Kapitel 20

Am Mittag jenes paralysierenden Tages, als Kai-tak noch lediglich ein Flughafen gewesen war und nicht Schauplatz eines geplanten Meuchelmordes, hatte Botschafter Havilland der verblüfften Catherine Staples die groben Umrisse der Verschwörung Shengs, die in der Kuomintang ihre Wurzeln hatte, beschrieben. Zielsetzung: ein Konsortium von Taipans mit einer zentralen Führerpersönlichkeit, deren Sohn Sheng war, wollte die Macht in Hongkong übernehmen und die Kolonie in ein Finanzimperium der Verschwörer verwandeln. Unvermeidliche Folge: Die Verschwörung würde scheitern, und die Volksrepublik würde wie ein wütender Gigant zuschlagen und in Hongkong einmarschieren, die Verträge zerreißen und den ganzen Fernen Osten in tiefstes Chaos stürzen. Catherine hatte Beweise verlangt und hatte schließlich um 14.15 Uhr das umfangreiche, streng geheime Dossier des Außenministeriums über Sheng Chou Yang gelesen, war aber skeptisch geblieben, da der oder die Autoren nicht genannt wurden. Um 15.30 Uhr hatte man sie in den Funkraum geführt, und ein Mann namens Reilly, der zum Nationalen Sicherheitsrat in Washington gehörte, hatte ihr über Satellit und ein Zerhackertelefon eine Reihe von »Fakten« vermittelt.

»Sie sind nur eine Stimme, Mr. Reilly«, hatte Staples gesagt. »Woher soll ich wissen, daß Sie nicht unten in Wanchai sitzen?«

Und in dem Augenblick war in der Leitung ein Klicken zu hören gewesen, und eine Stimme, die Catherine und die Welt nur zu gut kannten, sprach zu ihr. »Hier spricht der Präsident der Vereinigten Staaten, Mrs. Staples. Wenn Sie daran zweifeln, würde ich Ihnen empfehlen, Ihr Konsulat anzurufen. Bitten Sie, daß man über Diplomatentelefon mit dem Weißen Haus Verbindung aufnimmt, und verlangen Sie, daß dieses Gespräch bestätigt wird. Ich warte solange. Sie werden die Bestätigung bekommen. Im Augenblick habe ich nichts Besseres zu tun -nichts, was lebenswichtiger wäre.«

Catherine hatte den Kopf geschüttelt und kurz die Augen geschlossen und dann leise gesagt: »Ich glaube Ihnen, Herr Präsident.«

»Vergessen Sie meine Person und glauben Sie das, was Sie gehört haben. Es ist die Wahrheit.«

»Es ist so unglaublich - so unvorstellbar.«

»Ich bin in diesen Dingen kein Experte, Mrs. Staples, und habe auch nie behauptet, ein solcher zu sein, aber das Trojanische Pferd war seinerzeit auch nicht sehr glaubwürdig. Nun ist es möglich, daß das eine Legende war und die Frau des Menelaos nur das Phantasiegebilde eines Märchenerzählers am Lagerfeuer, aber das Konzept ist zum Symbol eines Feindes geworden, der seinen Gegner von innen heraus zerstört.«

»Menelaos ...?«

»Sie sollten den Medien nicht glauben - ich habe schon ein oder zwei Bücher gelesen. Aber glauben Sie unseren Leuten, Mrs. Staples. Wir brauchen Sie. Ich werde Ihren Premierminister anrufen, falls das hilft, aber ehrlich gesagt, würde ich das lieber nicht tun. Er könnte es für notwendig halten, sich mit anderen zu beraten.«

»Nein, Herr Präsident. Das Wissen muß auf den engsten Kreis beschränkt bleiben. Darauf kommt es jetzt an. Allmählich verstehe ich Botschafter Havilland.«

»Da haben Sie mir etwas voraus. Ich verstehe ihn nicht immer.«

»Vielleicht ist es so besser, Sir.«

Um 15.58 Uhr erreichte das abgeschottete Haus in Victoria Peak ein Anruf - höchste Priorität -, aber er galt weder dem Botschafter noch Staatssekretär McAllister. Er war für Major Lin Wenzu, und als das Gespräch durchgestellt wurde, begannen schreckliche vier Stunden. Die knappe Information war so elektrisierend, daß sich die ganze Konzentration auf die augenblickliche Krise richtete und Catherine Staples ihr Konsulat anrief und dem Hochkommissar sagte, sie fühle sich nicht wohl und werde daher an der Strategiekonferenz mit den Amerikanern, die auf den Nachmittag anberaumt war, nicht teilnehmen können. Ihre Anwesenheit in dem abgeschotteten Haus war willkommen. Botschafter Havilland wollte, daß sie mit eigenen Augen sah, wie dicht vor dem Abgrund der ganze Ferne Osten stand. Wie ein einziger Fehler seitens Shengs oder seines Meuchelmörders eine Explosion auslösen konnte, die dazu führte, daß binnen Stunden Truppen aus der Volksrepublik in Hongkong einmarschierten und damit nicht nur den Welthandel der Kronkolonie zum Erliegen brachten, sondern gleichzeitig auch unsägliches menschliches Leid heraufbeschworen - Aufruhr und Krawalle überall, Todesschwadronen von links und rechts, die scheinbares Unrecht rächten, das vierzig Jahre zurückreichte, Rassengruppen, die gegeneinander auf die Barrikaden gingen, und dazwischen das Militär. Blut würde in den Straßen und im Hafen fließen, und da ein solcher Aufruhr auch seine Auswirkungen auf die anderen Nationen der Welt haben würde, war selbst ein globaler Konflikt nicht ausgeschlossen. All das hatte er ihr erklärt, während Lin fieberhaft telefonierte, Befehle erteilte und seine Leute in der Polizeitruppe der Kronkolonie und bei den Sicherheitsbehörden des Flughafens koordinierte.

Alles hatte damit angefangen, daß der Major von MI-6 die Hand über den Telefonhörer hielt und in jenem viktorianischen Raum in Victoria Peak mit leiser Stimme verkündet hatte: »Kai-tak, heute abend. Die sino-britischen Delegationen. Meuchelmord. Das Ziel ist der Krongouverneur. Man nimmt an, es ist Jason Borowski.«

»Ich kann das nicht verstehen!« protestierte McAllister und sprang von der Couch auf. »Das ist überstürzt. Sheng ist noch nicht bereit! Sonst hätten wir was gehört - eine Verlautbarung seines Ministeriums bezüglich irgendeiner Kommission. Das ist falsch!«

»Eine Fehlkalkulation?« fragte der Botschafter kühl.

»Möglich. Oder sonst etwas. Eine Strategie, die wir nicht in Betracht gezogen haben.«

»Machen Sie sich an die Arbeit, Herr Major«, sagte Havilland.

Nachdem er seine letzten Anweisungen erteilt hatte, bekam Lin selbst einen Befehl von Havilland, ehe er sich zum Flughafen begab. »Bleiben Sie außer Sichtweite, Herr Major«, sagte der Botschafter. »Das meine ich ernst.«

»Unmöglich«, erwiderte Lin. »Bei allem Respekt, Sir, ich muß mit meinen Leuten am Schauplatz sein. Meine Erfahrung ist wichtig.«

»Ebenfalls mit allem Respekt«, fuhr Havilland fort. »Ich muß darauf bestehen. Nur unter der Bedingung kommen Sie durch das Außentor.«

»Warum, Herr Botschafter?«

»Bei Ihren Fähigkeiten und Ihrem Durchblick wundert mich, daß Sie das fragen.«

»Das muß ich! Ich verstehe es nicht.«

»Dann ist es vielleicht meine Schuld, Major. Ich dachte, ich hätte Ihnen klargemacht, weshalb wir zu so extremen Mitteln gegriffen haben, um unseren Jason Borowski hierherzuholen. Akzeptieren Sie einfach die Tatsache, daß er ein außergewöhnlicher Mensch ist, seine Akten beweisen das. Er hat die Ohren nicht nur am Boden, sondern gleichzeitig auch in allen vier Windrichtungen. Wir müssen annehmen - immer davon ausgehend, daß die ärztliche Prognose korrekt ist und daß weitere Teile seines Erinnerungsvermögens an die Oberfläche kommen -, daß er überall in diesem Teil der Welt Kontakte hat, und zwar in Winkeln und Ecken, von denen wir nichts wissen. Angenommen - nur einmal angenommen, Major -, daß jeder dieser Kontaktmänner ihn darüber informiert, daß für den Kai-tak-Flughafen heute nacht Katastrophenalarm ausgegeben worden ist, daß man eine große Sicherheitsgruppe zusammengezogen hat, um den Krongouverneur zu schützen. Was glauben Sie, daß er dann tun würde?«

»Dort sein«, antwortete Lin Wenzu leise und zögernd. »Irgendwo.«

»Und angenommen, unser Borowski sieht Sie? Verzeihen Sie mir, aber Sie sind nicht leicht zu übersehen. Die Disziplin seines logischen Verstandes - Logik, Disziplin und Phantasie waren immer die Garanten seines Überlebens - würde ihn zwingen, exakt herauszufinden, wer Sie sind. Muß ich mehr sagen?«

»Nein, ich glaube nicht«, sagte der Major.

»Die Verbindung ist hergestellt«, sagte Havilland und fiel damit Wenzu ins Wort. »Es gibt keinen Taipan, dessen junge Frau in Macao ermordet worden ist. Statt dessen gibt es einen in hohem Ansehen stehenden Offizier des britischen Geheimdienstes, der sich als Taipan ausgegeben und ihm eine weitere Lüge zugespielt hat, das Echo einer vorangegangenen Lüge. Dann wird er wissen, daß er aufs neue von der Regierung manipuliert worden ist, und zwar auf die brutalste Art und Weise manipuliert, die man sich vorstellen kann - indem man nämlich seine Frau entführt hat. Der menschliche Geist, Major, ist ein höchst empfindliches Instrument, und der seine ist viel empfindlicher, als das bei den meisten Menschen der Fall ist. Das Maß an Belastung, das er ertragen kann, hat seine Grenzen. Ich will nicht einmal darüber nachdenken, was er tun könnte -wozu wir möglicherweise gezwungen sein könnten.«

»Das war stets der schwächste Punkt in dem ganzen Drehbuch und doch zugleich auch der Kern«, sagte Lin.

»>Ein geniales Manöver««, unterbrach McAllister in einem Tonfall, der deutlich erkennen ließ, daß er etwas zitierte. »>Wenige Racheakte werden so leicht verstanden wie das Prinzip Auge um Auge.< Das haben Sie gesagt.«

»Wenn das so ist, dann hätten Sie nicht mich für die Rolle des Taipan auswählen dürfen!« beharrte der Major. »Sie haben eine Krise hier in Hongkong, und Sie binden mir die Hände!«

»Das ist dieselbe Krise, der wir uns alle ausgesetzt sehen«, sagte Havilland mit sanfter Stimme. »Nur daß wir diesmal gewarnt sind. Und außerdem, Lin, wen sonst hätten wir denn wählen können? Welchen ändern Chinesen als den über jeden Zweifel erhabenen Chef der MI-6 in Hongkong hätte London denn für einen solchen Auftrag freigegeben, von dem ganz zu schweigen, was Sie jetzt wissen? Errichten Sie Ihre Kommandostation im Tower des Flughafens. Das Glas ist dunkel.«

Der hünenhafte Major drehte sich schweigend um und ging aus dem Zimmer. »Ist es klug, ihn gehenzulassen?« fragte McAllister und blickte ihm mit dem Botschafter und Catherine Staples nach.

»Sicherlich«, antwortete der Diplomat.

»Ich habe ein paar Wochen hier bei MI-6 verbracht«, fuhr der Unterstaatssekretär schnell fort. »Es ist in der Vergangenheit schon vorgekommen, daß er seine Anweisungen mißachtet hat.«

»Aber nur dann, wenn diese Anweisungen von aufgeblasenen britischen Offizieren kamen, die weniger Erfahrung als er hatten. Er hat nie einen Verweis bekommen; er hatte recht. Ebenso wie ich weiß, daß ich recht habe.«

»Wie können Sie da so sicher sein?«

»Warum glauben Sie, daß er gesagt hat, wir hätten ihm die Hände gebunden? Es paßt ihm nicht, aber er akzeptiert es.« Havilland ging hinter seinen Schreibtisch und wandte sich Catherine zu. »Bitte setzen Sie sich, Mrs. Staples. Und Sie, Edward, würde ich gerne um eine Gefälligkeit bitten, bei der es mir nicht um Vertraulichkeit geht. Sie wissen ebensoviel wie ich und sind wahrscheinlich sogar besser auf dem laufenden, und ich werde Sie ohne Zweifel rufen, wenn ich Informationen brauche. Trotzdem würde ich gern allein mit Mrs. Staples sprechen.«

»Selbstverständlich«, sagte der Staatssekretär und griff nach ein paar Papieren, die auf dem Schreibtisch lagen, während Catherine Platz nahm. »Ich muß über eine Menge nachdenken. Wenn diese Kai-tak-Geschichte keine Finte ist - wenn es sich wirklich um eine direkte Anweisung Shengs handelt -, dann hat er sich eine Strategie einfallen lassen, die wir nicht bedacht haben, und das ist gefährlich. Nach allen meinen Überlegungen muß er seine Clearingstelle für den Währungsausgleich unter stabilen Umständen anbieten, nicht unter chaotischen. Er könnte alles in die Luft fliegen lassen - aber er ist nicht dumm, er ist blitzgescheit. Was tut er also?«

»Betrachten Sie die Sache einmal von der umgekehrten Seite«, unterbrach ihn der Botschafter und setzte sich. »Statt seine Clearingstelle aus verschiedenen Taipans in einer Periode der Stabilität einzusetzen, tut er das in einer Situation, die instabil ist - dafür aber mit Sympathie der Bevölkerung, mit der Zielsetzung, schnell Ruhe und Ordnung wiederherzustellen. Kein wütender Riese, sondern eher ein besorgter Vater, der sich um die Seinen bemüht und in Streit geratene Kinder beruhigt.«

»Welchen Vorteil würde das bringen?«

»Daß es schnell geht, sonst keinen. Wer würde sich schon eine Gruppe hochangesehener Finanzleute aus der Kronkolonie näher ansehen, die während einer Krise eingesetzt wurden? Schließlich verkörpern sie Stabilität. Darüber sollten Sie nachdenken.«

McAllister hielt, zum Gehen gewandt, seine Papiere in der Hand und sah Havilland an. »Das wäre aber sehr riskant für ihn«, sagte der Botschafter. »Sheng riskiert es, die Kontrolle über die alte Garde im Zentralkomitee zu verlieren, die alten Militärrevolutionäre, denen jeder Vorwand recht wäre, um in die Kronkolonie einzudringen. Eine Krise, durch Gewalt ausgelöste Krise, würde denen genau zupaß kommen. Das ist das Drehbuch, das wir Webb geliefert haben, und es ist realistisch.«

»Es sei denn, Shengs Position wäre jetzt stark genug, die alte Garde zu unterdrücken. Wie Sie selbst sagten, Sheng Chou Yang hat für China eine Menge Geld gemacht, und wenn es je ein Volk gegeben hat, das von Grund auf kapitalistisch eingestellt ist, dann sind das die Chinesen. Sie haben mehr als nur gesunden Respekt für Geld. Für sie ist Geld geradezu eine fixe Idee.«

»Aber ebenso groß ist ihr Respekt für die alten Männer des Langen Marsches, und auch das ist eine fixe Idee. Ohne jene frühen Maoisten wären die meisten aus der neuen Führungsschicht Analphabeten, Bauern, die sich auf den Feldern zu Tode schuften. Sie verehren diese alten Soldaten. Sheng würde niemals eine Konfrontation riskieren.«

»Dann wäre noch eine Theorie denkbar, eine Kombination aus dem, was wir beide sagen. Wir haben Webb nicht gesagt, daß man von etlichen namhaften Leuten aus Pekings alter Garde seit Monaten nichts mehr gehört hat. Und wenn man etwas über sie erfuhr, dann, daß der oder jener eines natürlichen Todes gestorben ist, oder bei einem tragischen Unfall, und in einem Fall, daß man ihn in Ungnaden entfernt hat. Wenn nun unsere Annahme zutrifft, daß wenigstens einige dieser zum Schweigen gebrachten Männer Shengs bezahltem Killer zum Opfer gefallen sind ... «

»Dann hat er seine Position durch Beseitigung seiner Gegner gestärkt«, unterbrach ihn McAllister. »Peking wimmelt von Leuten aus dem Westen; die Hotels sind zum Bersten gefüllt. Wem fällt da einer mehr schon auf - noch dazu ein Meuchelmörder, der sich in jeder Maske zu Hause fühlt - ein Attache, ein Geschäftsmann ... ein Chamäleon.«

»Und wer verstünde sich besser als Sheng darauf, Geheimtreffen zwischen seinem Jason Borowski und ausgewählten Opfern zu arrangieren. Er könnte dafür alle möglichen Vorwände gebrauchen, aber in erster Linie militärische Spionage mit moderner Technik. Seine Opfer würden sich geradezu darum reißen.«

»Wenn davon auch nur ein Teil zutrifft, dann ist Sheng schon viel weiter, als wir gedacht hatten.«

»Nehmen Sie Ihre Papiere. Sie können von unseren Abwehrleuten und MI-6 anfordern, was Sie wollen. Studieren Sie alles, aber sehen Sie zu, daß Sie ein Schema finden, Edward. Wenn wir heute nacht einen Krongouverneur verlieren, dann könnte es sein, daß wir auf dem besten Wege sind, in ein paar Tagen ganz Hongkong zu verlieren. Und aus ganz falschen Gründen.«

»Man wird ihn schützen«, murmelte McAllister und ging mit besorgter Miene zur Tür.

»Darauf verlasse ich mich«, sagte der Botschafter, als der Staatssekretär das Zimmer verließ. Dann wandte er sich Catherine Staples zu. »Und Sie beginnen wirklich, mich zu verstehen?« fragte er.

»Das, was Sie sagen, und die Schlüsse, die Sie daraus ziehen, ja. Aber einige Einzelheiten sind mir noch völlig unklar«, erwiderte Catherine und sah mit einem eigenartigen Blick auf die Tür, die sich gerade geschlossen hatte. »Das ist ein seltsamer Mann, nicht wahr?«

»McAllister?«

»Ja.«

»Stört er Sie?«

»Im Gegenteil. Er verleiht allem, was man mir gesagt hat, eine gewisse Glaubwürdigkeit. Dem, was Sie gesagt haben, dieser Reilly - ich muß leider sagen, selbst Ihr Präsident.« Sie wandte sich wieder dem Botschafter zu. »Ich bin ganz ehrlich.«

»Das sollen Sie auch sein. Und ich begreife auch, auf welcher Wellenlänge Sie liegen. McAllister hat so ziemlich den besten analytischen Verstand im ganzen Außenministerium. Er ist ein brillanter Bürokrat, der es nie so weit bringen wird, wie er es verdient hätte.«

»Warum nicht?«

»Ich glaube, das wissen Sie, und wenn nicht, dann fühlen Sie es zumindest. Er ist ein durch und durch moralischer Mann, und diese Moral steht seinem Fortkommen im Wege. Wäre ich mit seinen moralischen Skrupeln geschlagen, dann wäre ich nicht der Mann geworden, der ich bin - und ich kann zu meiner Verteidigung nur hinzufügen, daß ich dann auch nie das geleistet hätte, was ich geleistet habe. Aber ich glaube, das wissen Sie auch. Das sagten Sie ja in etwa, als Sie hereinkamen.«

»Jetzt sind Sie ehrlich. Ich weiß das zu schätzen.«

»Das freut mich. Ich möchte, daß zwischen uns keine Unklarheiten bestehen bleiben, weil ich Ihre Hilfe brauche.«

»Marie?«

»Ja, und noch mehr«, sagte Havilland. »Was für Einzelheiten stören Sie? Was kann ich klären?«

»Diese Clearingstelle, diese Kommission aus Bankiers und Taipans, die Sheng zur Überwachung der Finanzpolitik der Kronkolonie vorschlagen will ...«

»Ich will es versuchen«, unterbrach der Diplomat. »Von außen betrachtet, werden sie nach Charakter und Position höchst unterschiedlich sein, aber in hohem Maße akzeptabel. Wie ich schon zu McAllister sagte, als wir uns das erstemal begegneten -wenn wir der Ansicht wären, daß dieser ganze verrückte Plan auch nur einen Hauch von Chance hätte, dann würden wir die Augen schließen und ihnen viel Erfolg wünschen. Aber er hat keine Chance. Alle mächtigen Männer haben Feinde; es wird hier in Hongkong und in Peking Skeptiker geben - neidische, süchtige Splittergruppen, die man ausgeschlossen hat -, und die werden tiefer bohren, als Sheng das erwartet. Ich nehme an, Sie wissen, was sie finden werden.«

»Daß alle Straßen, über und unter der Erde, nach Rom führen, wobei Rom in unserem Falle dieser Taipan ist, Shengs Vater, dessen Name in Ihren sorgfältig redigierten Dokumenten nie erwähnt wird. Er ist die Spinne, deren Netz zu jedem einzelnen Mitglied dieser Clearingstelle reicht. Er kontrolliert und lenkt sie alle. Sagen Sie mir, um Himmels willen, wer ist dieser Mann?«

»Wenn wir das nur wüßten«, sagte Havilland mit ausdrucksloser Stimme.

»Das wissen Sie wirklich nicht?« fragte Catherine Staples erstaunt.

»Wenn wir es wüßten, wäre das Leben viel einfacher, und ich hätte es Ihnen gesagt. Ich mache Ihnen hier nichts vor. Wir haben nie erfahren, wer er ist. Wie viele Taipans gibt es in Hongkong? Wie viele Eiferer, die sich im Sinne der Kuomintang an Peking rächen wollen? Ihrer Ansicht nach hat man ihnen China gestohlen. Ihr Mutterland, die Gräber ihrer Vorfahren, ihren Besitz - alles. Viele davon waren anständige Leute, Mrs. Staples, aber viele andere waren das nicht. Die politischen Führer, die Kriegsherren, die Großgrundbesitzer, die ungeheuer Reichen - sie waren eine privilegierte Schicht, die sich am Schweiß und an der Unterdrückung von Millionen bereichert hatte. Und wenn das wie kommunistische Propaganda klingt, so kann ich nur sagen, daß das der klassische Fall von Provokation war, der die Kommunisten überhaupt an die Macht gebracht hat. Wir haben es hier mit einer Handvoll besessener Verbannter zu tun, die das zurück haben wollen, was ihren Vorfahren einmal gehört hat. Die Korruption, die zu ihrem Sturz geführt hat, haben sie verdrängt.«

»Haben Sie einmal daran gedacht, sich persönlich mit Sheng zu treffen? Unter vier Augen?«

»Selbstverständlich, aber seine Reaktion ist leider vorhersehbar. Er würde sich empört geben und uns erklären, wenn wir uns solche schändlichen Hirngespinste ausdächten, um ihn damit in Mißkredit zu bringen, würde er die Chinaverträge zerreißen, uns der Doppelzüngigkeit bezichtigen und Hongkong sofort unter Pekings wirtschaftliches Protektorat stellen. Er würde behaupten, daß viele der alten Marxisten im Zentralkomitee einen solchen Schritt begrüßen würden, und damit hätte er sogar recht. Dann würde er uns ansehen und wahrscheinlich nur sagen: >Gentlemen, die Wahl liegt jetzt bei Ihnen. Guten Tag.<«

»Und wenn Sie die Verschwörung Shengs an die Öffentlichkeit bringen würden, würde dasselbe passieren, und er weiß, daß Sie das wissen«, sagte Catherine Staples und runzelte die Stirn. »Peking würde die Verträge für ungültig erklären und die Schuld dafür Taiwan und dem Westen geben - und Sie würden nicht einmal eine Wahl haben. Und daraus würde der wirtschaftliche Zusammenbruch folgen.«

»So sehen wir es auch«, pflichtete Havilland ihr bei.

»Und die Lösung?«

»Es gibt nur eine. Sheng.«

Catherine Staples nickte. »Harte Bandagen«, sagte sie.

»Der extremste Akt, wenn Sie das damit meinen.«

»Das meine ich allerdings«, sagte Catherine. »Und Maries Mann, dieser Webb, ist ein wesentlicher Teil dieser Lösung?«

»Jason Borowski ist ein wesentlicher Teil, ja.«

»Weil dieser Mann in seiner Maske, dieser Meuchelmörder, der sich Borowski nennt, von dem unglücklichen Mann, in dessen Maske er steckt, in die Falle gelockt werden kann, wie McAllister es formuliert hat, wenn auch in einem anderen Zusammenhang. Er nimmt seine Stelle ein, kommt an Sheng heran und greift zu harten Bandagen ... zum Teufel, er bringt ihn um.«

»Ja. Natürlich irgendwo in China.«

»In China ... natürlich?«

»Ja, damit das Ganze wie eine innere Angelegenheit aussieht, ein Brudermord, ohne Verbindung nach außen. Peking kann die Schuld niemand anderem geben, nur unbekannten Feinden Shengs in der eigenen Hierarchie. Aber wenn es an diesem Punkt geschieht, ist das wahrscheinlich ohnehin belanglos. Die Welt wird offiziell wochenlang nichts von Shengs Tod hören, und wenn dann eine Verlautbarung erfolgt, dann wird man sein >plötzliches Hinscheiden< ohne Zweifel einem Herzinfarkt oder einer Gehirnblutung zuschreiben. Von Mord wird ganz sicher keine Rede sein. Der Riese führt seine Verwirrung nicht vor, er verbirgt sie.«

»Und genau das ist es, was Sie wollen.«

»Natürlich. Die Welt dreht sich weiter, und die Taipans werden von ihrem Ursprung abgeschnitten. Shengs Clearingstelle bricht zusammen wie ein Kartenhaus, und vernünftige Männer fahren fort, zum Nutzen aller, die Verträge zu respektieren ... Aber davon sind wir noch weit entfernt, Mrs. Staples. Zunächst einmal wäre da heute, heute nacht. Kai-tak. Das könnte der Anfang vom Ende sein, da uns keine Gegenmaßnahmen zur Verfügung stehen. Wenn ich ruhig wirke, dann täuscht das, ich habe über viele Jahre hinweg gelernt, meine Anspannung zu verbergen. Es gibt im Augenblick nur zwei Dinge, die mich trösten, nämlich, daß die Sicherheitskräfte der Kronkolonie zu den besten der Welt zählen, und zweitens, daß Peking von der Situation informiert ist. Hongkong verbirgt nichts und will das auch gar nicht. Und so wird es in gewissem Sinne sowohl ein gemeinsames Risiko als auch ein gemeinsames Anliegen, den Krongouverneur zu schützen.«

»Und was hilft das, wenn das Schlimmste geschieht?«

»Es hilft zumindest im psychologischen Sinne. Es könnte den Anschein, wenn nicht gar die Tatsache der Instabilität abwenden, weil die Katastrophe schon von vorneherein als ein isolierter Gewaltakt abgestempelt ist, und nicht etwa ein Symptom ist für irgendwelche Unruhen in der Kronkolonie. Und was das Wichtigste ist, sie betrifft beide Teile. Beide Delegationen haben ihre Militäreskorten, und die wird man einsetzen.«

»Das heißt, man kann mit ausgefeilten Protokollformalitäten eine Krise unter Kontrolle halten?«

»Nach allem, was ich gehört habe, kann man Ihnen in bezug auf Krisen und wie man sie unter Kontrolle hält, nichts beibringen, auch nicht, wie man sie auslöst. Außerdem kann es immer zu Entwicklungen kommen, die solche Formalitäten auf den Müll kehren können. Und trotz allem, was ich gesagt habe, habe ich Todesangst. So viel kann schiefgehen, falsch eingeschätzt werden - und darin liegt die wahre Gefahr, Mrs. Staples. Wir können nichts anderes tun als warten, und Warten ist das Allerschwerste, es kostet die meiste Energie.«

»Ich habe noch Fragen«, sagte Catherine.

»Fragen Sie, soviel Sie wollen. Bringen Sie mich zum Nachdenken, zum Schwitzen, wenn Sie das können. Das hilft uns vielleicht beiden und lenkt uns vom Warten ab!«

»Sie sagten gerade etwas in bezug auf meine fragwürdige Fähigkeit im Eindämmen von Krisen; aber dann haben Sie noch hinzugefügt - ich glaube, eher vertraulich -, daß ich sie auch auslösen könnte.«

»Es tut mir leid, ich konnte einfach nicht widerstehen. Das ist eine schlimme Angewohnheit.«

»Ich nehme an, Sie haben damit den Attache gemeint, John Nelson.«

»Wen? ... O ja, den jungen Mann aus dem Konsulat. Was ihm an Urteilsvermögen fehlt, ersetzt er durch Courage.«

»Sie irren sich.«

»In bezug auf sein Urteilsvermögen?« fragte Havilland, und seine dichten Augenbrauen schoben sich in mildem Erstaunen zusammen. »Wirklich?«

»Ich will seine Schwächen nicht entschuldigen, aber er ist einer der besten Leute, die Sie haben. Sein Urteilsvermögen in beruflichen Dingen ist dem der meisten Ihrer erfahreneren Leute überlegen. Fragen Sie, wen Sie wollen, der mit ihm zu tun hatte. Außerdem ist er einer der wenigen, die verdammt gut Kantonesisch sprechen.«

»Und außerdem hat er eine Operation kompromittiert, von der er wußte, daß sie unter die höchste Geheimhaltungsstufe fiel«, sagte der Diplomat knapp.

»Wenn er das nicht getan hätte, hätten Sie mich nicht gefunden. Sie wären nicht auf Armeslänge an Marie St. Jacques herangekommen.«

»Armeslänge ...« Havilland beugte sich vor und seine Augen blickten zornig und zugleich fragend. »Sie werden sie doch auf keinen Fall weiterhin verstecken?«

»Wahrscheinlich nicht. Ich habe mich noch nicht entschieden.«

»Mein Gott, Frau, nach allem, was man Ihnen gesagt hat! Sie muß hierher kommen! Ohne sie haben wir verloren, haben wir alle verloren! Wenn Webb herausfinden würde, daß sie nicht bei uns ist, daß sie verschwunden ist, würde er den Verstand verlieren! Sie müssen sie ausliefern!«

»Das ist es ja, worauf ich hinausmöchte. Ich kann sie jederzeit ausliefern. Es braucht nicht dann zu sein, wenn Sie es sagen.«

»Nein!« donnerte der Botschafter. »Wenn und falls unser Jason Borowski seinen Auftrag erledigt hat, wird es zu einer Anzahl von Telefonaten kommen, in denen direkter Kontakt zwischen ihm und seiner Frau hergestellt wird!«

»Ich werde Ihnen keine Telefonnummer geben«, sagte Catherine ruhig. »Ebensogut könnte ich Ihnen gleich eine Adresse geben.«

»Sie wissen nicht, was Sie tun! Was muß ich denn noch sagen, um Sie zu überzeugen!«

»Ganz einfach. Erteilen Sie John Nelson einen mündlichen Verweis. Sorgen Sie dafür, daß nichts in die Akten kommt, und behalten Sie ihn hier in Hongkong, wo die Chance am größten ist, daß man seine Fähigkeiten anerkennt.«

»Herrgott!« explodierte Havilland. »Er ist drogensüchtig!«

»Das ist lächerlich, aber typisch für die primitive Reaktion eines amerikanischen Moralapostels, wenn man ihm nur die richtigen Stichwörter nennt.«

»Bitte, Mrs. Staples -«

»Man hat ihn unter Drogen gesetzt; er nimmt keine Drogen. Seine Grenze sind drei Wodka Martini, und er mag Mädchen. Ich weiß natürlich, daß einige Ihrer männlichen Attaches Knaben vorziehen und eine Grenze haben, die eher bei sechs Martinis liegt, aber wer zählt schon nach? Offen gestanden, mir ist es verdammt gleichgültig, was Erwachsene innerhalb der vier Wände eines Schlafzimmers tun - ich glaube einfach nicht, daß es Einfluß auf das hat, was sie außerhalb des Schlafzimmers tun -, aber Washington kann sich einfach nicht von der fixen Idee lösen, daß -«

»Also gut, Mrs. Staples! Nelson bekommt einen Verweis von mir -, der Generalkonsul wird nicht verständigt und nichts kommt in seine Akten. Sind Sie jetzt zufrieden?»

»Wir kommen einander näher. Rufen Sie ihn heute nachmittag an und sagen Sie ihm das. Und sagen Sie ihm auch, daß er Ordnung in seine Angelegenheiten bringen soll, wenn er weiß, was gut für ihn ist.«

»Es wird mir ein Vergnügen sein. Noch etwas?«

»Ja, und ich fürchte, ich weiß nicht, wie ich das formulieren muß, um Sie nicht zu beleidigen.«

»Bis jetzt haben Sie ja auch keine Hemmungen gehabt.«

»Jetzt habe ich aber Hemmungen, weil ich viel mehr weiß als vor drei Stunden.«

»Dann beleidigen Sie mich eben, Verehrteste.«

Catherine hielt inne, und als sie dann den Mund aufmachte, war ihre Stimme ein einziger Schrei, ein Flehen um Verständnis. Sie war hohl und füllte doch den ganzen Raum.

»Warum? Warum haben Sie das getan? Gab es denn gar keinen anderen Weg?«

»Ich nehme an, Sie meinen Mrs. Webb.«

»Natürlich meine ich Mrs. Webb, und genauso ihren Mann! Ich habe Sie das schon einmal gefragt: Haben Sie eigentlich eine Ahnung, was Sie denen angetan haben? Das ist barbarisch, und das meine ich im ganzen häßlichen Sinn des Wortes. Sie haben die beiden auf eine Art mittelalterliches Folterinstrument geschnallt und buchstäblich ihren Verstand und ihren Körper auseinandergezerrt und sie dazu gezwungen, mit dem Wissen zu leben, daß sie einander vielleicht nie wieder sehen werden. Jeder von beiden glaubt, daß eine einzige falsche Entscheidung, die er trifft, zum Tod des anderen führen wird. Ein amerikanischer Anwalt hat bei einer Senatsanhörung einmal eine Frage gestellt, und ich fürchte, ich muß diese Frage jetzt Ihnen stellen ... haben Sie kein Gefühl für Anstand, Herr Botschafter?«

Havilland sah Catherine Staples müde an. »Ich habe ein Gefühl für Pflicht«, sagte er, und seine Stimme klang müde und sein Gesicht wirkte dabei abgehärmt. »Ich mußte schnell eine Situation schaffen, die eine sofortige Reaktion auslösen würde, den Zwang, sofort zu handeln. Das Ganze beruhte auf einem Ereignis in Webbs Vergangenheit, etwas Schrecklichem, das einen zivilisierten jungen Gelehrten in einen hochkarätigen Guerilla< verwandelte, wie man es öfter ausgedrückt hat. Ich habe diesen Mann gebraucht, diesen Jäger, aus all den Gründen, die Sie gehört haben. Er ist hier und er hat die Jagd aufgenommen. Und ich nehme an, seine Frau ist unverletzt, und es liegt wohl auf der Hand, daß wir nie etwas anderes mit ihr vorhatten.«

»Dieses Ereignis in Webbs Vergangenheit. Das war seine erste Frau? In Kambodscha?«

»Das wissen Sie also?«

»Marie hat es mir gesagt. Seine Frau und seine beiden Kinder wurden von einem Tiefflieger getötet, der auf einen Fluß herunterstieß und das Wasser, in dem sie spielten, beschoß.«

»Und er wurde ein anderer Mensch«, sagte Havilland und nickte. »Sein Verstand setzte aus, und dieser Krieg wurde sein Krieg, obwohl Saigon ihn überhaupt nicht interessierte. Er ließ seiner Empörung auf die einzige Art, die er kannte, freien Lauf, kämpfte gegen einen Feind, der ihm sein Leben gestohlen hatte. Gewöhnlich übernahm er nur die kompliziertesten und gefährlichsten Aufträge, wo es um größere Ziele ging, Ziele, wie sie gewöhnlich nur auf höchster Ebene diskutiert wurden. Ein Arzt sagte einmal, Webb tötete in seinem verwirrten Geisteszustand die Killer, die andere geistesgestörte Killer ausschickten. Ich kann mir vorstellen, daß das einen Sinn ergibt.«

»Und indem Sie ihm seine zweite Frau in Maine wegnahmen, haben Sie seinen gespenstischen ersten Verlust wieder in ihm wachgerufen. Das Erlebnis, das aus ihm diesen hochkarätigen Guerilla< machte und später Jason Borowski, den Jäger von Carlos, dem Schakal.«

»Ja, Mrs. Staples, den Jäger«, warf der Diplomat leise ein. »Ich wollte diesen Jäger sofort hier haben. Ich konnte keine Zeit vergeuden - keine Minute -, und ich sah keine andere Möglichkeit.«

»Er ist ein Wissenschaftler, ein Orientalist!« schrie Catherine. »Er begreift die Dynamik Asiens wesentlich besser als irgend jemand von uns, die wir uns als Experten bezeichnen. Hätten Sie nicht an ihn appellieren können, an seinen Sinn für Geschichte appellieren und ihm die Konsequenzen dessen, was geschehen könnte, vor Augen halten?«

»Er mag Wissenschaftler sein, aber in erster Linie ist er ein Mann, der - mit gewissem Recht - glaubt, daß seine eigene Regierung ihn verraten hat. Er hat um Hilfe gebeten, und man hat ihm eine Falle gestellt, in der er sterben sollte. Das ist eine Barriere, die ich mit keinem Appell hätte überwinden können.«

»Aber Sie hätten es doch versuchen können!«

»Und eine Verzögerung riskieren, wo doch jede Stunde zählte? In gewisser Hinsicht tut es mir leid, daß Sie nie in meiner Lage waren. Dann würden Sie mich vielleicht wirklich verstehen.«

»Frage«, sagte Catherine und hob die Hand. »Was bringt Sie eigentlich auf den Gedanken, daß David Webb nach China gehen und dort Jagd auf Sheng machen wird, wenn er den Mann, der in seine Rolle geschlüpft ist, wirklich finden und erledigen sollte? So wie ich es verstehe, lautet die Abmachung doch, daß er den Mann ausliefern soll, der sich Jason Borowski nennt. Anschließend soll er Marie zurückbekommen.«

»An dem Punkt ist es, wenn es wirklich dazu kommt, nicht mehr wichtig. Dann sagen wir ihm, warum wir das alles getan haben. Dann werden wir an seine Erfahrung appellieren und die weltweiten Konsequenzen aufzeigen, die Shengs Machenschaften haben könnten. Wenn er dann aussteigt, haben wir ein paar erfahrene Agenten, die seine Stelle einnehmen können. Das sind nicht gerade Männer, die Sie Ihrer Mutter vorstellen würden, aber sie stehen zur Verfügung und können den Auftrag übernehmen.«

»Wie?«

»Codes, Mrs. Staples. Zu den Methoden des echten Jason Borowski gehörten immer Codes, die er mit seinen Klienten verabredete. Das ist ein Teil der Legende, die er bewußt aufgebaut hat, und der andere Jason Borowski hat jede

Einzelheit des Originals studiert. Sobald wir diesen neuen Borowski in der Hand haben, werden wir, so oder so, die Information aus ihm herausholen, die wir brauchen. Wir werden wissen, wie man an Sheng herankommt, und mehr brauchen wir nicht zu wissen. Ein einziges Zusammentreffen am Jadeturmberg. Ein Mann wird umgebracht, und die Welt dreht sich weiter. Eine andere Lösung fällt mir nicht ein. Hätten Sie eine?«

»Nein«, sagte Catherine leise und schüttelte langsam den Kopf. »Das ist ein Kampf mit harten Bandagen.«

»Geben Sie uns Mrs. Webb.«

»Ja, natürlich, aber nicht heute. Sie muß noch dort bleiben. Und Sie haben mit Kai-tak schon genug Sorgen. Ich habe sie in eine Wohnung in Tuen Mun in den New Territories gebracht. Sie gehört einem Freund von mir. Außerdem habe ich sie zu einem Arzt gebracht, der ihr die Füße verbunden hat - sie hat sie sich auf der Flucht vor Lin verletzt -, und der Arzt hat ihr ein Beruhigungsmittel gegeben. Mein Gott, die Frau ist ein Wrack; sie hat seit Tagen nicht mehr geschlafen, und auch die Tabletten haben ihr letzte Nacht nicht geholfen; sie war zu angespannt, hatte immer noch zuviel Angst. Ich bin bei ihr geblieben, und sie hat bis zum frühen Morgen geredet. Lassen Sie sie ausruhen. Ich hole sie morgen früh ab.«

»Wie werden Sie das anstellen? Was werden Sie sagen?«

»Das weiß ich noch nicht. Ich werde sie nachher anrufen und versuchen, sie zu beruhigen. Ich werde ihr sagen, daß ich Fortschritte mache - und zwar größere, als ich gedacht hatte. Ich will ihr nur Hoffnung einflößen, damit die Anspannung nachläßt. Ich werde ihr sagen, sie soll sich in der Nähe des Telefons aufhalten und sich so gut wie möglich ausruhen, und daß ich am Morgen zu ihr komme, wahrscheinlich mit guten Nachrichten.«

»Ich würde Ihnen gerne jemanden mitschicken«, sagte Havilland. »Ein paar Leute, darunter McAllister. Er kennt sie, und ich glaube ehrlich, seine moralische Überzeugungskraft müßte auf sie wirken. Das wäre eine Bestätigung Ihrer Geschichte.«

»Ja, das ist möglich«, nickte Catherine. »Wie Sie schon gesagt haben, McAllister hat auf mich auch so gewirkt. Also gut, aber Ihre Leute sollen sie in Ruhe lassen, bis ich mit ihr gesprochen habe, und das könnte ein paar Stunden dauern. Sie mißtraut Washington zutiefst, und es wird einige Mühe kosten, sie zu überzeugen. Es geht um ihren Mann, und sie liebt ihn sehr. Ich kann und werde ihr nicht sagen, daß ich angesichts der außergewöhnlichen Umstände - unter anderem auch des möglichen wirtschaftlichen Zusammenbruchs von Hongkong-die Gründe Ihres Handelns verstehe. Sie muß vor allem begreifen, daß sie ihrem Mann näher ist, wenn sie bei Ihnen ist, als wenn sie vor Ihnen davonläuft. Es könnte natürlich sein, daß sie versucht, Sie umzubringen. Aber das ist Ihr Problem. Sie ist eine sehr feminine, gut aussehende Frau, mehr als attraktiv, wirklich eine Schönheit. Aber Sie dürfen auch nicht vergessen, daß sie von einer Ranch in Calgary kommt. Ich würde Ihnen nicht raten, sich alleine in einem Zimmer mit ihr aufzuhalten. Ich bin sicher, daß sie Kälber zu Boden gerungen hat, die viel stärker sind als Sie.«

»Ich hole einen Trupp Ledernacken herein.«

»Ja nicht. Sie ist imstande, die Ledernacken auf Sie zu hetzen. Ich habe selten einen Menschen mit so viel Überzeugungskraft kennengelernt.«

»Das muß wohl stimmen«, erwiderte der Botschafter und lehnte sich in seinem Sessel zurück. »Sie hat einen Mann ohne Identität, einen Mann voll übermächtiger Schuldgefühle dazu gebracht, in sich hineinzuschauen und aus den Irrgängen seines verwirrten Bewußtseins herauszufinden. Keine leichte

Aufgabe... Erzählen Sie mir von ihr - nicht die trockenen Fakten in einer Akte, sondern etwas über die Person, den Menschen.«

Das tat Catherine, erzählte, was ihre Beobachtungen und ihr Instinkt ihr vermittelt hatten, und ein Aspekt führte zum nächsten, zu neuen Fragen. Die Zeit verstrich; und alle paar Minuten kamen wieder Telefonanrufe, die Havilland über das Geschehen auf dem Kai-tak-Flughafen informierten. Die Sonne versank hinter den Gartenmauern. Ein leichtes Abendessen wurde gereicht.

»Würden Sie Mr. McAllister fragen, ob er mit uns essen möchte?« sagte Havilland zu einem Steward.

»Ich habe Mr. McAllister gefragt, ob ich ihm etwas bringen dürfte, Sir, und er hat mich abgekanzelt. Er hat mir erklärt, ich solle ihn gefälligst in Ruhe lassen.«

»Schon gut, vielen Dank.«

Weitere Telefonanrufe kamen; jetzt war das Thema Marie St. Jacques erschöpft, und das Gespräch wandte sich ganz dem Geschehen in Kai-tak zu. Catherine Staples beobachtete den Diplomaten voll Verwunderung, denn je mehr sich die Krise zuspitzte, desto langsamer und beherrschter wurde seine Sprache.

»Erzählen Sie mir von sich, Mrs. Staples. Natürlich nur, was Sie wollen, und nur berufliche Dinge.«

Catherine musterte Raymond Havilland und begann dann ruhig: »Ich entstamme einem Maiskolben aus Ontario ...«

»Ja, natürlich«, sagte der Botschafter völlig ernsthaft und sah das Telefon an.

Jetzt begriff Catherine Staples. Dieser gefeierte Staatsmann führte ein belangloses Gespräch, während seine Gedanken bei einem völlig anderen Thema weilten. Kai-tak. Immer wieder schweiften seine Augen zum Telefon hinüber; alle paar Augenblicke drehte er das Handgelenk herum, um auf die Uhr sehen zu können, und doch entging ihm keine Lücke in ihrem Dialog, wenn eine Antwort von ihm erwartet wurde.

»Mein ehemaliger Mann verkauft Schuhe -«

Havillands Kopf ruckte von der Uhr hoch. Man hätte ihm ein verlegenes Lächeln nicht zugetraut, aber jetzt huschte eines um seine Lippen. »Sie haben mich erwischt«, sagte er.

»Schon vor langer Zeit«, sagte Catherine.

»Das hat einen Grund. Ich kenne Owen Staples recht gut.«

»Das kann ich mir denken. Ich kann mir vorstellen, daß Sie in denselben Kreisen verkehren.«

»Ich habe ihn letztes Jahr beim Queens-Rennen in Toronto gesehen. Ich glaube, eines seiner Pferde ist recht gut gelaufen. Er hat in seinem Cutaway großartig ausgesehen, aber schließlich war er auch einer der Begleiter der Königinmutter.«

»Als wir noch verheiratet waren, konnte er sich nicht einmal einen Anzug von der Stange leisten.«

»Wissen Sie«, sagte Havilland, »als ich über Sie nachlas und von Owen erfuhr, war ich einen Augenblick lang versucht, ihn anzurufen. Selbstverständlich nicht, um ihm irgend etwas zu sagen, aber um mich bei ihm nach Ihnen zu erkundigen. Und dann dachte ich, mein Gott, in diesem Zeitalter höflicher Umgangsformen zwischen Geschiedenen - am Ende reden die beiden noch miteinander. Dann hätte ich mir die Pfoten verbrannt.«

»Wir reden noch miteinander. Und Sie haben sich die Pfoten verbrannt, als Sie nach Hongkong kamen.«

»In Ihren Augen vielleicht. Aber erst nachdem Webbs Frau an Sie herangetreten war. Sagen Sie mir, was dachten Sie, als Sie hörten, daß ich hier sei?«

»Daß die Engländer Sie zu Konsultationen bezüglich der Verträge hergebeten hatten.«

»Sie schmeicheln mir -«

Das Telefon klingelte, und Havilland griff nach dem Hörer. Es war Lin, der über die Fortschritte in Kai-tak berichtete, oder genauer gesagt, wie sich gleich erwies, darüber, daß sie überhaupt keine Fortschritte machten.

»Warum blasen die nicht einfach die ganze verdammte Geschichte ab?« fragte der Botschafter zornig. »Die sollen sie in ihre Limousinen stopfen und verschwinden!« Die Antwort des Majors machte Havilland nur noch wütender. »Das ist doch lächerlich! Hier geht es nicht ums Gesicht, mir geht es um ein mögliches Attentat! Unter diesen Umständen gibt es keinen Platz für Imagepflege oder Ehre, und glauben Sie mir, die Welt hat Wichtigeres zu tun, als sich um diese verdammte Pressekonferenz zu kümmern. Der größte Teil schläft sogar, Herrgott noch mal!« Wieder hörte der Diplomat zu. Lins Bemerkungen verblüfften ihn nicht nur, sondern sie machten ihn wütend. »Der Chinese hat das gesagt? Das ist doch absurd! Peking hat kein Recht, solche Forderungen zu stellen! Das ist -« Havilland sah Catherine Staples an. »Das ist barbarisch! Jemand sollte denen sagen, daß es nicht darum geht, ihre asiatischen Gesichter zu retten, sondern das des englischen Krongouverneurs, und zwar wörtlich, weil es nicht nur um sein Gesicht geht, sondern um seinen Kopf!« Schweigen; die Augen des Botschafters blinzelten resigniert und zornig. »Ich weiß, ich weiß. Der rote Stern muß strahlen, und wenn die Nacht noch so zappenduster ist. Sie können nichts tun, also tun Sie Ihr Bestes, Major. Rufen Sie mich weiter an. Wie eines meiner Enkelkinder das formuliert, >ich glaub, mich streift ein Bus<, was auch immer das bedeuten mag.« Havilland legte auf und sah zu Catherine hinüber. »Anweisung aus Peking. Die Delegationen sollen angesichts westlicher Terrorakte nicht weglaufen. Sie sind zu schützen, aber die Schau muß weitergehen.«

»London würde da vermutlich auch zustimmen. >Die Schau muß weitergehen< klingt vertraut.«

»Anweisung aus Peking ...«, sagte der Diplomat leise, ohne auf Catherine zu hören. »Anweisung von Sheng!«

»Sind Sie ganz sicher?«

»Er gibt doch den Ton an. Mein Gott, er ist bereit!«

Die Spannung wuchs jede Viertelstunde, bis die Luft förmlich mit Elektrizität erfüllt war. Jetzt fing es zu regnen an, und dann ging ein Wolkenbruch nieder und prasselte gegen die Fensterscheiben. Ein Fernsehgerät wurde hereingerollt und eingeschaltet, und der Amerikaner und die Kanadierin blickten schweigend und voller Angst auf den Bildschirm. Der riesige Jet rollte im strömenden Regen auf den Landeplatz zu, wo die Reporter und die Kameraleute warteten. Zuerst kamen die englischen und die chinesischen Ehrengarden gleichzeitig aus der offenen Tür. Aber statt gemessenen Schritts die Treppe herunterzugehen, wie man das von solchen Militäreskorten erwartete, bezogen die Soldaten blitzschnell flankierende Positionen an der Metalltreppe. Die Ellbogen zum Himmel gerichtet, die Waffen fest in der Hand und schußbereit. Dann traten die Politiker selbst heraus, winkten den Zuschauern zu und kamen, ihren verlegen grinsenden Hofstaat im Schlepptau, die Treppe herunter. Die seltsame >Pressekonferenz< begann, und Staatssekretär Edward McAllister stürmte ins Zimmer und ließ die schwere Tür gegen die Wand krachen, so schwungvoll riß er sie auf.

»Ich hab's!« rief er mit einem Blatt Papier in der Hand. »Ich bin ganz sicher, daß ich's hab!«

»Beruhigen Sie sich, Edward! Reden Sie vernünftig.«

»Die chinesische Delegation!« schrie McAllister atemlos, rannte auf den Diplomaten zu und hielt ihm das Papier hin. »Sie wird von einem Mann namens Lao Sing angeführt! Als zweiter steht ein General namens Yunshen auf der Liste! Beides mächtige Leute, die sich jahrelang gegen Sheng Chou Yang gestellt haben und im Zentralkomitee ganz offen gegen seine

Politik opponiert haben! Daß sie in die Verhandlungskommission aufgenommen wurden, war ein symbolischer Akt Shengs, um das Gleichgewicht herzustellen -was ihn in den Augen der alten Garde natürlich aufgewertet hat.«

»Um Himmels willen, was wollen Sie damit sagen?« »Es geht nicht um den Krongouverneur! Nicht nur um ihn! Es geht um sie alle! Er wird mit einem Schlag seine zwei stärksten Widersacher in Peking los und macht sich selbst den Weg frei. Dann setzt er, wie Sie das formuliert haben, seine Clearingstelle ein - seine Taipans -, und zwar zu einem Zeitpunkt, wo beide Regierungen geschwächt sind!«

Havilland riß den Hörer vom Telefon. »Ich brauche Lin in Kai-tak«, befahl er der Vermittlung. »Schnell! ... Major Lin bitte. Sofort!... Was soll das heißen, er ist nicht da? Wo ist er? ... Wer ist das? ... Ja, ich weiß, wer Sie sind. Hören Sie mir zu, und zwar gut! Der Anschlag gilt nicht nur dem Krongouverneur. Es ist viel schlimmer. Zwei Angehörige der chinesischen Delegation gehören auch dazu. Trennen Sie alle Gruppen - das wissen Sie? ... Ein Mann vom Mossad? Was, zum Teufel ...? Eine solche Vereinbarung gibt es nicht, die kann es gar nicht geben! ... Ja, selbstverständlich, ich gehe aus der Leitung.« Mit bleichem Gesicht und heftig atmend sah der Diplomat die Wand an und sagte dann mit kaum hörbarer Stimme: »Die haben das herausgefunden, Gott weiß, wie, und haben sofort Gegenmaßnahmen eingeleitet ... wer? Um Gottes willen, wer war das?«

»Unser Jason Borowski«, sagte MC Allister leise. »Er ist dort.« Auf dem Bildschirm kam eine Limousine ruckartig zum Stillstand, während andere in die Dunkelheit davonschossen. Gestalten flohen voller Panik aus dem stehenden Wagen, und Sekunden später erfüllte eine blendende Explosion den Bildschirm.

»Er ist dort«, wiederholte McAllister im Flüsterton. »Er ist dort!«

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