Tut mir leid, ich brauche keinen Feldstecher.«

»Als Geschenk vielleicht?«

»Ich habe nur wenige Freunde, und meine Kinder sind Diebe.«

»Sie sind ein bedauernswerter Mann. Es gibt nichts außer Kindern und Freunden - und natürlich den Geistern.«

»Jetzt will ich aber wirklich den Minister erreichen. Wir verhandeln über Millionen von Renminbü«

»Der Feldstecher kostet nur ein paar Yuan.«

»Also gut'. Wieviel?«

»Fünfzig.«

»Dann holen Sie ihn«, sagte das Chamäleon ungeduldig und griff in die Tasche. Als der Posten in sein Wachhäuschen zurückeilte, schweifte sein Blick über den grünen Zaun. Der chinesische Offizier hatte sich ein Stück tiefer in den Schatten zurückgezogen, beobachtete aber das Tor immer noch. Jasons Herz schlug wie wild, und das Pochen in seiner Brust klang wie Paukenschläge - so wie es in den Tagen von Medusa so oft gewesen war. Er hatte eine Strategie durchschaut. Delta wußte, wie Asiaten dachten. Geheimhaltung. Die einsame Gestalt im Schatten bestätigte das natürlich noch nicht, aber sie widerlegte seine Gedanken auch nicht.

»Da schauen Sie, ist das nicht ein herrliches Glas!« rief der Posten, der mit dem Feldstecher in der Hand jetzt zum Zaun zurückgelaufen kam. »Einhundert Yuan.«

»Sie haben fünfzig gesagt!«

»Da habe ich mir die Linsen nicht angesehen. Ein ganz hochwertiges Stück. Geben Sie mir das Geld, dann werfe ich das Glas über den Zaun.«

»Also, meinetwegen«, sagte Borowski, im Begriff, das Geld durch den Maschenzaun zu schieben. »Aber unter einer Bedingung, Dieb. Wenn Sie über mich befragt werden sollten, möchte ich keine Ungelegenheiten haben.«

»Befragt? Das ist doch unsinnig. Hier ist doch außer mir niemand.«

Delta hatte recht.

»Wenn aber doch, dann muß ich darauf bestehen, daß Sie die Wahrheit sagen! Ich bin Geschäftsmann aus Frankreich und muß unbedingt diesen Textilminister sprechen, weil mein Wagen sich auf unverzeihbare Weise verspätet hat. Ich will keine Ungelegenheiten!«

»Wie Sie wünschen. Jetzt das Geld, bitte.«

Jason schob die Yuan-Scheine durch den Zaun; der Posten stopfte sie sich in die Tasche und warf den Feldstecher über das Tor. Borowski fing ihn auf und sah den Chinesen bittend an. »Haben Sie denn gar keine Ahnung, wohin der Minister gegangen sein könnte?«

»Ja, und das wollte ich Ihnen auch gerade sagen, ohne dafür Geld zu verlangen. So bedeutende Männer wie Sie und er würden ohne Zweifel in das Speiserestaurant Ting Li Guan gehen. Das ist bei reichen Ausländern und den mächtigen Männern unserer Regierung sehr beliebt.«

»Wo ist das?«

»Im Sommerpalast. Sie sind daran vorbeigefahren. Fahren Sie fünfzehn, zwanzig Kilometer zurück, dann sehen Sie das große Dong-An-Men-Tor. Die Fremdenführer dort werden Ihnen den Weg weisen, aber Sie müssen Ihre Papiere vorzeigen, Herr. Sie reisen auf sehr ungewöhnliche Art.«

»Danke!« schrie Jason und rannte zum Wagen zurück. »Vive la France!«

»Wie schön«, sagte der Posten, zuckte die Achseln und ging in sein Häuschen zurück, wo er sein Geld zählte.

Der Offizier ging leise auf das Wachhäuschen zu und klopfte ans Glas. Der Nachtwächter sprang erstaunt auf und öffnete die Tür.

»Oh, Sie haben mich erschreckt! Ich sehe, daß man Sie eingeschlossen hat. Vielleicht sind Sie auf einer unserer schönen Ruhebänke eingeschlafen. Wie unangenehm. Ich werde das Tor sofort öffnen!«

»Wer war dieser Mann?« fragte der Offizier ruhig.

»Ein Ausländer. Ein französischer Geschäftsmann, der Pech gehabt hat. So wie ich ihn verstanden habe, hätte er sich vor Stunden hier mit dem Textilminister treffen sollen und dann

gemeinsam mit ihm zu Abend essen. Aber sein Wagen hat sich verspätet. Er war sehr aufgeregt. Er will keine Ungelegenheiten haben.«

»Welcher Textilminister?«

»Minister Wang Xu, hat er, glaube ich, gesagt.«

»Warten Sie bitte draußen.«

»Selbstverständlich. Und das Tor?«

»In ein paar Minuten.« Der Offizier griff nach dem Telefon auf der kleinen Theke und wählte. Sekunden später sagte er: »Kann ich die Nummer eines Textilministers namens Wang Xu haben ...? ... danke.« Der Offizier drückte die Gabel nieder, ließ sie los und wählte erneut. »Minister Wang Xu, bitte?«

»Ja, am Apparat«, sagte eine etwas unfreundliche Stimme am anderen Ende der Leitung. »Wer spricht?«

»Ein Angestellter im Büro der Handelskommission, Herr Minister. Wir führen eine Routineüberprüfung durch, ein französischer Geschäftsmann, der Sie als Referenz angegeben hat -«

»Doch nicht wieder dieser Idiot Ardisson! Was hat er denn jetzt wieder gemacht?«

»Sie kennen ihn, Herr Minister?«

»Ja, leider! Dauernd will der etwas Besonderes! Der bildet sich ein, sein Stuhlgang duftet nach Lilien.«

»Sollten Sie heute abend mit ihm essen, Herr Minister?«

»Mit dem essen? Wer weiß, was ich heute nachmittag alles gesagt habe, bloß um ihn zum Schweigen zu bringen! Natürlich hört er nur, was er hören will, und sonst nichts. Andererseits ist es durchaus möglich, daß er meinen Namen benutzt hat, um einen Tisch zu bekommen. Ich sage Ihnen ja, dauernd Sonderwünsche! Geben Sie ihm, was er will. Er ist verrückt, aber ganz harmlos. Wenn die Idioten, die er vertritt, nicht so viel für drittklassigen Stoff zahlen würden, dann würden wir ihn mit

der nächsten Maschine nach Paris zurückschicken. Und jetzt belästigen Sie mich nicht mehr, ich habe Gäste.« Der Minister legte abrupt auf.

Beruhigt ließ der Armeeoffizier den Hörer auf die Gabel fallen und ging zu dem Nachtwächter hinaus. »Sie haben recht gehabt«, sagte er.

»Der Ausländer war sehr erregt und ganz durcheinander.«

»Wie ich gehört habe, ist das bei ihm der Normalzustand.« Der Offizier machte eine kurze Pause und fügte dann hinzu: »Sie können jetzt das Tor öffnen.«

»Selbstverständlich.« Der Mann griff in die Tasche und zog einen Schlüsselbund heraus. Dann hielt er in der Bewegung inne und sah den Offizier an. »Ich sehe aber keinen Wagen. Bis zum nächsten öffentlichen Verkehrsmittel sind es viele Kilometer. Der Sommerpalast ist der erste -«

»Ich habe nach einem Wagen telefoniert. Er soll in zehn bis fünfzehn Minuten hier sein.«

»Dann werde ich leider nicht mehr hier sein. Ich sehe schon die Fahrradlampe meiner Ablösung dort unten an der Straße. Mein Dienst ist in fünf Minuten zu Ende.«

»Vielleicht werde ich hier warten«, sagte der Offizier, ohne auf die Worte des Nachtwächters einzugehen. »Vom Norden kommen Wolken herein. Wenn sie Regen bringen, könnte ich mich im Wachhäuschen unterstellen, bis mein Wagen kommt.«

»Ich sehe keine Wolken.«

»Ihre Augen sind eben auch nicht mehr das, was sie einmal waren.«

»Wie wahr.« Das Schrillen einer Fahrradglocke hallte durch die Nacht. Die Ablösung des Nachtwächters trat an den Zaun, als dieser gerade das Tor aufsperrte. »Diese jungen Leute machen einen Lärm, als wären sie Geister vom Himmel.« »Ich möchte Ihnen noch gerne etwas sagen«, sagte der Offizier mit scharfer Stimme, so daß der Nachtwächter unwillkürlich stehenblieb. »Ich möchte auch keine Ungelegenheiten haben, ebensowenig wie der Ausländer, bloß weil ich an diesem herrlichen Ort ein wenig geschlafen habe. Gefällt Ihnen Ihre Arbeit hier?«

»Und wie.«

»Und die Gelegenheit, Dinge wie japanische Feldstecher zu verkaufen, die man Ihnen in Verwahrung gegeben hat?«

»Wie bitte?«

»Mein Gehör ist sehr scharf, und Ihre Stimme laut.«

»Wie bitte?«

»Sagen Sie nichts von mir, und ich werde nichts von Ihren unmoralischen Aktivitäten sagen, die Ihnen ohne Zweifel sehr viel Ärger eintragen würden. Ihr Verhalten ist zutiefst tadelnswert.«

»Ich habe Sie nie gesehen, Herr Offizier! Das schwöre ich bei den Geistern in meiner Seele!«

»In der Partei hält man nichts von solchen Schwüren.«

»Dann schwöre ich bei allem, was Sie wollen!«

»Öffnen Sie das Tor und verschwinden Sie.«

»Zuerst mein Fahrrad, Herr Offizier!« Der Nachtwächter rannte am Zaun entlang und griff sich sein Fahrrad. Er nickte seiner Ablösung erleichtert zu, als er ihm den Schlüsselbund zuwarf. Dann schwang er sich in den Sattel und fuhr eilig die Straße hinunter.

Der zweite Nachtwächter schlenderte, sein Fahrrad an der Lenkstange schiebend, durch das Tor. »Können Sie sich das vorstellen?« sagte er zu dem Offizier. »Der Sohn eines Kriegsherrn der Kuomintang übernimmt die Arbeit eines schwachsinnigen Bauern, der uns in der Küche bedient hätte.«

Borowski entdeckte die weiße Kerbe in dem Baumstamm und lenkte die Limousine zwischen zwei Fichten von der Straße herunter. Er schaltete das Licht ab und stieg aus. Schnell brach er ein paar Zweige ab, um den Wagen in der Dunkelheit zu tarnen. Instinktiv hatte er schnell gearbeitet, dennoch beunruhigte ihn, daß nur wenige Sekunden nach dem Tarnen der Limousine unten auf der Straße nach Beijing Scheinwerfer auftauchten. Er kniete im Unterholz nieder, sah zu, wie der Wagen vorbeibrauste, und stellte verblüfft fest, daß auf seinem Dach ein Fahrrad festgeschnallt war, und wurde unruhig, als kurz darauf das Motorengeräusch verstummte; der Wagen hatte hinter der Straßenbiegung angehalten. Besorgt, daß ein geschultes Auge seinen Wagen entdeckt haben und der Mann jetzt zu Fuß zurückkommen könnte, rannte Jason quer über die Straße in das dichte Unterholz dahinter. Er hetzte von Fichte zu Fichte bis zur Kurve, wo er erneut niederkniete und jeden Fußbreit seiner Umgebung untersuchte und auf Geräusche lauschte, die nicht zu der verlassenen Landstraße paßten.

Nichts. Und dann, nach langem Warten, doch etwas. Und als er sah, was es war, konnte er sich einfach keinen Reim darauf machen. Der Mann auf dem Fahrrad mit der dynamobetriebenen Lampe fuhr die Straße mit einem Tempo herauf, als ginge es um sein Leben. Als er näher kam, erkannte Borowski, daß es der Nachtwächter war ... auf einem Fahrrad ... Und auf dem Dach des Wagens, der hinter der Kurve angehalten hatte, war ein Fahrrad festgeschnallt gewesen. War es für den Nachtwächter bestimmt gewesen? Natürlich nicht; der Wagen wäre bis zum Tor weitergefahren ... Ein zweites Fahrrad? Ein zweiter Nachtwächter - und der mit einem Fahrrad? Natürlich: Wenn zutraf, was er annahm, würde der Wachmann am Tor ausgetauscht werden, würde man einen Verschwörer an seine Stelle bringen.

Jason hatte gewartet, bis die Fahrradbeleuchtung des Nachtwächters zu einem winzigen Punkt in der Ferne zusammengeschrumpft war, und rannte dann auf der Straße zurück zu seinem Wagen und dem Baum mit der Kerbe. Er grub seinen Beutel aus und begann, sein Handwerkszeug zu sortieren. Er zog sein Jackett und das weiße Hemd aus und schlüpfte in einen schwarzen Rollkragenpullover; dann schnallte er die Scheide des Jagdmessers an den Gürtel seiner dunklen Hose und steckte auf der anderen Seite die Pistole, die mit einem Schuß geladen war, hinein. Dann hob er die zwei mit einem meterlangen Stück dünnem Draht verbundenen Spulen auf und dachte, daß dieses Tötungsinstrument weit besser war als das, was er sich in Hongkong angefertigt hatte. Wenn irgend etwas, was er in jener fernen Vergangenheit bei Medusa gelernt hatte, auch nur den geringsten Wert hatte, war er jetzt seinem Ziel viel näher. Er rollte den Draht gleichmäßig auf die beiden Spulen und schob sie vorsichtig in die rechte Hüfttasche. Dann hob er die kleine Taschenlampe auf und steckte sie sich an seine rechte Vordertasche. Jetzt war ein langes Band übergroßer chinesischer Knallfrösche an der Reihe; er hatte sie mit einem Gummiband zusammengehalten und verwahrte sie mit drei Streichholzbriefchen und einer kleinen Kerze in der linken Vordertasche. Am schwierigsten unterzubringen war ein Drahtschneider von der Größe einer Zange. Er schob sie mit dem Kopf voraus in die linke Hüfttasche, so daß sich die zwei kurzen Handgriffe gegen den Stoff preßten und das Werkzeug festhielten. Schließlich griff er nach einem eng zusammengewickelten Haufen Kleider, und zwar so eng gewickelt, daß das Ganze nicht umfangreicher war als ein Nudelholz. Das drückte er sich gegen die Wirbelsäule, zog das Gummiband um seine Hüfte und verhakte die Schließen ineinander. Vielleicht würde er die Kleider nie brauchen, aber er durfte nichts dem Zufall überlassen - dazu war er zu nahe am Ziel!

Ich werde ihn bekommen, Marie! Ich schwöre dir, ich hole ihn mir, und dann wer den wir wieder unser Leben haben. Ich bin es, David, und ich liebe dich so! Ich brauche dich so!

Hör auf damit! Es gibt keine Leute, nur Ziele. Keine Emotionen, nur Zielpersonen und Männer, die eliminiert werden müssen, weil sie im Wege stehen. Ich brauch dich nicht, Webb. Du bist weich, und ich verachte dich. Du mußt auf Delta hören -auf Jason Borowski!

Der Killer, der gezwungenermaßen ein Killer geworden war, vergrub den Beutel mit seinem weißen Hemd und der TweedJacke und richtete sich zwischen den Fichten auf. Seine Lungen schwollen bei dem Gedanken an das an, was ihm bevorstand. Ein Teil von ihm war unsicher und verängstigt, der andere wütend und eiskalt.

Jetzt setzte Jason sich in Bewegung, ging in nördlicher Richtung auf die Kurve zu, dabei den Schutz jedes einzelnen Baumes ausnützend, so wie er das vorher auch getan hatte. Er erreichte den Wagen, der mit dem auf dem Dach festgeschnallten Fahrrad an ihm vorbeigefahren war; er parkte am Straßenrand, und unter der Windschutzscheibe war ein großes Schild festgeklebt. Er schob sich näher heran und las die chinesischen Schriftzeichen und lächelte dabei.

Dies ist ein defektes Dienstfahrzeug der Regierung. Es ist streng verboten, sich an diesem Fahrzeug zu schaffen zu machen. Diebstahl wird streng bestraft.

In der linken unteren Ecke war in kleinerer Schrift zu lesen: Volksdruckerei Nummer 72. Shanghai. Wieviel Hunderttausende solcher Schilder waren von der Druckerei Nummer 72 wohl hergestellt worden? Vielleicht galten sie als Garantiescheine, und mit jedem Fahrzeug wurden zwei geliefert.

Er zog sich wieder in den Schatten zurück und ging weiter, bis er die freie Stelle vor dem im Scheinwerferlicht daliegenden Tor erreicht hatte. Seine Augen folgten dem grünen Zaun. Auf der linken Seite verschwand er in der Finsternis des Waldes. Auf der rechten reichte er vielleicht siebzig Meter über das Wachhäuschen hinaus, vorbei an einem Parkplatz mit numerierten Stellflächen für die Touristenbusse und Taxis, und bog dahinter scharf nach Süden ab. Wie er das nicht anders erwartet hatte, war ein Vogelreservat in China umzäunt, um Diebe abzuhalten. Wie d'Anjou es formuliert hatte: »Vögel werden in China seit Jahrhunderten verehrt. Sie gelten als Delikatesse, sowohl für das Auge als auch für den Gaumen.« Echo. Echo war verschwunden. Er fragte sich, ob d'Anjou gelitten hatte ... Keine Zeit.

Stimmen! Borowskis Kopf fuhr zu dem Tor herum. Der chinesische Offizier und ein anderer, viel jüngerer Wachmann -nein, jetzt handelte es sich ganz eindeutig um einen Soldaten -kamen hinter dem Wachhäuschen hervor. Der jüngere Mann schob ein Fahrrad neben sich her, und der Offizier hielt sich ein kleines Funkgerät ans Ohr.

»Kurz nach neun Uhr werden die ersten eintreffen«, sagte er jetzt, ließ das Gerät sinken und schob die Antenne zurück. »Sieben Fahrzeuge in Abständen von drei Minuten.«

»Und der Lastwagen?«

»Wird das letzte Fahrzeug sein.«

Der Wachposten sah auf die Uhr. »Vielleicht sollten Sie dann den Wagen holen. Wenn ein Kontrollanruf kommt, weiß ich Bescheid.«

»Gute Idee«, nickte der Offizier, hängte sich das Funkgerät an den Gürtel und griff nach der Lenkstange des Fahrrads. »Mir gehen diese bürokratischen Weiber, die wie Hunde bellen, auf die Nerven.«

»Trotzdem müssen Sie Geduld mit ihnen haben«, lachte der junge Wachposten. »Und dann müssen Sie sich die Einsamen, die Häßlichen heraussuchen und sie gut bedienen, zwischen den Beinen. Stellen Sie sich nur vor, wenn die Ihnen ein schlechtes

Zeugnis ausstellen würden? Dann könnten Sie diesen herrlichen Posten verlieren.«

»Sie meinen diesen schwachköpfigen Bauern, den Sie abgelöst haben -«

»Nein, nein«, fiel ihm der Posten ins Wort. »Die suchen sich die Jüngeren heraus, die gut aussehen, Leute wie mich. Nach unseren Fotos natürlich. Er ist anders; der zahlt ihnen Yuan aus seinen Verkäufen von Fundsachen. Manchmal frage ich mich, ob er überhaupt etwas verdient.«

»Mir fällt es manchmal schwer, euch Zivilisten zu verstehen.«

»Das darf ich vielleicht verbessern, Herr Oberst. Im wahren China bin ich ein Hauptmann in der Kuomintang.«

Diese Bemerkung verblüffte Jason. Was er gehört hatte, war unglaublich! Im wahren China bin ich ein Hauptmann in der Kuomintang. Im wahren China? Taiwan? Du großer Gott, hat es angefangen! Der Krieg der beiden China? Ging es diesen Männern darum? Wahnsinn! Eine ungeheure Metzelei! Der ganze Pazifikraum würde in Flammen stehen! Herrgott! War er auf seiner Jagd nach einem Killer auf das Undenkbare gestoßen?

Das war einfach zu viel, zu aufwühlend, zu beängstigend. Er mußte jetzt ganz schnell handeln, für Denken war jetzt keine Zeit. Er blickte auf das Leuchtzifferblatt seiner Uhr. Es war 20.54 Uhr. Er wartete, bis der Armeeoffizier an ihm vorbeigeradelt war, und arbeitete sich dann vorsichtig und lautlos durch das Blattwerk, bis er den Zaun sah. Er ging auf ihn zu, holte die Taschenlampe heraus und ließ sie zweimal kurz aufblitzen, um die Ausmaße des Zauns beurteilen zu können. Sie waren ungewöhnlich. Er war an die vier Meter hoch und neigte sich oben mit seinem Stacheldraht nach außen wie ein Gefängniszaun nach innen. Er griff in seine Hüfttasche, drückte die Handgriffe zusammen und holte den Drahtschneider heraus. Dann tastete er mit der linken Hand in die Finsternis, bis er die unterste Drahtreihe gefunden hatte, und setzte sein Werkzeug an.

Wäre David Webb nicht so verzweifelt und Jason Borowski nicht so wütend gewesen, hätte er es nicht geschafft. Das war kein gewöhnlicher Zaun; der Draht war wesentlich stärker, als man ihn irgendwo sonst für Umfriedungen der gewalttätigsten Verbrecher benutzte. Jason mußte für jeden einzelnen Schneidevorgang seine ganze Kraft einsetzen und den Drahtschneider ein paarmal betätigen, bis das Metall schließlich brach. Und jeder einzelne Schneidevorgang kostete wertvolle Minuten.

Wieder sah Borowski auf sein Leuchtzifferblatt. 21.06 Uhr. Er stemmte die Füße gegen den Boden, preßte die Schultern gegen den Drahtzaun und drückte das etwa einen halben Meter hohe Drahtrechteck nach innen. Er kroch hinein, schweißüberströmt, und lag jetzt schwer atmend auf dem Boden. Keine Zeit. 21.08 Uhr.

Unsicher richtete er sich auf die Knie auf, schüttelte den Kopf, um Klarheit in seine Gedanken zu bekommen, und setzte sich nach rechts in Bewegung, hielt sich am Zaun fest, bis er die Ecke vor dem Parkplatz erreicht hatte. Das von Scheinwerfern angeleuchtete Tor lag siebzig Meter links von ihm.

Plötzlich tauchte das erste Fahrzeug auf. Es war eine russische Zia-Limousine, Baujahr Ende der Sechziger. Sie bog jetzt in den Parkplatz ein, auf die erste Position rechts neben dem Wachhäuschen. Sechs Männer stiegen aus und gingen in militärischem Gleichschritt auf den Hauptzugang des Vogelreservats zu. Sie verschwanden in der Finsternis, und die Lichtkegel ihrer Taschenlampen beleuchteten ihren Weg. Jason sah ganz genau hin; den Weg würde er auch einschlagen.

Drei Minuten später, genau nach Plan, fuhr ein zweiter Wagen durch das Tor und parkte neben dem Zia. Drei Männer stiegen aus dem Fond, während der Fahrer und der Beifahrer miteinander redeten. Wenige Sekunden später stiegen auch sie aus, und Borowski mußte sich zusammenreißen, die Beherrschung nicht zu verlieren, als sein Blick den großen, schlanken Menschen erfaßte, der sich katzengleich bewegte, wie er jetzt an dem Wagen entlang zu dem Fahrer ging. Das war der Killer! Das Chaos am Kai-tak-Flughafen hatte die komplizierte Falle in Beijing notwendig gemacht. Wer auch immer auf diesen Killer Jagd machte, mußte schnell gefangen und zum Schweigen gebracht werden. Informationen mußten durchsickern und den Schöpfer des Killers erreichen - und wer kannte die Taktiken dieses Lohnkillers besser als der, der sie ihm beigebracht hatte? Wer war mehr auf Rache aus als der Franzose? Wer sonst war imstande, den anderen Jason Borowski ausfindig zu machen? D'Anjou war der Schlüssel, und der Kunde dieses - des falschen - Jason Borowski wußte es.

Und Jason Borowskis Instinkte - ein Produkt von Medusa, woran er sich schmerzhaft erinnerte - waren richtig. Als die Falle im Mao-Mausoleum so katastrophal versagt hatte, die Entweihung eines Heiligtums, die die ganze Republik erschütterte, hatte sich der Elitezirkel der Verschwörer schnell neu gruppieren müssen, unter strengster Geheimhaltung, da sie sich einer Krise ohnegleichen ausgesetzt sahen; jetzt war keine Zeit zu verlieren, die nächsten Schritte zu überlegen.

Aber Geheimhaltung war unerläßlich. Im wahren China bin ich ein Hauptmann in der Kuomintang. Herrgott! War das möglich!

Geheimhaltung. Für ein verlorenes Königreich? Gab es irgendeinen Ort, wo man es besser finden konnte als in den unberührten Weiten idyllischer staatlicher Vogelreservate, die von mächtigen Maulwürfen der Kuomintang in Taiwan kontrolliert wurden? Eine Strategie, die aus Verzweiflung geboren war, hatte Borowski die Augen geöffnet.

Keine Zeit! Das ist nicht deine Sache! Nur er!

Achtzehn Minuten später waren die sechs Automobile eingetroffen, die Insassen ausgestiegen und hatten sich irgendwo im finsteren Wald des Vogelreservats ihren Kollegen angeschlossen. Schließlich, seit der Ankunft der russischen Limousine waren einundzwanzig Minuten verstrichen, rumpelte ein mit einer Segeltuchplane abgedeckter Lastwagen durchs Tor, beschrieb einen weiten Bogen und parkte neben der letzten Limousine, keine zehn Meter von Jason entfernt. Erschreckt sah er zu, wie gefesselte und geknebelte Männer und Frauen von der Ladefläche gestoßen wurden; sie stürzten ohne Ausnahme, rollten über den Boden und stöhnten vor Schmerzen. Dann sah er, wie am Ende der Ladefläche ein Mann sich wehrte, gegen seine Bewacher ankämpfte und nach den zwei Männern trat, die ihn festhielten und schließlich doch auf den kiesbedeckten Parkplatz hinunterwarfen. Das war kein Chinese ... Borowski erstarrte. Es war d'Anjou! In dem schwachen Licht konnte er erkennen, daß Echos Gesicht verschrammt, daß seine Augen angeschwollen waren. Als der Franzose sich mühsam aufrichtete, knickte ihm immer wieder das linke Bein ein, und doch ließ er sich von seinen Häschern nicht unterkriegen; er blieb trotzig stehen.

Du mußt dich rühren! Etwas tun! Was? Medusa - wir hatten Signale. Was für Signale waren das? O Gott! Steine, Stöcke, Felsbrocken ... Kies! Wirf etwas, um ein Geräusch zu erzeugen, ein schwaches Geräusch, das ablenkt und alles mögliche sein könnte - weit weg, so weit wie möglich weg! Und dann der nächste Schritt. Schnell!

Jason ließ sich im Schatten des Zaunes auf die Knie nieder. Er hob eine Handvoll Kies auf und warf ihn über die Köpfe der sich mühsam aufrichtenden Gefangenen. Das kurze Klappern auf den Dächern einiger Wagen ging unter den erstickten Schreien der gefesselten Gefangenen verloren. Borowski warf noch einmal, diesmal ein paar Steine mehr. Der Bewacher, der neben d'Anjou stand, sah in die Richtung, in der die Steinchen herunterfielen, tat die kleine Ablenkung aber gleich wieder ab, als seine Aufmerksamkeit sich einer Frau zuwandte, die sich aufgerichtet hatte und jetzt auf das Tor zurannte. Er eilte auf sie zu, packte sie am Haar und riß sie in die Gruppe zurück. Wieder griff Jason nach Kieselsteinen.

Und dann hielt er inne. D'Anjou war zu Boden gefallen, sein Gewicht ruhte auf seinem rechten Knie, und seine gefesselten Hände stützten ihn. Er beobachtete den jetzt abgelenkten Bewacher und drehte sich langsam in Richtung auf Borowski herum. Medusa war nie weit von Echo entfernt - er hatte sich erinnert. Schnell hob Jason die Hand, so daß seine Handfläche sichtbar wurde, einmal, zweimal. Der schwache Widerschein des Lichts von seiner Handfläche reichte aus; der Blick des Franzosen wanderte zu ihm herüber. Borowski schob den Kopf im Schatten vor. Echo sah ihn! Ihre Augen begegneten sich. D'Anjou nickte und wandte sich dann ab und richtete sich mühsam und schmerzgekrümmt auf, als der Bewacher zurückkehrte.

Jason zählte die Gefangenen. Es waren, Echo mit eingerechnet, zwei Frauen und fünf Männer. Jetzt wurden sie von ihren Bewachern, die beide Schlagstöcke vom Gürtel genommen hatten und sie jetzt dazu benutzten, den Gefangenen Beine zu machen, auf den Weg vor dem Parkplatz getrieben. D'Anjou stürzte. Sein linkes Bein sackte ein, so daß er beim Fallen zur Seite gedreht wurde. Borowski beobachtete ihn scharf; an dem Sturz war etwas Eigenartiges. Dann begriff er. Die Finger des Franzosen spreizten sich. Jetzt deckte er die Bewegung mit seinem Körper ab und hob zwei Hände Kies auf, und als einer der Bewacher näher kam und ihn hochzog, blickte d'Anjou wieder kurz in Jasons Richtung. Das war ein Signal. Echo würde die Steinchen fallen lassen, um so Borowski eine Spur zu liefern, der er folgen konnte.

Die Gefangenen wurden nach rechts getrieben, aus der kiesbedeckten Zone hinaus, während der junge Wachmann, der

»Hauptmann in der Kuomintang«, das Tor versperrte. Jason rannte hinter dem Zaun hervor in den Schatten, den der Lastwagen bot, zog das Jagdmesser aus der Scheide, kauerte neben der Motorhaube nieder... sah zu dem Wachhäuschen hinüber. Der Posten stand jetzt vor der Tür und sprach in sein Funkgerät. Das Gerät mußte weg. Und der Mann auch.

Feßle ihn. Kneble ihn.

Töte ihn! Du darfst keine unnötigen Risiken eingehen. Hör auf mich!

Borowski ließ sich zu Boden fallen und trieb das Jagdmesser in den linken Vorderreifen des Lastwagens und rannte dann, während die Luft aus dem Reifen entwich, nach hinten und tat dort das gleiche. Dann rannte er um den Lastwagen herum und auf den nächsten Wagen zu. Geduckt jede Schattenpartie ausnutzend, schlitzte er die anderen Reifen des Lkws und die auf der linken Seite der Limousine auf. Das machte er an der ganzen Fahrzeugreihe, bis auf den russischen Zia, der keine zehn Meter vom Wachhäuschen stand. Jetzt war der Posten dran.

Feßle ihn! Töte ihn! Du darfst nichts dem Zufall überlassen, nur so kommst du zu deiner Frau zurück!

Lautlos öffnete Jason die Tür des russischen Wagens, griff hinein und löste die Handbremse. Dann schloß er die Tür ebenso leise und schätzte den Abstand von der Motorhaube bis zum Zaun ab; es waren ungefähr zweieinhalb Meter. Er packte den Fensterrahmen und lehnte sich mit seinem ganzen Gewicht vorwärts, das Gesicht zu einer Grimasse verzerrt, als der schwere Wagen sich in Bewegung setzte. Er versetzte dem Fahrzeug einen letzten Stoß und war schon vor dem danebenstehenden Wagen, als die Limousine gegen den Zaun krachte. Er duckte sich und griff in die rechte Hüfttasche.

Als der verblüffte Posten das Krachen hörte, rannte er um sein Wachhäuschen herum auf den Parkplatz, blickte verblüfft nach allen Seiten und starrte dann den wieder zum Stillstand

gekommenen Zia an. Er schüttelte fassungslos den Kopf und ging zur Tür hinüber.

Borowski sprang aus der Finsternis vor. Er hielt die Spulen in beiden Händen, ließ den Draht über den Kopf des Postens fliegen. Keine drei Sekunden, und es war vorbei. Die Schlinge war tödlich; der Hauptmann der Kuomintang war tot.

Jason zog das Funkgerät von seinem Gürtel und durchsuchte die Kleider des Mannes. Es war immer möglich, etwas Wertvolles zu finden. Und da war es auch! Zuerst eine Pistole, nicht besonders überraschend. Vom selben Kaliber wie die, die er einem anderen Verschwörer in Maos Mausoleum abgenommen hatte. Spezielle Waffen für spezielle Leute, ein weiteres Erkennungszeichen: einheitliche Bewaffnung. Statt einem Schuß verfügte er jetzt über neun, dazu noch über den Schalldämpfer, der verhindert hatte, daß die Ruhe der verehrten Toten in einem verehrten Mausoleum gestört wurde. Und dann fand er noch eine Brieftasche mit Geld und einem Ausweis der Volkssicherheitskräfte. Die Verschwörer hatten Kollegen in hohen Positionen. Borowski rollte die Leiche unter die Limousine und schlitzte ihre Reifen auf. Die schwere Limousine sackte zu Boden. Die Ruhestätte des Hauptmanns von der Kuomintang war sicher und ungestört.

Jason rannte zu dem Wachhäuschen hinüber und überlegte, ob er die Scheinwerfer ausschießen sollte oder nicht, und entschied sich schließlich dagegen. Wenn er überlebte, würde er das Licht brauchen, wenn - wenn! Er mußte überleben! Marie!

Er ging hinein, kniete sich hinter das Fenster und holte die Patronen aus der Pistole des Postens und schob sie in die eigene Waffe. Dann sah er sich nach Einsatzplänen oder Instruktionen um; neben dem Schlüsselbund an einem Wandhaken hing eine Einsatzliste. Er schnappte sich die Schlüssel.

Ein Telefon klingelte! Das Schrillen der Glocke hallte ohrenzerreißend von den Glaswänden des Wachhäuschens wider. Falls ein Kontrollanruf kommt, weiß ich Bescheid. Ein Hauptmann der Kuomintang. Borowski stand auf, nahm das Telefon von der Theke und duckte sich wieder, hielt die Hand über die Sprechmuschel.

»Jing Shan«, sagte er heiser. »Ja?«

»Hallo, mein Schmetterling«, antwortete eine Frauenstimme, in, wie Jason fand, recht unkultiviertem Mandarin. »Wie geht es heute deinen Vögeln?«

»Denen geht es gut, aber mir nicht.«

»Du klingst auch ganz fremd. Ich spreche doch mit Wo, oder nicht?«

»Ja, bloß daß ich mich schrecklich erkältet habe und mich die ganze Zeit übergeben muß und alle zwei Minuten aufs Klo rennen. Ich kann nichts bei mir behalten.«

»Wird das morgen vorbei sein? Ich möchte mich nicht anstecken.«

Du mußt die Einsamen bedienen, die Häßlichen ...

»Ich will dich unbedingt sehen -«

»Du wirst zu schwach sein. Ich rufe dich morgen nacht an.«

»Mein Herz verkümmert wie eine sterbende Blume.«

»Kuhdung!« Die Frau legte auf.

Während des Gesprächs waren Jasons Blicke zu einer schweren Kette gewandert, die in der Ecke des Wachhäuschens lag. Er begriff. In China, wo so viele mechanische Gegenstände versagten, diente die Kette als Sicherheit, falls das Torschloß nicht funktionieren sollte. Auf den Kettengliedern lag ein ganz gewöhnliches stählernes Vorhängeschloß. Einer der Schlüssel in dem Bund sollte in das Schloß passen, dachte er, und probierte einige aus, bis das Schloß aufsprang. Er packte die Kette und wollte schon ins Freie rennen, blieb dann aber stehen, drehte sich um und riß die Telefonschnur aus der Wand. Noch ein mechanischer Gegenstand, der nicht funktionieren würde.

Am Tor wand er die Kette in ihrer ganzen Länge um die Mitte der zwei Pfosten, bis nur noch eine Masse aus Stahlgliedern zu sehen war. Er drückte vier Kettenglieder zusammen, schob den Bügel des Schlosses hinein und drückte es zu. Die ganze Kette war jetzt straff gespannt, und auch eine Kugel, die man in diese Metallmasse feuerte, würde sie keineswegs zerfetzen, sondern eher abprallen und den Schützen und das Leben aller Umstehenden gefährden. Er drehte sich um und eilte, stets im Schatten bleibend, auf dem mittleren Weg davon.

Der Weg war dunkel. Das dichte Gehölz verschluckte den vom beleuchteten Tor zurückgeworfenen Lichtschein, nur am Himmel war noch Licht zu sehen. Er hielt die Taschenlampe in der linken Hand zu Boden gerichtet und entdeckte alle zwei Meter ein Steinchen: kleine Verfärbungen auf dem dunklen Boden in gleichmäßigem Abstand. D'Anjou hatte die Steinchen wahrscheinlich mit Daumen und Zeigefinger glattgerieben, um den Schmutz des Parkplatzes zu entfernen, damit sie besser zu sehen waren. Echo hatte seine Geistesgegenwart nicht verloren.

Plötzlich waren da zwei Steine, nicht einer, und nur wenige Zentimeter voneinander entfernt. Jason blickte auf, kniff die Augen im winzigen Lichtkegel seiner Taschenlampe zusammen. Die zwei Steine waren kein Zufall, sondern wieder ein Signal. Der Hauptweg setzte sich geradeaus fort, aber der, den die Gefangenen hatten einschlagen müssen, bog scharf nach rechts ab. Zwei Steine bedeuteten eine Abzweigung.

Und dann änderte sich plötzlich der Abstand zwischen den Steinen. Immer weiter auseinander lagen sie, und gerade als Borowski glaubte, es kämen keine mehr, sah er noch einen. Und dann lagen wieder zwei auf dem Boden, markierten wieder eine Abzweigung. D'Anjou wußte, daß ihm die Steine ausgingen, und hatte deshalb seine Methode geändert. Jason begriff. Solange die Gefangenen ihren Weg beibehielten, würden jetzt keine Steine mehr kommen, aber bei jeder Abzweigung deuteten zwei Kieselsteine in die richtige Richtung.

Er arbeitete sich an kleinen Sumpfpartien vorbei, tief in die Felder hinein und wieder aus ihnen heraus, und überall war das Flattern von Flügeln und das Kreischen aufgestörter Vögel zu hören, wenn sie in den mondhellen Himmel aufstiegen. Schließlich war da nur noch ein schmaler Pfad, der in eine Art Schlucht hinunterführte.

Er blieb stehen und knipste die Taschenlampe aus. Weiter unten, etwa dreißig Meter weg, war das Glühen einer Zigarette zu sehen. Der Lichtpunkt bewegte sich langsam auf und ab, ein Mann, der nicht gerade vorsichtig war, aber der nicht zufällig dort stand. Und dann spähte Jason in die Finsternis dahinter -durch das dichte Blattwerk der Schlucht waren unregelmäßige Lichter zu sehen. Fackeln vielleicht? Natürlich, das war es, Fackeln. Er hatte sein Ziel erreicht. Dort unten in der Schlucht, hinter dem Posten mit seiner Zigarette, war der Versammlungsplatz.

Borowski zwängte sich in das dichte Unterholz zur Rechten des Weges. Bald mußte er feststellen, daß die lianenartigen Gewächse wild gewachsen und im Lauf der Jahre neinander verwoben wie Fischernetze waren. Sie auseinanderzureißen oder zu zerbrechen würde Lärm machen, der nicht zu den normalen Geräuschen des Vogelreservats paßte. Das Knicken von Zweigen klang anders als das Flattern von Vogelschwingen oder das Kreischen aufgestörter Bewohner des Reservats. Er griff nach seinem Messer und wünschte, die Klinge wäre länger. Er brauchte für die paar Meter fast zwanzig Minuten, um sich lautlos einen Pfad bis zu dem Posten zu bahnen.

»Mein Gott!« Jason hielt den Atem an und unterdrückte einen Schrei. Er war ausgeglitten; das glitschige, zischende Geschöpf unter seinem linken Fuß war wenigstens eineinhalb Meter lang. Jetzt wand es sich um sein Bein, und er packte in seinem Schrecken danach, zog es von seinem Fleisch weg und schnitt es mit dem Messer auseinander. Die Schlange schlug ein paar Sekunden wild um sich, dann ließen ihre Zuckungen nach; sie war tot und entrollte sich zu seinen Füßen. Er schloß die Augen und schauderte, ließ einen Augenblick verstreichen. Dann kauerte er sich wieder nieder und kroch näher an den Posten heran, der sich gerade wieder eine Zigarette anzündete, oder besser gesagt, versuchte, sie mit einem Streichholz nach dem anderen anzuzünden, von denen keines Feuer fing.

»Ma de shizi, shizi!« stieß er halblaut hervor, die Zigarette im Mund.

Borowski kroch weiter, schnitt die letzten paar dicken Halme weg, bis er nur noch zwei Meter von dem Mann entfernt war. Er schob das Jagdmesser in die Scheide und griff wieder in die Hüfttasche nach seinen Drahtspulen. Kein Messerstich durfte dem Mann noch einen Schrei erlauben; ein konvulsivischer letzter Atemzug war das einzig gegebene Ende.

Er ist ein menschliches Wesen! Ein Sohn, ein Bruder, ein Vater!

Er ist der Feind. Unser Ziel. Das ist alles. Marie gehört dir, nicht denen.

Jason Borowski stürzte sich aus dem Gras vorwärts, als der Mann den ersten Zug inhalierte. Der Rauch quoll aus seinem weit aufgerissenen Mund. Die Drahtschlinge spannte sich, und dann stürzte der Mann mit durchschnittener Luftröhre ins Unterholz, schlaff und tot.

Jason riß den blutigen Draht zurück, wischte ihn im Gras ab, rollte die Spulen zusammen und stopfte sie sich wieder in die Tasche. Er zerrte die Leiche tiefer ins Unterholz, weg vom Weg, und durchsuchte die Taschen des Postens. Das erste, was er fand, fühlte sich wie ein Bündel zusammengefaltetes Toilettenpapier an, in China eine Mangelware. Er zog die Taschenlampe vom Gürtel, hielt die Hand darüber und betrachtete erstaunt seinen Fund. Das Papier war zusammengefaltet und weich, aber es handelte sich nicht um Toilettenpapier. Es war Geld, Tausende von Yuan, mehr als die meisten Chinesen in Jahren verdienten. Der Posten am Tor, der »Hauptmann der Kuomintang«, hatte auch Geld gehabt mehr als Jason für normal hielt -, aber bei weitem nicht so viel wie dieser. Als nächstes kam eine Brieftasche mit Fotos von Kindern, die Borowski schnell wieder zurücksteckte, ein Führerschein und ein Ausweis für ein Mitglied der Volkssicherheitskräfte! Jason zog das Papier heraus, das er der Brieftasche des ersten Postens entnommen hatte, und legte die beiden Ausweise nebeneinander auf den Boden. Sie waren identisch. Er faltete beide zusammen und steckte sie in die Tasche. Der letzte Gegenstand war ebenso verblüffend wie interessant. Es war ein Passierschein, der seinem Besitzer den Zugang zu den Freundschaftsläden erlaubte, jenen Geschäften, die für ausländische Reisende eingerichtet waren und zu denen Chinesen, abgesehen von höchsten Regierungsbeamten, keinen Zutritt hatten. Wer auch immer diese Männer hier waren, dachte Borowski, sie waren eine seltsame elitäre Gruppe. Untergeordnete Posten trugen Unsummen Geld bei sich und genossen Privilegien, wie sie eigentlich nur wesentlich höheren Rangstufen zukamen, und hatten Ausweise der Geheimpolizei. Wenn es wirklich Verschwörer waren - und alles, was er von Shenzen bis zu diesem Vogelreservat gehört hatte, schien das zu bestätigen -, dann reichte diese Verschwörung weit in die Hierarchie von Beijing hinein. Keine Zeit! Das betrifft dich nicht!

Die Waffe, die der Mann umgeschnallt hatte, war, wie zu erwarten, der ähnlich, die in seinem Gürtel steckte, oder jener, die er am Jing-Shan-Tor in den Wald geworfen hatte. Es war eine hochwertige Waffe, und Waffen waren Symbole. Eine Präzisionswaffe war ebenso ein Statussymbol wie eine teure Uhr, von der es zwar Nachahmungen gab, die ein geschulter Blick aber sofort durchschaute. Eine solche Waffe konnte man herzeigen, um seinen Status unter Beweis zu stellen. Sie war das Erkennungszeichen einer Elite. Keine Zeit! Das geht dich nichts an! Weiter!

Jason entlud die Pistole, steckte die Munition ein und warf die Waffe in den Wald. Dann kroch er auf den Weg hinaus und ging langsam und lautlos auf die flackernden Lichter hinter der Wand aus hohen Bäumen zu.

Was er sah, war keine Schlucht. Es war ein riesiger Krater aus prähistorischen Zeiten, eine Wunde, die bis in die Eiszeit zurückreichte und noch nicht geheilt war. Vögel flatterten darüber, neugierig und erschreckt; aufgestörte Eulen schrien mißtönend. Borowski stand am Rand des Abhangs und blickte zwischen den Bäumen auf die fackelbeleuchtete Versammlung. David Webb stöhnte, hätte sich am liebsten übergeben, aber ein eiskalter Befehl hielt ihn davon ab.

Hör auf. Beobachte. Finde heraus, womit wir es zu tun haben.

An einem kräftigen Ast hing ein Gefangener an einem Seil, das mit seinen gefesselten Handgelenken verbunden war, die Arme über sich ausgestreckt, die Füße wenige Zoll vom Boden. Seiner Kehle entrangen sich trotz des Knebels im Mund unartikulierte Laute. Seine Augen flackerten wild.

Ein schlanker Mann mittleren Alters in langen Hosen und Mao-Jacke stand vor dem sich heftig windenden Körper. Seine rechte Hand umschloß das juwelenbesetzte Heft eines dünnen Schwertes, dessen Spitze in der Erde steckte. David Webb erkannte die Waffe. Es handelte sich um das Zeremonienschwert eines Kriegsherrn aus dem vierzehnten Jahrhundert, einer brutalen Kaste von Militaristen, die Dörfer und Städte und ganze Landstriche vernichtet hatten, die auch nur im Verdacht standen, sich dem Willen der Yuan-Kaiser zu widersetzen. Doch diese Schwerter wurden nicht nur für Zeremonien, sondern auch für ganz brutale Zwecke gebraucht. David spürte eine Welle der Übelkeit in sich aufsteigen, als er die Szene unter sich beobachtete.

»Hört mir zu!« schrie der schlanke Mann und drehte sich zu seinen Zuhörern herum. Seine Stimme klang schrill, aber entschlossen, und zwang die Zuhörer in ihren Bann. Borowski kannte ihn nicht, aber sein Gesicht war nicht zu vergessen. Das kurzgestutzte graue Haar, die hageren, bleichen Züge -und ganz besonders sein Blick. Jason konnte seine Augen nicht deutlich erkennen, aber der Feuerschein der Fackeln spiegelte sich in ihnen. Und diese Augen loderten ebenso.

»Die Nächte des Großen Schwertes beginnen!« schrie der schlanke Mann. »Und sie werden sich fortsetzen, Nacht für Nacht, bis alle, die uns verraten würden, zur Hölle geschickt sind! Jedes einzelne dieser giftigen Insekten hat sich an unserer heiligen Sache versündigt, hat Verbrechen begangen, die zu dem großen Verbrechen führen könnten, die nach dem Schwert verlangen.« Er wandte sich dem gefesselten Gefangenen zu. »Du! Die Wahrheit, und nichts als die Wahrheit! Kennst du die Langnase?«

Der Gefangene schüttelte den Kopf, und wieder drang unterdrücktes Stöhnen aus seiner Kehle.

»Lügner!« schrillte eine Stimme aus der Menge. »Er war heute nachmittag am Tian An Men!«

»Er hat gegen das wahre China gesprochen!« schrie ein anderer. »Ich habe ihn im Hua-Gong-Park bei den jungen Leuten gehört!«

»Und in dem Kaffeehaus an der Xidan Bei!«

Der Gefangene zuckte zusammen, und seine geweiteten Augen starrten erschreckt in die Menge. Borowski begriff. Der Mann hörte hier Lügen und wußte nicht warum, aber Jason wußte es. Die Inquisition tagte; ein Unruhestifter, oder ein Mann mit Zweifeln, wurde im Namen eines größeren Verbrechens eliminiert. Die Nächte des Großen Schwertes beginnen - Nacht für Nacht! Eine Schreckensherrschaft in einem kleinen, blutigen Reich inmitten eines riesigen Landes, wo jahrhundertelang blutrünstige Kriegsherren gewütet hatten.

»Das hat er getan?« schrie der hagere Redner. »Das hat er

gesagt?«

Ein fanatisches Stimmengewirr erfüllte die Schlucht.

»Am Tian An Men ...!«

»Er hat mit der Langnase gesprochen ...!«

»Er hat uns alle verraten ...!«

»Er will unseren Tod, unsere Niederlage ...!«

»Er spricht gegen unsere Führer, will ihren Tod ...!«

»Sich gegen unsere Führer zu stellen«, sagte der Mann mit dem Schwert ruhig, aber immer lauter werdend, »heißt, sie in den Schmutz ziehen. Das ist eine Sünde gegen die Gabe des Lebens. Wer sich dagegen versündigt, verdient nicht zu leben.«

Der gefesselte Mann bäumte sich wieder auf, so daß er an seinem Seil zu schwanken begann, und sein Stöhnen wurde lauter und mischte sich in das der anderen Gefangenen, die angesichts der bevorstehenden Exekution vor dem Sprecher knien mußten. Nur einer versuchte immer wieder, sich aufzurichten, und wurde von dem Wächter, der neben ihm stand, immer wieder niedergedrückt. Das war Philippe d'Anjou. Echo sandte eine weitere Nachricht zu Delta, aber Jason Borowski konnte sie nicht verstehen.

»... dieser kranke, undankbare Heuchler, dieser Lehrer der Jungen, den wir wie einen Bruder unter uns aufgenommen haben, weil wir die Worte glaubten, die er sprach - so mutig sprach, wie wir dachten, im Gegensatz zu denen, die unser Mutterland quälen -, ist mehr als ein Verräter. Seine Worte sind hohl. Er ist ein verschworener Begleiter der verräterischen Winde, und die würden ihn zu unseren Feinden tragen, zu denen, die Mutter China quälen! Vielleicht wird der Tod ihm die Läuterung bringen!« Der Redner zog das Schwert aus dem Boden und hob es über seinen Kopf.

Und auf daß sein Same sich nicht verbreite. David Webb, der Gelehrte, erinnerte sich an die Worte des alten Rituals und hätte am liebsten die Augen geschlossen, hätte ihm das sein anderes Ich nicht verboten. Zerstören wir den Quell, dem der Same entspringt, und beten wir zu den Geistern, auf daß sie alles das zerstören mögen, in das er hier auf Erden eingedrungen ist.

Das Schwert fuhr herunter und hackte die Genitalien des schreienden, sich windenden Körpers ab.

Und auf daß seine Gedanken sich nicht verbreiten mögen und die Unschuldigen und die Schwachen verseuchen, beten wir zu den Geistern, auf daß sie sie zerstören mögen, wo immer sie sind, so wie wir hier den Quell zerstören, dem sie entspringen.

Jetzt beschrieb das Schwert einen waagrechten Bogen und durchschnitt den Hals des Gefangenen. Der zuckende Körper fiel in einem Schwall von Blut zu Boden, und der schlanke Mann mit den lodernden Augen hieb mit dem Schwert auf den abgeschlagenen Kopf, bis keine Ähnlichkeit mit einem menschlichen Gesicht mehr zu erkennen war.

Der Rest der entsetzten Gefangenen erfüllte die Schlucht mit Klagegeschrei und wand sich auf dem Boden, bettelte um Gnade. Nur einer nicht. D'Anjou richtete sich auf und starrte stumm den Mann mit dem Schwert an. Der Wächter ging auf ihn zu und sagte etwas, worauf der Franzose sich halb herumdrehte und ihm ins Gesicht spuckte. Der Posten fuhr, vielleicht benommen von dem, was er eben mit angesehen hatte, zurück. Was tat Echo da? Was war seine Botschaft?

Dann blickte Borowski zu dem Henker mit dem hageren Gesicht und dem kurz gestutzten grauen Haar hinüber. Jetzt wischte er die lange Klinge seines Schwertes mit einem weißen Seidentuch ab, während Helfer die Leiche und die Überreste des Schädels des Gefangenen entfernten. Er deutete auf eine auffällig attraktive Frau, die jetzt von den zwei Wachen zu dem Seil hinübergezerrt wurde. Ihre Haltung war aufrecht, trotzig.

Delta studierte das Gesicht des Henkers. Unter den irre flammenden Augen war der dünne Mund des Mannes zu einem schmalen Schlitz verzerrt. Er lächelte.

Er war ein toter Mann. Irgendwann, irgendwo würde er sterben. Vielleicht heute noch. Ein Henker, ein blutbesudelter blinder Fanatiker, der den Osten in einen unvorstellbaren Krieg stürzen wollte - China gegen China, und der Rest der Welt würde folgen.

Heute nacht!

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