»Da ist das Haus, das mit der hohen Mauer«, sagte CIA-Agent Matthew Richards, während er den Wagen in Victoria Peak bergauf lenkte. »Nach unseren Informationen wimmelt das Grundstück von Ledernacken, und es wäre für mich verflucht unangenehm, wenn man mich mit Ihnen hier sehen würde.«
»Ich habe so das Gefühl, Sie wollen noch ein paar Dollar Schulden mehr bei mir machen«, sagte Alex Conklin, beugte sich vor und spähte durch die Windschutzscheibe. »Darüber ließe sich reden.«
»Ich will da einfach nicht hineingezogen werden, Herrgott! Und Dollars habe ich keine.«
»Armer Matt, trauriger Matt. Sie nehmen das alles zu wörtlich.«
»Ich weiß nicht, wovon Sie reden.«
»Ich bin auch nicht sicher, ob ich das weiß, aber fahren Sie einfach an dem Haus vorbei, als ob Sie irgendwo anders hin wollten. Ich sag Ihnen, wann Sie anhalten müssen und mich aussteigen lassen.«
»Das werden Sie?«
»Unter gewissen Umständen. Die Dollars.«
»Oh, Scheiße.«
»Die sind gar nicht so schwer zu bekommen, und vielleicht verlange ich sie gar nicht zurück. So wie ich die Dinge jetzt sehe, will ich auf Eis bleiben und unsichtbar. Mit anderen Worten, ich will einen Mann drinnen haben. Ich werde Sie jeden Tag ein paarmal anrufen und fragen, ob unsere Verabredung zum Mittagessen oder zum Abendessen noch gültig ist oder ob ich Sie beim Rennen in Happy Valley sehe -«
»Nicht dort«, unterbrach Richards.
»Na schön, dann eben im Wachsfigurenkabinett - alles, was mir gerade einfällt, nur nicht die Rennbahn. Wenn Sie sagen, mein, >ich habe keine Zeitc, dann wird mir das sagen, daß man mir noch nicht nähergerückt ist. Wenn Sie >ja< sagen, dann verschwinde ich.«
»Ich weiß nicht einmal, wo Sie wohnen! Sie haben mir gesagt, ich soll Sie an der Ecke Granville Carnarvon abholen.«
»Ich vermute, daß man Ihre Einheit einsetzen wird, um die Verbindungen sauberzuhalten. Damit hat man auch die Verantwortung dort, wo sie hingehört. Die Briten werden darauf bestehen. Die lassen sich ganz bestimmt nicht darauf ein, als die Dummen dazustehen, wenn Washington Mist baut. Die Briten haben es hier zur Zeit ohnehin nicht leicht, also sorgen die dafür, daß ihr Arsch sauber bleibt.« Sie fuhren an dem Tor vorbei. Conklin musterte den viktorianischen Eingang.
»Alex, ich schwöre Ihnen, ich habe keine Ahnung, wovon Sie reden.«
»Das ist ja sogar noch besser. Also, wie steht's? Sind Sie mein Guru dort drinnen?«
»Zum Teufel, ja. Ich kann die Ledernacken auch nicht leiden.«
»Schön. Dann halten Sie hier. Ich steige aus und gehe zu Fuß zurück. Falls man mich fragt, bin ich mit der Straßenbahn zum Peak gefahren, hab mir ein Taxi zum falschen Haus genommen und bin dann den Rest des Weges zu Fuß gegangen. Sind Sie jetzt zufrieden, Matt?«
»Begeistert«, sagte der Agent und blickte finster, als er den Wagen zum Stehen brachte.
»Sie sollten gründlich ausschlafen. Saigon liegt jetzt ein gutes Stück zurück, und je älter wir werden, desto mehr Schlaf brauchen wir.«
»Ich habe gehört, Sie hätten angefangen zu saufen. Das stimmt doch nicht, oder?«
»Sie haben das gehört, was Sie hören sollten«, erwiderte Conklin ausdruckslos. Diesmal konnte er allerdings beide Finger kreuzen, ehe er etwas schwerfällig aus dem Wagen stieg.
Ein kurzes Klopfen, und die Tür flog auf. Havilland blickte verblüfft auf, als Edward McAllister mit aschfahlem Gesicht in das Zimmer gestürzt kam. »Conklin ist am Tor«, sagte der Staatssekretär. »Er besteht darauf, Sie zu sprechen, und sagt, er würde, wenn nötig, die ganze Nacht dort warten. Und dann hat er noch gesagt, daß er auf der Straße Feuer machen würde, um sich warm zu halten, wenn es kühl werden sollte.«
»Krüppel oder nicht, er ist immer noch derselbe Angeber«, sagte der Botschafter.
»Das kommt völlig unerwartet«, fuhr McAllister fort und rieb sich die rechte Schläfe. »Wir sind nicht auf eine Konfrontation vorbereitet.«
»Scheint nur, daß wir keine Wahl haben. Das ist eine öffentliche Straße, und falls unsere Nachbarn unruhig werden, ist das Sache der Feuerwehr.«
»Er würde doch ganz sicher nicht -«
»Er würde ganz sicher«, unterbrach ihn Havilland. »Lassen Sie ihn herein. Das ist nicht nur unerwartet, das ist auch äußerst ungewöhnlich. Er hatte nicht genug Zeit, seine Fakten in die richtige Reihenfolge zu bringen oder einen Angriff zu organisieren, der ihm einen Vorteil verschafft. Er zeigt ganz offen, daß er interessiert ist, und das tut ein Mann wie er angesichts seiner jahrzehntelangen Erfahrung in dubiosen Operationen nicht ohne weiteres. Das ist viel zu gefährlich. Er selbst hat einmal einen Mann auf die Abschußliste gesetzt.«
»Wir können doch davon ausgehen, daß er mit der Frau in Verbindung ist«, protestierte der Staatssekretär und ging auf das Telefon auf dem Tisch des Botschafters zu. »Damit hat er doch alle Fakten, die er braucht!«
»Nein, die hat er nicht. Sie hat sie auch nicht.«
»Und Sie«, sagte McAllister, die Hand am Telefonhörer. »Wie kommt es, daß er weiß, daß er zu Ihnen muß?«
Havilland grinste grimmig. »Dazu brauchte er bloß zu hören, daß ich in Hongkong bin. Außerdem haben wir miteinander geredet, und ich bin sicher, daß er daraus die richtigen Schlüsse gezogen hat.«
»Aber dieses Haus?«
»Das wird er uns ne sagen. Conklin ist ein alter Hase, Herr Staatssekretär, und verfügt über Kontakte, die wir nicht einmal ahnen. Und was ihn hierherführt, wird er uns ja erst sagen, wenn wir ihn hereinlassen, nicht wahr?«
»Allerdings.« McAllister nahm den Hörer ab und wählte eine dreistellige Nummer. »Wachoffizier? ... Lassen Sie Mr. Conklin ein; durchsuchen Sie ihn nach Waffen und bringen Sie ihn persönlich in das Büro im Ostflügel ... Was hat er? ... lassen Sie ihn sofort herein und machen Sie das verdammte Ding aus!«
»Was ist passiert?« fragte Havilland.
»Er hat auf der anderen Straßenseite Feuer gemacht.«
Alexander Conklin hinkte in den prunkvoll ausgestatteten viktorianischen Raum, während der Offizier die Tür hinter ihm schloß. Havilland erhob sich aus seinem Sessel und kam ihm mit ausgestreckter Hand um den Schreibtisch herum entgegen.
»Mr. Conklin?«
»Kein Händedruck, Herr Botschafter. Ich will mich nicht anstecken.«
»Ich verstehe. Ihr Zorn schließt Höflichkeit aus?«
»Nein, ich will mir wirklich nichts einfangen. An Ihnen ist was oberfaul. Sie haben sich da irgend etwas geholt. Eine schlimme Krankheit, glaube ich.«
»Und was wäre das für eine Krankheit?«
»Der Tod.«
»So melodramatisch? Lassen Sie das, Mr. Conklin, das ist unter Ihrer Würde.«
»Nein, das ist mir ernst. Vor nicht einmal zwanzig Minuten habe ich gesehen, wie jemand umgebracht wurde, auf der Straße niedergemäht, mit dreißig oder vierzig Kugeln im Leib. Sie wurde gegen die Glastür ihres Appartementhauses geschleudert, und ihr Fahrer wurde im Wagen abgeknallt. Ich sage Ihnen, das sieht schrecklich aus, mit Glassplittern und Blut auf - «
Havillands Augen waren vor Schrecken groß geworden, aber McAllisters hysterische Stimme unterbrach den CIA-Mann mitten im Satz. »Sie? War es die Frau?«
»Eine Frau«, sagte Conklin und wandte sich dem Staatssekretär zu, den er bisher noch nicht zur Kenntnis genommen hatte, »Sind Sie McAllister?«
»Ja.«
»Ihnen gebe ich auch nicht die Hand. Sie hatte mit Ihnen beiden zu tun.«
»Webbs Frau ist tot?« schrie der Staatssekretär, der immer noch wie vom Schlag gerührt dastand.
»Nein, aber vielen Dank für die Bestätigung.«
»Du lieber Gott!« rief Havilland. »Es war Catherine Staples.«
»Geben Sie dem Mann eine Scherzzigarre. Und nochmals vielen Dank für die zweite Bestätigung. Haben Sie vor, in nächster Zeit mit dem Hochkommissar des kanadischen Konsulats zu Abend zu essen? Ich wäre gerne dabei - bloß um dem berühmten Botschafter Havilland bei der Arbeit zusehen zu können. Heiliges Kanonenrohr, ich wette, wir untergeordneten Typen könnten da eine ganze Menge lernen.«
»Halten Sie den Mund, Sie verfluchter Vollidiot'.« schrie Havilland, ging um den Schreibtisch zurück und ließ sich in den Sessel fallen. Dann lehnte er sich zurück und schloß die Augen.
»Genau das werde ich nicht tun«, sagte Conklin und trat vor, wobei er mit seinem Klumpfuß heftig aufstampfte. »Sie sind verantwortlich, ... Sir!« Der CIA-Mann beugte sich vor und hielt sich an der Schreibtischkante fest. »Ebenso wie Sie für das verantwortlich sind, was David und Marie Webb zugestoßen ist! Zum Teufel, für wen halten Sie sich eigentlich? Ich habe einiges hinter mir, aber so viel Scheiße auf einem Haufen habe ich noch nie gesehen. Wie Sie sich nur nicht schämen, aus Menschen verängstigte Marionetten zu machen, die nach Ihrer verdammten Pfeife tanzen! Ich wiederhole, Sie aristokratischer Scheißkaffer, für wen, zum Teufel, halten Sie sich eigentlich?«
Havilland öffnete die Augen einen schmalen Schlitz weit und beugte sich vor. Sein Ausdruck war der eines alten Mannes, der bereit war, jederzeit zu sterben, wenn bloß der Schmerz nachlassen würde. Aber gleichzeitig loderte eine kalte Wut in diesen Augen, die Dinge sahen, die anderen verschlossen blieben. »Würde es Ihnen weiterhelfen, wenn ich Ihnen sagte, daß Catherine Staples im wesentlichen genau dasselbe zu mir gesagt hat?«
»Das würde es bestätigen!«
»Und doch ist sie umgebracht worden, weil sie auf unsere Seite übergewechselt ist. Das hat ihr keinen Spaß gemacht, aber nach ihrer Meinung gab es keine Alternative dazu.«
»Noch eine Marionette?«
»Nein, ein menschliches Wesen mit einem erstklassigen Verstand und einer Fülle an Erfahrung, eine Frau, die begriff, womit wir es zu tun haben. Ich bedauere ihren Verlust zutiefst -und die Art und Weise, wie sie gestorben ist -, und zwar mehr, als Sie sich vorstellen können.«
»Ist es ihr Verlust, Sir, oder die Tatsache, daß man Ihre hochheilige Operation durchschaut hat?«
»Wie können Sie das wagen?« Havilland sagte das mit tiefer, eisiger Stimme, erhob sich und starrte den CIA-Mann an. »Sie kommen reichlich spät auf die Idee, den Moralapostel zu spielen, Mr. Conklin. Ausgerechnet Sie müssen mir das sagen. Wenn es nach Ihrem Kopf gegangen wäre, gäbe es keinen David Webb und keinen Jason Borowski. Sie waren es, der ihn auf die Abschußliste gesetzt hat, sonst niemand. Sie haben seine Exekution geplant, und beinahe wäre es Ihnen gelungen.«
»Für den Fehler habe ich bezahlt. Herrgott, und wie ich dafür bezahlt habe!«
»Und ich vermute, Sie bezahlen immer noch dafür, sonst wären Sie jetzt nicht in Hongkong«, sagte der Botschafter und nickte langsam. Seine Stimme hatte inzwischen wieder einen einigermaßen normalen Tonfall angenommen. »Jetzt stecken Sie Ihre Kanone weg, Mr. Conklin, dann werde ich dasselbe tun. Catherine Staples hat wirklich verstanden, was ich ihr klargemacht habe, und wenn ihr Tod eine Bedeutung hat, dann sollten wir versuchen, diese Bedeutung zu finden.«
»Ich habe nicht die leiseste Ahnung, wo man da mit Suchen anfangen muß.«
»Sie werden alles erfahren ... wie Catherine Staples das erfahren hat.«
»Vielleicht sollte ich das gar nicht hören.«
»Ich habe keine Wahl, als darauf zu bestehen, daß Sie mir zuhören.«
»Ich glaube, Sie haben mir nicht zugehört. Ihre Operation ist enttarnt! Die Staples ist getötet worden, weil man annahm, daß sie über Informationen verfügte, die es erforderlich machten, sie zum Schweigen zu bringen. Um es kurz zu sagen, der Maulwurf, den Sie hier sitzen haben, hat Catherine Staples und Sie zusammen gesehen. Die kanadische Verbindung wurde hergestellt, ein Befehl erteilt, und Sie lassen sie ohne Schutz herumlaufen!«
»Haben Sie Angst um Ihr Leben?« fragte der Botschafter
»Dauernd«, erwiderte der CIA-Mann. »Und im Augenblick mache ich mir um noch jemanden Sorgen.«
»Webb?«
Conklin schwieg ein paar Augenblicke und musterte das Gesicht des alten Diplomaten. »Wenn das zutrifft, was ich glaube«, sagte er dann leise. »Es gibt nichts, was ich für Delta tun könnte, was er nicht besser selber kann. Aber wenn er es nicht schafft, dann weiß ich, worum er mich bitten würde. Daß ich Marie schütze. Und das kann ich am besten, indem ich Sie bekämpfe und Ihnen nicht zuhöre.«
»Und wie beabsichtigen Sie, gegen mich zu kämpfen?«
»Auf die einzige Art und Weise, auf die ich mich verstehe. Unter der Gürtellinie und mit schmutzigen Methoden. Ich werde dafür sorgen, daß in allen dunklen Ecken in Washington bekannt wird, daß Sie diesmal zu weit gegangen sind, daß Sie die Dinge aus dem Griff verloren haben, daß Sie vielleicht in Ihrem Alter ein bißchen verrückt geworden sind. Ich habe Maries Bericht und den von Mo Panov -«
»Morris Panov?« unterbrach Havilland vorsichtig. »Webbs Psychiater?«
»Jetzt kriegen Sie noch eine Scherzzigarre. Und zu guter Letzt kann ich zu der Geschichte auch noch etwas beitragen. Übrigens, um Ihrem Gedächtnis auf die Sprünge zu helfen, ich bin es, der mit David gesprochen hat, ehe er hierherkam. Das alles zusammengenommen, in Verbindung mit dem brutalen Mord an einer Beamtin des kanadischen Konsulats, würde sich recht interessant anhören, und interessanter Lesestoff wäre es auch, als beeidete Aussagen sorgfältig verbreitet natürlich.«
»Wenn Sie das tun, setzen Sie alles aufs Spiel.«
»Ihr Problem, nicht meines.«
»Dann würde ich wiederum keine Wahl haben«, sagte der Botschafter, und wieder klang seine Stimme ebenso eisig wie seine Augen blickten. »So wie Sie einmal einen Befehl erteilt haben, einen Mann auf die Abschußliste zu setzen, würde ich mich gezwungen sehen, dasselbe zu tun. Sie würden dieses Haus nicht lebend verlassen.«
»O mein Gott!« flüsterte McAllister.
»Das wäre das Dümmste, was Sie tun könnten«, sagte Conklin, ohne den Blick von Havilland zu lösen. »Sie wissen nicht, was ich hinterlassen habe und auch nicht, bei wem. Oder was an die Öffentlichkeit getragen würde, wenn ich nicht innerhalb bestimmter Zeiten mit ganz bestimmten Leuten Verbindung aufnehme und so weiter. Sie sollten mich nicht unterschätzen.«
»Wir haben schon daran gedacht, daß Sie uns mit einer solchen Taktik kommen würden«, sagte der Diplomat und ließ den CIA-Mann stehen und kehrte zu seinem Sessel zurück. »Sie haben auch noch etwas anderes hinterlassen, Mr. Conklin. Um es höflich auszudrücken, wenn auch vielleicht zutreffend, so war bekannt, daß Sie unter einer chronischen Krankheit litten, die sich Alkoholismus nennt. In Erwartung Ihrer bevorstehenden Pensionierung und in Anerkennung Ihrer Leistungen in der Vergangenheit hat man von Disziplinarmaßnahmen abgesehen,
Ihnen aber auch keine Verantwortung mehr übertragen. Man hat Sie einfach toleriert, ein nutzloses Relikt, das ohnehin bald den Dienst quittieren würde, ein Trunkenbold, dessen paranoide Ausbrüche Ihren Kollegen viel Gesprächsstoff geliefert haben. Was auch immer an die Oberfläche geschwemmt würde, aus welcher Quelle auch immer, würde als das zusammenhanglose Geschwätz eines verkrüppelten, psychopathischen Alkoholikers eingestuft werden.« Der Botschafter lehnte sich in seinem Sessel zurück, die Ellbogen aufgestützt und die langen Finger der rechten Hand abgeknickt. »Sie sind zu bedauern, Mr. Conklin, nicht zu tadeln. Das Ineinandergreifen der Ereignisse könnte durch Ihren Selbstmord dramatisiert werden -«
»Havilland!« schrie McAllister erschrocken.
»Bleiben Sie ganz ruhig, Herr Staatssekretär«, sagte der Diplomat. »Mr. Conklin und ich wissen, wo wir herkommen. Wir haben das beide schon durchgemacht.«
»Nur mit einem Unterschied«, wandte Conklin ein, dessen Blick Havilland noch immer nicht losgelassen hatte. »Mir hat dieses Spiel nie Vergnügen bereitet.«
»Glauben Sie denn, mir?« Das Telefon klingelte. Havillands Hand schoß vor, packte es. »Ja?« Der Botschafter lauschte, runzelte die Stirn, starrte zum Fenster hinüber. »Wenn ich nicht schockiert klinge, Major, dann, weil die Nachricht mich schon vor ein paar Minuten erreicht hat ... nein, nicht die Polizei, sondern ein Mann, den Sie heute abend kennenlernen sollen. Sagen wir in zwei Stunden, wäre das recht? ... er ist jetzt einer von uns.« Havilland hob den Blick, sah Conklin an. »Es gibt Leute, die sagen, er sei besser als die meisten von uns, und ich muß einräumen, daß seine Leistungen in der Vergangenheit dafür sprechen ... ja, das ist er ... ja, das werde ich ihm sagen ... was? Was haben Sie gesagt?« Wieder sah der Diplomat zum Fenster hinüber, und sein Blick wurde finster. »Die haben sich schnell Deckung besorgt, nicht wahr? Zwei Stunden, Major.« Havilland legte auf und stützte beide Ellbogen auf den Tisch,
faltete die Hände. Er atmete tief, ein alter Mann, der seine Gedanken sammelte und im Begriff war, zu sprechen.
»Sein Name ist Lin Wenzu«, sagte Conklin und verblüffte damit Havilland ebenso wie MacAllister. »Er ist von der MI-6. Er ist Chinese und in England erzogen und gilt so ziemlich als der beste Geheimdienstmann in der Kronkolonie. Sein einziges Handicap ist seine Größe. Man entdeckt ihn leicht.«
»Wo -?« McAllister trat einen Schritt auf den CIA-Mann zu.
»Ein kleines Vögelchen ...«, sagte Conklin.
»Ein rothaariger Kardinalsvogel, nehme ich an«, sagte der Diplomat.
»Nein, nicht mehr«, erwiderte Alex.
»Ich verstehe.« Havilland löste die Hände voneinander und ließ die Arme auf den Schreibtisch sinken. »Er kennt Sie auch.«
»Kein Wunder. Er war an dem Einsatz im Bahnhof von Kowloon beteiligt.«
»Er hat mir aufgetragen, Ihnen zu gratulieren, Ihnen zu sagen, Ihr Sprinter sei ihnen entkommen.«
»Der Mann ist gut.«
»Er weiß, wo er zu finden ist, will aber keine Zeit vergeuden.«
»Noch besser. Vergeudung ist Vergeudung. Er hat Ihnen noch etwas anderes gesagt, und da ich Ihre schmeichelhafte Äußerung über meine Vergangenheit gehört habe, hätte ich das gerne auch gewußt.«
»Dann werden Sie mich also anhören?«
»Oder in einer Kiste hinausgetragen werden? Oder mehreren Kisten? Welche Wahl habe ich denn?«
»Ja, ganz richtig«, sagte der Diplomat. »Das müßte ich wohl tun, wissen Sie.«
»Ich weiß, daß Sie das wissen, Herr General.«
»Jetzt werden Sie beleidigend.«
»Sie auch. Was hat Ihnen der Major gesagt?«
»Ein Terroristen-Tong aus Macao hat die South China News Agency angerufen und die Verantwortung für die Morde übernommen. Nur daß sie gesagt haben, das mit der Frau sei ein Versehen gewesen, die Zielperson sei der Fahrer gewesen. Er habe vor zwei Wochen als Mitglied der verhaßten britischen Sicherheitspolizei einen ihrer Anführer in Wanchai erschossen. Die Information ist korrekt. Wir hatten ihn Catherine Staples als Schutz zugeteilt.«
»Das ist eine Lüge!« schrie Conklin. »Sie war das Ziel!«
»Lin sagt, es sei Zeitvergeudung, einer falschen Quelle nachzugehen.«
»Dann weiß er es also?«
»Daß man uns infiltriert hat?«
»Was, zum Teufel, denn sonst!« sagte der CIA-Mann erregt.
»Er ist ein stolzer Zhongguo ren und hat einen brillanten Verstand. Er schätzt den Mißerfolg in keiner Form, ganz besonders jetzt nicht. Ich nehme an, er hat die Jagd aufgenommen ... Setzen Sie sich, Mr. Conklin. Wir haben viel zu besprechen.«
»Ich kann das einfach nicht glaubend stieß McAllister im Flüsterton aus. »Sie reden da von Morden, von Zielen, von Abschußlisten ... von einem vorgetäuschten Selbstmord - und das Opfer steht hier und spricht von seinem eigenen Tod, als würden Sie über den Dow-Jones-Aktienindex reden oder über eine Speisekarte in einem Restaurant! Was sind Sie bloß für Menschen?«
»Das habe ich Ihnen doch gesagt, Herr Staatssekretär«, sagte Havilland mit sanfter Stimme. »Männer, die tun, was andere nicht tun wollen, können oder dürfen. Daran ist nichts Mystisches, und es gibt auch keine diabolischen Universitäten, auf denen man uns ausgebildet hat, keinen zwanghaften Drang zur Vernichtung. Wir sind in diese Bereiche hineingedriftet, weil Lücken zu füllen waren und es nur wenige Kandidaten gab. Das alles ist recht zufällig, denke ich. Und wenn es sich dann wiederholt, dann findet man entweder heraus, daß man die Nerven dafür hat oder nicht - denn jemand muß es tun. Würden Sie mir da zustimmen, Mr. Conklin?«
»Das ist doch Zeitvergeudung.«
»Nein, das ist es nicht«, korrigierte ihn der Diplomat. »Erklären Sie es Mr. McAllister. Glauben Sie mir, er ist wertvoll, und wir brauchen ihn. Er muß uns verstehen.«
Conklin sah den Staatssekretär mit erbarmungsloser Miene an. »Er braucht keine Erklärungen von mir, er ist Analytiker. Er sieht das alles ebenso klar wie wir, wenn nicht klarer. Er weiß ganz genau, was dort unten in den Tunnels vor sich geht. Er will es nur nicht zugeben. Und die leichteste Art, sich da herauszuhalten, ist, so zu tun, als wäre man schockiert. Man hüte sich in jeder Phase dieses Gewerbes vor dem scheinheiligen Intellekt. Das, was solche Leute an Verstand einbringen, machen sie mit ihren verlogenen Anklagen wieder kaputt. Er ist wie ein Priester in einem Hurenhaus, der Material für eine Predigt sammelt, die er schreiben wird, wenn er nach Hause geht und sich selbst befriedigt.«
»Sie hatten recht«, sagte McAllister und wandte sich zur Tür. »Das ist Zeitvergeudung.«
»Edward?« Havilland, der über den verkrüppelten CIA-Mann sichtlich verärgert war, rief dem Staatssekretär mitfühlend zu: »Wir können uns die Leute, mit denen wir umgehen, nicht immer aussuchen, und das ist jetzt offenbar der Fall.«
»Ich verstehe«, sagte McAllister kühl.
»Nehmen Sie die Leute unter die Lupe, die zu Lins Stab gehören«, fuhr der Botschafter fort. »Es kann allerhöchstens zehn oder zwölf geben, die über uns Bescheid wissen. Helfen Sie ihm. Er ist Ihr Freund.«
»Ja, das ist er«, sagte der Staatssekretär und ging hinaus.
»War das nötig?« herrschte der Botschafter Conklin an.
»Ja, das war es. Wenn Sie mich davon überzeugen können, daß das, was Sie getan haben, der einzige Weg war, den Sie einschlagen konnten- was ich bezweifle -, oder wenn mir keine Lösung einfällt, die Marie und David lebend zu uns zurückbringt, jetzt einmal ohne Rücksicht darauf, ob sie dann noch bei klarem Verstand sind, dann werde ich mit Ihnen zusammenarbeiten müssen. Die andere Alternative, die Sie mir aufgezeigt haben, ist für mich nicht akzeptabel, aus mehreren Gründen, im wesentlichen persönliche, aber auch, weil ich es den Webbs schuldig bin, ihnen zu helfen. Sind wir soweit einig?«
»Wir arbeiten zusammen, so oder so. Schachmatt.«
»Und angesichts dieser Erkenntnis möchte ich, daß dieser Scheißkerl McAllister, dieses Unschuldslamm, weiß, woher ich komme. Er steckt ebenso tief drinnen wie jeder andere von uns, und ich möchte, daß sein Intellekt auch in den Dreck taucht und jede Chance und jede Möglichkeit ausfindig macht. Ich möchte wissen, wen wir umbringen sollten - auch diejenigen, die nur entfernt in Frage kommen -, um unsere Verluste zu verringern und die Webbs herauszuholen. Ich möchte, daß er weiß, daß er seine Seele nur retten kann, indem er etwas leistet. Wenn wir versagen, versagt er auch, und dann kann er nicht zurückgehen und wieder Sonntagsschule halten.«
»Sie sind zu streng mit ihm.«
»Wer, glauben Sie denn, daß den Ausführenden sagt, was sie tun müssen? Wer sagt es uns denn? Die Paladine im Kongreß? Diese blinden Mäuse?«
»Noch mal schachmatt. Sie sind so gut wie Ihr Ruf. Er hat uns zum Durchbruch verhelfen. Deshalb ist er hier.«
»Jetzt reden Sie, Sir«, sagte Conklin und richtete sich kerzengerade im Sessel auf. Sein Klumpfuß stand in einem seltsamen Winkel ab. »Ich möchte Ihre Geschichte hören.«
»Zuerst die Frau. Webbs Frau. Geht es ihr gut? Ist sie in Sicherheit?«
»Die Antwort auf Ihre erste Frage ist so klar, daß ich mich wirklich wundere, wie Sie sie stellen können. Nein, es geht ihr nicht gut. Ihr Mann ist verschwunden, und sie weiß nicht, ob er noch am Leben ist. Was die zweite betrifft, ja, sie ist in Sicherheit. Bei mir, nicht bei Ihnen. Ich kann mich bewegen, und ich kenne mich hier aus. Sie müssen hier bleiben.«
»Wir sind verzweifelt«, bettelte der Diplomat. »Wir brauchen sie.«
»Sie sind außerdem infiltriert worden und scheinen das immer noch nicht zu begreifen. Dieser Gefahr will ich sie nicht aussetzen.«
»Dieses Haus ist eine Festung!«
»Ein korrupter Koch reicht aus. Ein Irrer auf einem Treppenabsatz.«
»Conklin, hören Sie mir zu! Wir haben bei der Paßkontrolle nachgefragt - alles paßt ins Bild. Er ist es, das wissen wir. Webb ist in Peking. Jetzt. Er wäre nicht dort hingegangen, wenn er nicht hinter dem Ziel her wäre - dem einzigen Ziel. Wenn Ihr Delta irgendwie - und Gott allein weiß, wie - mit der Ware herauskommt und seine Frau nicht an Ort und Stelle ist, dann bringt er den einzigen Verbindungsmann um, den wir haben müssen! Und ohne diesen Verbindungsmann sind wir verloren. Wir alle.«
»Das war also von Anfang an das Drehbuch. Reductio ad absurdum. Jason Borowski jagt Jason Borowski.«
»Ja. So einfach, daß es weh tut. Aber ohne die sich steigernden Komplikationen wäre er nie damit einverstanden gewesen. Er würde dann immer noch in diesem alten Haus in Maine sitzen und über seinen Papieren brüten. Dann hätten wir unseren Jäger nicht.«
»Sie sind wirklich ein Schweinehund«, sagte Conklin langsam und mit weicher Stimme, aus der eine gewisse Bewunderung herausklang. »Und Sie waren überzeugt davon, daß er immer noch dazu imstande ist? Daß er immer noch mit dieser Art von Asien zu Rande kommt, so wie vor Jahren als Delta?«
»Er wird alle drei Monate gründlich von einem Arzt untersucht, das ist ein Teil des Schutzprogramms der Regierung. Er befindet sich in erstklassiger Kondition - wie ich höre, hat das mit seinem zwanghaften Lauftraining zu tun.«
»Fangen Sie ganz vorne an.« Der CIA-Mann machte es sich im Sessel bequem. »Ich will es Schritt für Schritt hören, weil ich glaube, daß die Gerüchte stimmen. Ich befinde mich in der Gesellschaft eines beschissenen Superhirns.«
»Kaum, Mr. Conklin«, sagte Havilland. »Wir tappen alle im dunklen. Ich will natürlich Ihre Meinung hören.«
»Die sollen Sie hören. Fangen Sie an.«
»Also gut. Ich werde mit einem Namen beginnen, den Sie sicherlich erkennen. Sheng Chou Yang. Kommentar?«
»Er ist ein zäher Verhandlungspartner, und ich nehme an, unter seinem jovialen Äußeren ein eiskalter Hund. Trotzdem ist er einer der vernünftigsten Männer in Peking. Es sollte ein paar Tausend wie ihn geben.«
»Wenn das der Fall wäre, dann wäre die Gefahr, daß es im Fernen Osten zu einem Holocaust kommt, noch tausendmal größer.«
Lin Wenzu schlug mit der Faust so heftig auf den Tisch, daß die neun Fotografien, die vor ihm aufgereiht waren, durcheinander flogen und die Zusammenfassungen der
Personalakten hochsprangen. Welcher? Jeder war gründlich in London untersucht, der Hintergrund jedes einzelnen überprüft, noch einmal überprüft und ein drittes Mal überprüft worden; für Irrtum war kein Raum mehr. Das waren nicht einfach gut geschulte Zhongguo ren, die den bürokratischen Auswahlprozeß durchlaufen hatten, sondern die Produkte einer intensiven Suche nach den klarsten Denkern in der Verwaltung - und in einigen Fällen auch außerhalb -, die möglicherweise für diesen heikelsten aller Dienste rekrutiert werden konnten. Lin hatte seit langer Zeit dafür gesorgt, daß das Menetekel unübersehbar war -und eine erstklassige Spezialeinheit, aufgestellt in der Kronkolonie und aus Chinesen bestehend, könnte schon vor 1997 ihre erste Verteidigungslinie bilden, und im Falle ihrer Übernahme auch nachher. Die Briten mußten die Führung im Bereich der Geheimdienstoperationen aufgeben, und dies aus Gründen, die London ebenso klar wie unangenehm waren: Der Westen war nie imstande, die ganz besonderen Feinheiten des asiatischen Denkens zu begreifen, und dies war nicht die Zeit, um aufgrund irreführender oder schlecht ausgewerteter Informationen weitreichende Entscheidungen zu treffen. London mußte wissen - der Westen mußte wissen, wie die Dinge standen ... Um Hongkongs willen und um des ganzen Pazifikraums willen.
Nicht, daß Lin geglaubt hätte, seine wachsende Zahl von Informanten sei für die politischen Entscheidungen lebenswichtig, keineswegs. Aber von einem war er felsenfest überzeugt: Der Geheimdienst der Kronkolonie mußte mit Leuten besetzt sein, die optimal für ihre Aufgabe geeignet waren, und diese Forderung schloß Veteranen, und wären sie noch so brillant, der europäisch orientierten britischen Geheimdienste aus. Zuallererst sahen sie sich alle ähnlich und waren weder mit der Umgebung noch der Sprache vertraut. Und so kam es, daß man Lin Wenzu nach Jahren der Arbeit, in denen er seinen Wert immer wieder unter Beweis gestellt hatte, nach London gerufen hatte, wo ihn eisig blickende Spezialisten drei Tage lang ins Kreuzverhör genommen hatten. Am Morgen des vierten Tages war das Eis dann gebrochen; man hatte die Empfehlung ausgesprochen, dem Major die Befehlsgewalt und weitreichende Vollmachten für die Sektion Hongkong zu übertragen. In den Jahren, die seitdem verstrichen waren, hatte er sich des Vertrauens der Kommission würdig erwiesen, das wußte er. Ebensogut wußte er aber, daß er jetzt, in der wichtigsten Operation seines beruflichen und persönlichen Lebens, versagt hatte. Seinem Kommando unterstanden achtunddreißig Beamte, und daraus hatte er für diese außergewöhnliche, verrückte Operation neun ausgewählt- handverlesen. Verrückt, bis er die außergewöhnliche Erklärung des Botschafters gehört hatte. Diese neun waren die Besten in seiner Organisation. Jeder von ihnen war, falls sein Führer ausfallen sollte, fähig, den Befehl zu übernehmen. Und er hatte versagt. Einer der handverlesenen Neun war ein Verräter.
Es war sinnlos, die Akten noch einmal zu studieren. Irgendwelche Unstimmigkeiten, auf die er vielleicht gestoßen wäre, hätten ausführliche Recherchen erfordert; schließlich waren sie ja bisher seinem erfahrenen Auge ebenso entgangen wie dem Londons. Jetzt war nicht die Zeit für komplizierte Analysen oder die qualvoll langsame Erforschung von neun Menschenleben. Er hatte nur eine Wahl. Ein frontaler Angriff auf jeden Mann, und das Wort »frontal« war der Kern seines Planes. Wenn er die Rolle eines Taipans spielen konnte, dann war er auch imstande, die Rolle eines Verräters zu übernehmen. Er begriff, daß sein Plan nicht ohne Risiko war - ein Risiko, das weder London noch die Amerikaner, ganz speziell Havilland, zugelassen hätten. Trotzdem mußte er es eingehen. Wenn er versagte, würde Sheng Chou Yang von dem geheimen Krieg erfahren, der gegen ihn geführt wurde, und seine Gegenmaßnahmen konnten katastrophal sein. Aber Lin Wenzu hatte nicht die Absicht zu versagen. Und wenn der Mißerfolg
unvermeidlich war, dann würde auch sonst nichts mehr wichtig sein, zuallerletzt sein Leben.
Der Major griff nach seinem Telefon. Er drückte den Knopf auf der Konsole, der ihn mit dem Fernmeldeoffizier in dem voll computerisierten Kommunikationszentrum von MI-6 verband.
»Ja, Sir?« meldete sich die Stimme aus dem abhörsicheren Raum.
»Wer von Libelle hat noch Dienst?« fragte Lin und bezog sich damit auf die neunköpfige Eliteeinheit.
»Zwei, Sir. Wagen drei und sieben, aber die übrigen kann ich in wenigen Minuten erreichen. Fünf haben sich gemeldet - sie sind zu Hause -, zwei haben Telefonnummern hinterlassen. Einer ist bis halb zwölf im Pagoda-Kino und wird anschließend in seine Wohnung zurückkehren, kann aber bis dahin über seinen Piepser erreicht werden. Der andere ist mit seiner Frau und ihrer Familie im Jachtclub in Aberdeen. Sie wissen ja, sie ist Engländerin.«
Lin lachte leise. »Ich wette, er wird die Rechnung dann auf unser jämmerlich bescheidenes Spesenkonto setzen.«
»Geht das denn, Herr Major? Wenn ja, würden Sie mich dann auch für Libelle in Betracht ziehen, was immer das auch sein mag?«
»Werden Sie nicht frech.«
»Tut mir leid, Sir -«
»Das war nicht ernst gemeint, junger Mann. Ich werde Sie nächste Woche auf eigene Rechnung zum Abendessen einladen. Sie arbeiten ausgezeichnet, und ich verlasse mich auf Sie.«
»Danke, Sir!«
»Ich habe zu danken.«
»Soll ich mit Libelle Kontakt aufnehmen und Alarm geben?«
»Sie können mit jedem einzelnen Kontakt aufnehmen, aber geben Sie keinen Alarm. Sie sind alle überarbeitet und haben seit ein paar Wochen keine richtige Freizeit mehr gehabt. Sagen Sie jedem, daß ich nach wie vor Berichte über Standortwechsel bekommen möchte, daß wir aber, sofern nicht gegenteilige Weisung ergeht, die nächsten vierundzwanzig Stunden sicher sind. Die Männer in Wagen drei und sieben dürfen nach Hause fahren, aber nicht in die Territories. Sagen Sie ihnen, ich hätte gesagt, sie sollten sich alle einmal gründlich ausschlafen oder tun, wozu sie sonst Lust haben.«
»Ja, Sir. Das wird sie bestimmt freuen, Sir.«
»Ich selbst nehme mir Wagen vier und fahre damit etwas herum. Könnte sein, daß Sie von mir hören. Bleiben Sie wach.«
»Selbstverständlich, Major.«
»Und das Abendessen behalten wir im Auge, junger Mann.«
»Wenn Sie gestatten, Sir«, sagte der begeisterte Fernmelder, »ich weiß, daß ich damit für uns alle spreche. Keiner von uns möchte für irgend jemand anderen arbeiten als für Sie.«
»Vielleicht noch ein Abendessen.«
Lin parkte vor einem Appartementhaus an der Yun Fing Road und holte das Mikrofon aus der Halterung unter dem Armaturenbrett. »Hier Libelle null.«
»Ja, Sir?«
»Schalten Sie mich auf eine direkte Telefonleitung mit einem Zerhacker. Daß wir auf Zerhacker sind, merke ich doch, wenn ich auf meiner Seite das Echo höre, oder?«
»Natürlich, Sir.«
Der Major drückte die Tasten; dann war das Klingeln zu hören, und eine Frauenstimme meldete sich.
»Ja?«
»Mr. Zhou. Kuai!« sagte Wenzu hastig, indem er die Frau anwies, sich zu beeilen.
»Selbstverständlich«, antwortete sie auf kantonesisch.
»Hier Zhou«, sagte der Mann.
»Xun su! Xiaoxi!« Lin sprach in kehligem Flüsterton; es sollte verzweifelt klingen. »Sheng! Sofort kontakten! Saphir ist verschwunden!«
»Was? Wer spricht denn?«
Der Major drückte die Gabel nieder und betätigte dann einen Knopf rechts am Mikrofon. Die Vermittlung meldete sich sofort. »Ja, Libelle?«
»Schalten Sie meine Privatleitung ebenfalls auf Zerhacker und legen Sie alle Anrufe hierher. Sofort! Dabei bleibt es, bis ich gegenteilige Anweisung gebe. Verstanden?«
»Ja, Sir«, sagte der junge Mann in der Zentrale etwas verwirrt.
Lins Telefon summte, und er hob ab. »Ja?« antwortete er beiläufig und gab vor, ein Gähnen zu unterdrücken.
»Herr Major, hier ist Zhou! Ich hatte gerade einen sehr seltsamen Anruf. Ein Mann hat angerufen - es klang so, als wäre er verletzt - und sagte, ich soll jemanden kontakten, der Sheng heißt. Ich sollte sagen, Saphir sei verschwunden.«
»Saphir?« sagte der Major, plötzlich hellwach. »Sagen Sie niemandem etwas, Zhou! Verdammte Computer - ich weiß nicht, wie es dazu kommen konnte, aber der Anruf war für mich bestimmt, hat nichts mit Libelle zu tun. Ich wiederhole, sagen Sie niemandem etwas!«
»Verstanden, Sir.«
Lin ließ den Motor an und fuhr ein paar Straßen nach Westen zur Tanlung Street. Dort wiederholte er die Übung, und wieder kam der Anruf über seine Privatleitung.
»Herr Major?«
»Ja?«
»Mich hat gerade jemand angerufen, der so klang, als ob er stirbt! Er wollte, daß ich ...«
Die Erklärung war dieselbe: Jemand hatte einen gefährlichen Fehler begangen, etwas, was Libelle nicht betraf. Niemand sollte davon erfahren.
Lin rief drei weitere Nummern an, jedesmal vor der Wohnung des Betreffenden. Das Ergebnis war in jedem einzelnen Fall negativ; jeder rief ihn Augenblicke nach dem Gespräch an, und keiner hatte seine Wohnung verlassen, um zu irgendeinem öffentlichen Telefon zu laufen. Der Major wußte nur eines sicher. Wer auch immer der Verräter war, er würde unter keinen Umständen das Telefon in seiner Wohnung benutzen, um den Kontakt herzustellen. Die Telefonrechnungen enthielten die Nummern aller geführten Gespräche, und alle Rechnungen wurden der Abteilung zur Überprüfung eingereicht. Das war eine Routinemaßnahme, die von den Agenten sehr begrüßt wurde. MI-6 übernahm die Kosten aller Gespräche, auch der privaten.
Die zwei Männer in Wagen drei und sieben hatten sich im Hauptquartier gemeldet, als er das fünfte Gespräch führte. Einer war im Haus seiner Freundin und hatte erklärt, daß er nicht beabsichtige, es die nächsten vierundzwanzig Stunden zu verlassen. Er hatte den Mann in der Zentrale gebeten, alle »dringenden Anrufe von Klienten« entgegenzunehmen und jedem zu sagen, daß seine Vorgesetzten ihn in die Antarktis geschickt hätten.
Negativ. Doppelagenten verhielten sich nicht so, sie machten auch keine Witze. Sie verrieten auch niemals Ort und Identität eines Briefkastens. Beim zweiten sah es, falls das überhaupt möglich war, noch negativer aus. Er teilte der Zentrale mit, daß er zur Verfügung stehe, für größere oder kleinere Probleme, innerhalb und außerhalb Libelle, und erbot sich sogar, Dienst in der Fernmeldezentrale zu machen. Seine Frau hatte vor wenigen Tagen Drillingen das Leben geschenkt, und er vertraute dem
Telefonisten mit einem Anflug von Panik in der Stimme an, daß er bei der Arbeit mehr Ruhe habe als zu Hause. Negativ.
Sieben geprüft und sieben negativ. Blieben ein Mann im Pagoda-Kino, wo er weitere vierzig Minuten sein würde, und der andere im Jachtclub in Aberdeen.
Sein Funktelefon summte, eindringlich, wie es ihm schien, oder war das nur seine eigene Unruhe. »Ja?«
»Ich habe gerade eine Nachricht für Sie entgegengenommen, Sir«, sagte der junge Mann. >»Adler an Libelle null. Dringend. Melden.««
»Danke.« Lin sah auf die Uhr am Armaturenbrett. Er hätte sich bereits vor fünfunddreißig Minuten mit Havilland und dem legendären Alexander Conklin treffen sollen. »Junger Mann?« sagte Lin und hob das Mikrofon wieder an die Lippen.
»Ja, Sir?«
»Ich habe keine Zeit für den besorgten, aber im Augenblick nicht so wichtigen >Adler<, doch ich möchte ihn nicht beleidigen. Er wird zurückrufen, wenn ich mich nicht melde, und ich möchte, daß Sie ihm erklären, es sei Ihnen nicht gelungen, mich zu erreichen. Anschließend werden Sie mich natürlich sofort verständigen.«
»Wird mir ein Vergnügen sein, Herr Major.«
»Wie bitte?«
»Der >Adler< war sehr ungehalten. Er schrie etwas von Verabredungen, die man gefälligst einhalten sollte, wenn man schon zugesagt habe, und ...«
Lin hörte sich den Bericht an und nahm sich vor, falls er die Nacht überlebte, ein Gespräch mit Edward McAllister über gute Manieren am Telefon zu führen, ganz besonders in Krisenzeiten. Zucker erzeugt freundliche Miene, Salz nur Grimassen.
»Ja, ja, ich verstehe, junger Mann. Wie unsere Vorfahren vielleicht gesagt hätten, möge der Schnabel des Adlers in seinem After steckenbleiben. Tun Sie nur, was ich sage, und unterdessen - in fünfzehn Minuten von jetzt an - nehmen Sie mit unserem Mann im Pagoda-Kino Verbindung auf. Wenn er sich meldet, geben Sie ihm meine Geheimnummer und schalten Sie sie auf diese Frequenz, natürlich weiterhin mit Zerhacker.«
»Selbstverständlich, Sir.«
Lin jagte auf der Hennessy Road in östlicher Richtung am Southern Park vorbei zur Fleming Road, wo er nach Süden in die Johnston abbog und dann wieder in östlicher Richtung auf der Burrow Street zum Pagoda-Kino fuhr. Dort bog er in den Parkplatz ein und fuhr den für die Geschäftsleitung reservierten Platz an. Er steckte eine Polizeikarte an die WindschutzScheibe, stieg aus und rannte zum Eingang. Vor dem Schalter standen nur wenige Leute, die sich für die Mitternachtsvorstellung von Wollust in Asien interessierten, eine seltsame Wahl für den Agenten im Kino. Da er noch sechs Minuten Zeit hatte und auch um keine Aufmerksamkeit zu erwecken, stellte Lin sich geduldig hinter den drei Männern an, die vor dem Schalter warteten. Neunzig Sekunden später hatte er die Eintrittskarte. Er ging hinein, gab die Karte der Platzanweiserin und wartete, bis seine Augen sich der Dunkelheit und dem pornografischen Film auf der fernen Leinwand angepaßt hatten. Eine seltsame Wahl für den Mann, den er auf die Probe stellte, aber er hatte sich fest vorgenommen, sich keine Vorurteile zu gestatten, und auf den Versuch zu verzichten, einen Verdächtigen gegen den anderen auszuwägen.
In diesem Fall freilich war das ganz besonders schwierig. Nicht, daß er den Mann besonders gut hätte leiden können, der jetzt irgendwo in dem abgedunkelten Zuschauerraum saß und mit den anderen Gästen die Sexualgymnastik der hölzernen »Schauspieler« betrachtete. Tatsächlich mochte er den Mann nicht; was aber nichts daran änderte, daß er zu den Besten unter seinem Kommando gehörte. Der Agent war arrogant und unangenehm, aber zugleich war er ein tapferer Mann, der sich achtzehn Monate auf die Flucht aus Beijing vorbereitet hatte, und in diesen achtzehn Monaten war er in jeder Stunde, die er in der kommunistischen Hauptstadt verbracht hatte, in Lebensgefahr gewesen. Er war ein hochrangiger Offizier in den Sicherheitskräften der Volksrepublik gewesen und hatte Zugang zu höchst wichtigen Geheimdienstinformationen gehabt. In einer herzzerreißenden Opfergeste hatte er auf seiner Flucht nach dem Süden seine geliebte Frau und ein kleines Töchterchen zurückgelassen und sie mit einer verkohlten, von Kugeln zerfetzten Leiche geschützt, von der er sicher war, daß man die Leiche als seine Person identifizieren würde - ein Held Chinas, der von einer Bande von Halbstarken erschossen und verbrannt worden war. Mutter und Tochter waren in Sicherheit und erhielten eine Pension von der Regierung. Ihn hatte man, wie alle hochrangigen Überläufer, einer rigorosen Prüfung unterzogen, die dazu diente, potentielle Doppelagenten zu entlarven. Hier war ihm seine Arroganz zustatten gekommen. Er hatte in keiner Weise versucht, sich irgendwie sympathisch darzustellen; er war, was er war, und hatte das, was er getan hatte, zum Nutzen von Mutter China getan. Es lag ganz bei den Behörden, ob sie ihn mit allem, was er anzubieten hatte, akzeptierten - sonst würde er sich anderswo umsehen. Alles stimmte so, wie er es dargestellt hatte, mit Ausnahme des Wohlergehens seiner Frau und seines Kindes. Sie waren nicht so versorgt, wie der Überläufer das erwartet hatte. Deshalb steckte man ihr ohne Erklärung an ihrer Arbeitsstelle Geld zu. Man konnte ihr nichts sagen; wenn auch nur der geringste Verdacht aufkam, daß ihr Mann noch am Leben war, würde man sie foltern, um Informationen aus ihr herauszuholen, über die sie gar nicht verfügte. Das Profil eines solchen Mannes war nicht das Profil eines Doppelagenten, auch wenn er einen etwas eigenartigen Geschmack hatte, was Filme betraf.
Blieb noch der Mann in Aberdeen, und der war Lin ein Rätsel. Der Agent war älter als die anderen, ein schmächtiger Mann, der
sich stets makellos kleidete, ein äußerst logisch denkender Mensch und ehemaliger Buchhalter, der sich so loyal gab, daß Lin ihn beinahe zu seinem Vertrauten gemacht hätte, sich aber dann doch zurückhielt, als er im Begriffe war, ihm Dinge zu offenbaren, die er besser für sich behielt. Vielleicht rührte diese besondere Zuneigung daher, daß er ihm vom Alter her nahestand ... andererseits, was für eine hervorragende Tarnung für einen Maulwurf aus Beijing! Mit einer Engländerin verheiratet und durch seine Heirat Mitglied des reichen und exklusiven Jachtclubs. Alles stimmte bei ihm, er war geradezu ein Muster an Respektabilität. Für Lin schien es undenkbar, daß Sheng Chou Yang an einen solchen Mann hätte herantreten und ihn bestechen können ... Nein, unmöglich! Vielleicht, überlegte der Major, sollte er doch umkehren und sich näher mit dem Agenten befassen, der gebeten hatte, ihn mit einer Dienstreise in die Antarktis zu entschuldigen. Oder mit dem geplagten Vater von Drillingen, der bereit war, sogar Telefondienst zu machen, nur um dem häuslichen Chaos zu entrinnen.
Nein! Lin Wenzu schüttelte den Kopf, als könne er sich damit von solchen unpassenden Gedanken freimachen. Jetzt, hier. Konzentriere dich! Er stand jetzt vor einer Treppe und traf seine Entscheidung. Er trat auf sie zu und ging die Stufen zum Balkon hinauf; der Projektionsraum lag unmittelbar vor ihm. Er klopfte an und trat ein, der billige, dünne Riegel gab unter seinem Körpergewicht sofort nach.
»Ting zhi!« schrie der Vorführer; er hatte eine Frau auf dem Schoß und die Hand unter ihrem Rock. Die junge Frau sprang mit einem Satz auf und drehte sich zur Wand.
»Kronpolizei«, sagte der Major und zeigte seinen Dienstausweis. »Sie haben von mir beide nichts zu befürchten, bitte, glauben Sie mir das.«
»Dazu ist auch kein Anlaß!« erwiderte der Vorführer. »Das ist ja nicht gerade ein Betsaal.« »Darüber ließe sich streiten, aber dne Kirche ist es ganz bestimmt nicht.«
»Wir haben eine Lizenz und -«
»Ich widerspreche Ihnen ja nicht«, unterbrach Lin. »Die Krone bittet lediglich um eine Gefälligkeit, und es widerspricht sicherlich Ihren Interessen nicht, uns diese Gefälligkeit zu erweisen.«
»Und die wäre?« fragte der Mann, stand auf und stellte verärgert fest, daß die Frau inzwischen durch die Tür gehuscht war.
»Halten Sie den Film an, sagen wir dreißig Sekunden lang, und schalten Sie die Beleuchtung ein. Sagen Sie den Zuschauern, daß der Film gerissen sei und repariert werden müsse.«
Der Vorführer zuckte zusammen. »Er ist doch schon fast abgelaufen! Das wird ein Geschrei geben!«
»Hauptsache, Sie machen Licht. Tun Sie es!«
Der Projektor kam pfeifend zum Stillstand; die Lichter flammten auf, und die Durchsage über den Lautsprecher erfolgte. Der Vorführer hatte recht, im Kino erhob sich Geschrei, einige Zuschauer fuchtelten wild mit den Armen und machten obszöne Handbewegungen. Unterdessen suchte Lin den Zuschauersaal ab - Reihe für Reihe.
Da war sein Mann ... zwei Männer - der Agent saß nach vorne gebeugt da und sprach mit jemandem, den Lin Wenzu noch nie gesehen hatte. Der Major sah auf die Uhr und wandte sich dann dem Vorführer zu. »Gibt es unten ein öffentliches Telefon?«
»Ja, wenn es funktioniert. Wenn es nicht kaputt ist.«
»Funktioniert es jetzt?«
»Das weiß ich nicht.«
»Wo ist es?«
»Unter der Treppe.«
»Lassen Sie den Film in sechzig Sekunden wieder anlaufen.«
»Sie sagten dreißig!«
»Ich habe es mir anders überlegt. Und Sie verdanken doch Ihren guten Job einer Lizenz, nicht wahr?«
»Das dort unten sind Bestien!«
»Schieben Sie einen Stuhl gegen die Tür«, sagte Lin beim Hinausgehen. »Der Riegel ist kaputt.«
In dem Raum unter der Treppe kam der Major an dem Telefon vorbei. Im Vorbeigehen riß er die Leitung aus der Wand und eilte dann nach draußen zu seinem Wagen. Dabei kam er an einer Telefonzelle vorbei, bog von seinem Weg ab und las die Nummer, merkte sie sich und eilte zum Wagen zurück. Er stieg ein und sah auf die Uhr, dann stieß er den Wagen zurück, fuhr auf die Straße hinaus und parkte in zweiter Reihe etwa fünfzig Meter weiter vorne. Er schaltete die Scheinwerfer ab und beobachtete den Eingang.
Eine Minute und fünfzehn Sekunden später kam der Überläufer aus Beijing heraus, blickte zuerst nach rechts und dann nach links, sichtlich erregt. Dann sah er, wonach er suchte, nachdem das Telefon im Kino nicht funktionierte. Die Telefonzelle auf der anderen Straßenseite. Lin wählte, während sein Untergebener auf die Zelle zurannte und die Tür aufriß. Der Apparat klingelte, ehe der Mann seine Münzen einwerfen konnte.
»Xun su! Xiao XU« flüsterte Lin und hustete dabei. »Ich habe gewußt, daß Sie das Telefon finden würden! Sheng! Sofort kontakten! Saphir ist verschwunden« Er hängt das Mikrofon zurück, nahm aber die Hand nicht weg, da er jeden Augenblick den Anruf auf seiner Privatleitung erwartete.
Der kam nicht. Er drehte sich um und sah zu der Telefonzelle auf der anderen Straßenseite hinüber. Der Agent hatte eine Nummer gewählt, aber Lins Nummer war es nicht. Es erübrigte sich, nach Aberdeen zu fahren.
Der Major stieg aus dem Wagen, überquerte die Straße und ging auf die Telefonzelle zu. Er blieb im Dunkeln, bewegte sich langsam, bemüht, so wenig wie möglich mit seiner hünenhaften Gestalt aufzufallen, und verfluchte dabei im stillen, wie er das so oft tat, die Gene, die zu seiner Übergröße geführt hatten. Immer noch im Schatten bleibend, näherte er sich dem Telefon. Der Überläufer war noch zwei Meter von ihm entfernt, wandte Lin den Rücken zu und redete erregt und so laut, daß man ihn ohne Mühe hören konnte.
»Wer ist Saphir! Warum dieses Telefon? Warum gerade ich? ... nein, ich habe es doch gesagt, er hat den Namen des Führers gebraucht! ... ja, richtig, seinen Namen! Kein Code, kein Symbol! Das ist doch Wahnsinn!«
Lin Wenzu hatte alles gehört, was er hören mußte. Er zog seine Dienstpistole und trat schnell aus der Dunkelheit hervor.
»Der Film ist gerissen, und sie haben die Beleuchtung eingeschaltet! Mein Kontaktmann und ich -«
»Legen Sie auf!« befahl der Major.
Der Überläufer fuhr herum. »Sie!« schrie er.
Lin sprang den Mann an, und sein hünenhafter Körper preßte den Doppelagenten gegen die Wand der Telefonzelle, während er mit der linken Hand den Telefonhörer packte und ihn auf die Gabel schmetterte. »Genug!« schrie er.
Plötzlich spürte er die Messerklinge, die sich wie weißglühendes Eis in seinen Leib bohrte. Der Überläufer duckte sich, das Messer in der linken Hand, und Lin drückte ab. Die Explosion hallte über die stille Straße, während der Verräter zu Boden sank, die Kehle von der Kugel aufgerissen. Das Blut strömte über seine Kleider und besudelte den Asphalt unter seinen Füßen.
»M made!« fluchte eine Stimme zur Linken des Majors. Es war der zweite Mann, die Kontaktperson, die im Kino mit dem Überläufer gesprochen hatte. Er hob eine Waffe und feuerte, während der Major sich auf ihn stürzte, so daß sein hünenhafter, blutender Leib wie eine Mauer auf den Mann fiel. Lin spürte einen heißen Schmerz an der rechten Brustseite, aber der Killer hatte das Gleichgewicht verloren. Der Major feuerte seine Pistole ab, und der Mann stürzte, sich ans rechte Auge greifend. Er war tot.
Auf der anderen Straßenseite war der Pornofilm zu Ende gegangen, und die Menge wälzte sich mürrisch, zornig, unbefriedigt auf die Straße. Der schwerverwundete Lin nahm den Rest seiner ungeheuren Kräfte zusammen, hob die Leichen der zwei Verschwörer auf und zerrte sie zu seinem Wagen. Ein paar Leute aus dem Pagoda sahen ihm mit glasigen und desinteressierten Blicken zu. Was sie sahen, war eine Wirklichkeit, die sie nicht begreifen konnten. Sie lag außerhalb der engen Grenzen ihrer Phantasie.
Alex Conklin erhob sich aus dem Stuhl und hinkte schwerfällig und laut zu dem abgedunkelten Fenster. »Was, zum Teufel, soll ich denn sagen?« fragte er und wandte sich um und sah den Botschafter an.
»Daß ich angesichts der Umstände den einzig möglichen Weg eingeschlagen habe, Jason Borowski zu rekrutieren.« Havilland hob die Hand. »Ehe Sie antworten, sollte ich Ihnen fairerweise sagen, daß Catherine Staples mit mir nicht übereinstimmte. Sie war der Ansicht, daß ich unmittelbar an David Webb hätte appellieren sollen. Schließlich war er ein Fachmann für den Fernen Osten, ein Experte, der Verständnis für das haben sollte, was auf dem Spiel stand, und für die Tragödie, die daraus erwachsen konnte.«
»Sie war nicht bei Trost«, sagte Alex. »Er hätte Ihnen gesagt, Sie sollten sich Ihr Ansinnen gefälligst in den Hintern stecken.«
»Vielen Dank.« Der Diplomat nickte.
»Augenblick«, unterbrach Conklin. »Er hätte das nicht gesagt, weil er gedacht hätte, daß Sie unrecht haben, sondern weil er nicht glaubte, daß er das tun könnte. Was Sie getan haben - daß Sie ihm Marie weggenommen haben -, hat ihn gezwungen, in die Vergangenheit zurückzukehren und wieder jemand zu sein, den er vergessen wollte.«
»Oh?«
»Sie sind wirklich ein Scheißkerl.«
Sirenen heulten, erfüllten das große Haus und das ganze Grundstück mit ihrem Lärm, und Scheinwerferbündel zuckten durch die Fenster. Schüsse peitschten, Reifen quietschten. Der Botschafter und der CIA-Mann warfen sich zu Boden; in wenigen Sekunden war alles vorbei. Die beiden Männer standen wieder auf, als die Tür aufflog. Über und über mit Blut besudelt, taumelte Lin Wenzu herein. Unter den Armen hielt er zwei Leichen.
»Hier ist Ihr Verräter, Sir«, sagte der Major und ließ die Leichen fallen. »Und ein Kollege. Mit diesen beiden haben wir, glaube ich, Libelle von Sheng abgeschnitten -« Wenzus Augen drehten sich nach oben, bis das Weiße sichtbar wurde. Er stöhnte und fiel zu Boden.
»Ruft einen Notarztwagen!« schrie Havilland den Leuten zu, die sich unter der Tür versammelt hatten.
»Holt Verbandstoff, Pflaster, Handtücher, Jod - um Himmels willen, alles, was ihr finden könnt!« brüllte Conklin und hinkte hastig auf den gestürzten Chinesen zu. »Wir müssen die verdammte Blutung zum Stillstand bringen!«